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Wie du Kindern helfen kannst, emotional intelligent zu werden

Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: darüber, wie Kinder Emotionen lernen und wie man ihnen dabei helfen kann.

Letzte Woche habe ich meine Schwester, ihren Mann und meine Nichte besucht. Sie ist eineinhalb Jahre alt und saugt Wörter auf wie ein Schwamm. Wenn sie ein neues Wort gelernt hat, wiederholt sie dieses Wort. Immer und immer wieder. Keine Ahnung, wie oft meine Schwester ihr schon erzählt hat, dass Oma mit dem Zug kommt.

Ja, mit dem Zug.

Genau, mit dem ZUG.

Als wir im Wohnzimmer gespielt haben, ertönte plötzlich ein lautes Brummen aus der Nachbarwohnung. Nach ungefähr zwei Sekunden war mir klar: Der Nachbar bohrt mit einer Bohrmaschine in die Wand. Meiner Nichte aber war das nicht klar. Sie kannte das Geräusch nicht. Ihr Gesicht verzog sich sofort, sie suchte ihre Mama, warf sich in ihrem Arm und kuschelte sich ein.

„Hast du Angst?“, hat meine Schwester gefragt.

„Angst! Angst!“, hat meine Nichte geantwortet.

Hat meine Nichte da etwa mit unter zwei Jahren gelernt, was Angst bedeutet? Versteht sie, was wir Erwachsenen meinen, wenn wir sie fragen, ob sie Angst hat?

Die Antwort lautet: noch nicht ganz. Aber sie arbeitet sich vor, Schritt für Schritt. Und genau dieses Vorarbeiten ist aus meiner Sicht einer der interessantesten Aspekte, wenn es um Emotionen geht. Wie lernen Kinder, was Emotionen sind, wie sich verschiedene Emotionen anfühlen und wie sie damit umgehen können? Lange lautete die Antwort: Emotionen sind halt angeboren und universell, das müssen Kinder nicht groß lernen.

Aber die Hirnforschung der letzten Jahre deutet in eine andere Richtung. Es scheint so, dass Kinder Emotionen sehr wohl lernen können und müssen (!) – und dass wir Erwachsene sie dabei unterstützen können.

Wir sind alles kleine Statistiker

Um zu verstehen, wie Kinder Emotionen erlernen können, ist eine Erkenntnis wichtig: Wir Menschen sind praktisch von Geburt an kleine Statistiker. Wir beobachten die Welt, alles, was um uns herum geschieht. Und wir beginnen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen. Was ich damit meine, zeigt eine Studie (Opens in a new window), in der zehn Monate alten Säuglingen Objekte gezeigt wurden.

Die Objekte sahen ziemlich unterschiedlich aus, manche sahen aus wie ein Fisch, andere wie ein Hund, wieder andere wie ein Zylinder. Die Objekte machten unterschiedliche Geräusche: entweder sie klingelten oder sie rasselten. Und die Wissenschaftler:innen haben den Objekten unsinnige Namen wie „wug“ oder „dak“ gegeben. Hier kommt das Erstaunliche: Wenn Babys denselben Nonsens-Namen für mehrere Objekte hörten (z.B. „wug“), erwarteten sie, dass diese Objekte das gleiche Geräusch machen würden – und zwar unabhängig von ihrem Aussehen. Und wenn zwei Objekte unterschiedliche Namen hatten, erwarteten sie auch, dass sie unterschiedliche Geräusche machten.

In ihrem Buch How Emotions Are Made erklärt Lisa Feldman Barrett, warum das so erstaunlich ist:

„Jedes Tier kann eine Reihe von ähnlich aussehenden Objekten betrachten und sich ein Konzept von ihnen machen. Aber man kann menschlichen Säuglingen eine Reihe von Gegenständen zeigen, die anders aussehen, anders klingen und sich anders anfühlen, und einfach ein Wort hinzufügen – ein WORT – und diese kleinen Babys bilden ein Konzept, das die physischen Unterschiede überwindet.“

Laut Feldman Barrett ermöglichen gesprochene Worte Kindern, Konzepte zu verstehen, die nicht durch das bloße Beobachten der Umwelt verstanden werden können: mentale Konzepte. Sogar ein Stuhl ist so ein mentales Konzept. Das klingt vielleicht albern, aber frag dich mal selbst: Wo fängt ein Stuhl an und wo hört er auf? Ist ein Baumstamm im Wald schon ein Stuhl? Man kann schließlich darauf sitzen! Oder ein Sitzsack? Was wir Menschen als Stuhl bezeichnen und was nicht, hängt nicht von der Natur ab, die Natur setzt diese Grenze nicht. Wir erschaffen uns Konzepte, die wir wiederum mit Wörtern benennen. Und genauso, so Feldman Barrett, steht es um Emotionen.

Meine Nichte lernt jetzt Schritt für Schritt, was Angst bedeutet

Als meine Nichte die laute Bohrmaschine des Nachbarn gehört hat, war das für sie eine komplett neue Erfahrung. Woher soll so ein kleines Mädchen auch wissen, dass das Geräusch der Bohrmaschinen nicht gleich dafür sorgen wird, dass die Wohnung einstürzt?

Der Körper meiner Nichte wird entsprechend reagiert haben. Ihr Hörsinn wird geschärft gewesen sein (Was ist das für ein Geräusch?), ihre Muskeln werden angespannt gewesen sein (Muss ich hier gleich weg?). Sie hat in einer für sie unsicheren Situation die Sicherheit ihrer Mutter gesucht. Und diese hat ihr – ganz ähnlich wie die Wissenschaftler:innen in der Studie – mit einem Wort erklärt, was sie da spürt: „Hast du Angst?“ Nur, dass es sich nicht um ein Fantasie-Objekt, sondern um eine Emotion handelte (für meine Nichte ist das natürlich eine Fantasie-Emotion, sie kennt sie ja noch nicht).

Eine Sache muss klar sein: Noch wird meine Nichte kein ausgeprägtes Verständnis davon haben, was „Angst“ bedeutet und wie sich Angst anfühlt. Tests an Kindern deuten darauf hin, dass sie bis zum Alter von etwa drei Jahren keine erwachsenenähnlichen Emotionskonzepte wie „Wut“, „Traurigkeit“ und „Angst“ entwickeln. Jüngere Kinder in westlichen Kulturen verwenden Wörter wie „traurig“, „ängstlich“ und „wütend“ austauschbar, wenn sie „schlecht“ meinen.

Es könnte also genauso gut sein, dass meine Nichte das Wort „Angst“ zunächst mit dem Bedürfnis zu kuscheln verbindet. Statistisch gesehen sind diese beiden Dinge schließlich letzte Woche zusammen aufgetaucht. Aber: Vielleicht wird meine Schwester ihr beim Spazierengehen sagen, dass sie keine „Angst“ vor dem Hund haben muss. Und meine Nichte wird lernen, dass „Angst“ und Kuscheln wohl doch nicht so eng zusammenhängen. Das Wort hilft ihr, Gemeinsamkeiten mit all den anderen Fällen von „Angst“ herzustellen, die sich bereits in ihrem Gehirn befanden. Ihr Gehirn erfasst auch, was diesen Erfahrungen vorausging und folgte. All dies wird zu ihrem Konzept von „Angst“.

Feldman Barrett sagt, dass Emotionswörter der Schlüssel zum Verständnis sind, wie Kinder Emotionskonzepte lernen:

„Wo ist die statistische Regelmäßigkeit, die ein Konzept wie Glück oder Wut zusammenhält? In den Wörtern selbst. Die sichtbarste Gemeinsamkeit, die alle Instanzen von Wut haben, ist, dass sie alle Wut genannt werden.“

So könnt ihr Kindern dabei helfen, emotional intelligent zu werden

Wenn Kinder Emotionen lernen und Wörter dabei eine entscheidende Rolle spielen, bedeutet das, dass Eltern ihren Kindern dabei helfen können, „emotional intelligent“ zu werden. Das heißt: sowohl die eigenen Gefühle spüren und benennen zu können als auch die Gefühle anderer verstehen zu können. Studien (Opens in a new window) zeigen, dass emotional intelligente Kinder in der Schule erfolgreicher sind. Lisa Feldman Barrett hat – wie ich finde – ziemlich gute Tipps, wie Eltern das aktiv fördern können:

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