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Verlangen und Melancholie: Nosferatu

Robert Eggers Nosferatu (2024) steht am Ende einer langen Reihe (Opens in a new window) von Adaptionen und Remakes. Als Neuverfilmung von Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu (1922) ist es eine angepasste Darstellung von Bram Stokers Roman Dracula (1897).

In einer fiktiven deutschen Hansestadt verabschiedet sich Thomas von seiner Frau Ellen, die bei Freunden unterkommt, solange er nach Rumänien reist, um dort Graf Orlok ein Anwesen zu verkaufen. Während Thomas im Schloss des Grafen gefangen ist, wird Ellen von Alpträumen geplagt. Kein Arzt weiß Rat, bis der Okkultist Professor von Franz hinzugezogen wird. Er erkennt, dass Ellen von einer übernatürlichen Macht namens Nosferatu heimgesucht wird, die vom Grafen verkörpert wird, schließlich in die Stadt einfällt und sie verseucht. Thomas schafft es zurück, der Graf verlangt Ellen, Menschen sterben — und am Ende geht es doch nur um Scham und Sex.

“Ich bin Verlangen”

Graf Orlok sucht Ellen heim, lange bevor er Deutschland erreicht. Schon die allererste Szene spielt darauf an, als Ellen nachts durch den Garten streift und sich voller Ekstase im Mondschein räkelt. Jahre später steht er tatsächlich in ihrem Schlafzimmer und verlangt, dass sie Ja zu ihm sagt.

“Ich bin Verlangen”, sagt er und zeigt damit, dass es nicht um einen Untoten als Monster geht, sondern die Metapher. Sie soll sich ihm ergeben, mit Geist und Körper ihm erliegen. So suggeriert es auch das Filmposter, betitelt mit “Succumb to the Darkness”, unterliege der Dunkelheit.

Nun ist es kein Zufall, dass das englische Verb “to succumb” und die mythologische Figur des Sukkubus den gleichen lateinischen Wortstamm haben. Der Sukkubus ist ein weiblicher Dämon, der Sex mit schlafenden Männern hat. Das Gegenstück, der Inkubus, gilt als Vertreter des Teufels und Variation des Alptraums. Nosferatu ist genau das: Versuchung und Alptraum in einem. Mit dem Teufel im Bunde, der ihm ewiges Leben gab.

Nosferatu steht für unterdrückte weibliche Lust. Für die Scham, die damit verbunden ist, die auch Zuschauer:innen empfinden, wenn Orlok von Ellen Besitz ergreift und mit Thomas wütenden Sex hat, kurz nachdem sie ihrem Gemahl erklärt hat, wie ihr Vater sie einmal nackt fand und “Schande"!” ausrief.

Schon im Original war Dracula eine Metapher für Sex, Vampirismus eine für Syphilis. Die Befreiung von Frauen, die sich nach seinem Biss anzüglich verhielten, “animalisch” und “unkeusch”, galt es mit phallischen Pfählen zu vernichten. Freiheit und Unabhängigkeit, Überschreitungen der etablierten Geschlechterrollen waren ebenso unerwünscht wie der Graf aus dem fernen Land.

In Dracula verschafft sich die Protagonistin Mina durch das Schreiben eines Tagesbuchs Autonomie. In Nosferatu widersetzt sich Ellen gesellschaftlichen Zwängen und sucht kein Substitut. Sie gibt sich hin. Nosferatu bedeutet im weitesten Sinne also auch Masturbation.

Eine Hohepriesterin

Ellens Leiden wird lange missinterpretiert. Korsett und Äther dienen als Behandlung für ihre vermeintliche Hysterie — ein wiederkehrendes Motiv im 19. Jahrhundert. Sie wird nicht ernst genommen. Erst Professor von Franz hört ihr zu, versteht, dass sie tatsächlich in ihren Träumen ihren Körper verlässt und als Astralprojektion mit Nosferatu kommuniziert.

Er ist es auch, der ihr erklärt, dass sie in einer anderen Kultur als Hohepriesterin der Isis gepriesen worden wäre anstatt als verrücktes, närrisches Mädchen eingesperrt und betäubt zu werden. In der ägyptischen Mythologie ist Isis die Göttin der Geburt und Wiedergeburt und Herrin der Unterwelt.

Ihre Entsprechung in der griechischen Mythologie ist Persephone, die von Hades in die Unterwelt entführt wird — Ellens Schicksal nicht unähnlich. Persephones Mutter Demeter ist die Göttin der fruchtbaren Erde und gleichzeitig Namensgeberin des Schiffes, auf dem Dracula nach England reist.

Die Geschichte einer viertausend Jahre alten mesopotamischen Gottheit passt ebenfalls. Ištar wurde als Göttin der Liebe, des Kriegs und der Fruchtbarkeit verehrt. Als der Gärtner Shukaletuda sie schlafend unter einem Baum findet, missbraucht er sie. Daraufhin verfolgt sie ihn und richtet ihn schließlich hin.

Repräsentiert Ellen diese Göttinnen der Fruchtbarkeit und Geburt, ist Nosferatu das Gegenstück, ihr Widersacher: der Tod (Opens in a new window).

“Er ist meine Melancholie”

“Er ist meine Melancholie”, sagt Ellen und impliziert eine zweite Interpretation des Films. Nosferatu als Metapher für Depression, die ihr Glück verzerrt und verzehrt.

Ihre Angst vor Thomas Abreise lähmt sie und alles wird von dieser dunklen Macht überschattet. Als Schatten sehen wir Nosferatu, wie er Ellen greifen will und selbst nicht greifbar ist.

Das Ende des Films, ihre Selbstaufgabe zur Rettung der Stadt, kann auch als Suizid gelesen werden, den sie als letzten Ausweg sieht.

Verbinden wir beide Interpretationen, ist Ellens Ende die einzig mögliche Flucht aus dem unterdrückenden gesellschaftlichen System und einer Ehe, die, mag sie noch so glücklich scheinen, ein patriarchales Instrument war, das Frauen wie ihr Selbstverwirklichung versagte. Eine Flucht, für die sich viele weibliche Romanfiguren im 19. Jahrhundert entschließen.

Dass die Ehe kein gutes Ende nimmt, wird schon früh klar. Als Abschiedsgeschenk bringt Thomas seiner Frau einen Strauß Flieder. Die Blumen gelten als Symbol für Unschuld und junge Liebe (Opens in a new window). Sie bedauert seine Geste, dass er die Blumen gepflückt hat und sie nun vergehen werden wie ihre Ehe.

Graue Charaktere

Gesellschaftskritische Aspekte fanden sich schon in der literarischen Vorlage. In Dracula geht es nicht nur um übernatürliche, sondern auch ökonomische Macht. Gleichsam mag Thomas Aufbruch einem Gefühl der Minderwertigkeit geschuldet sein, immerhin ist sein Freund Friedrich ein wohlhabender Reeder.

Die Charaktere in Nosferatu sind so grau wie die auf -99 gedrehte Sättigung des Films sie erscheinen lässt. Sie sind weder schwarz noch weiß, sondern beides gleichzeitig. Sie entsprechen einem Klischee und widersprechen gleichzeitig einem anderen.

Friedrich Harding, Freund der Protagonisten und ihr Gastgeber, ist nicht nur ein erfolgreicher Geschäftsmann und fürsorglicher Patriarch. Wo aber in Dracula tapfere Männer die Ehre einer Frau verteidigen wollen, glänzt Friedrich durch Überheblichkeit. Er verliert seinen Kopf und versucht hysterisch das Leben, das er kennt, aufrechtzuhalten. Dabei ignoriert er die Bitten aller, als sie nicht mehr seiner Weltanschauung entsprechen. Ein Barbie-esker Monolog von Ellen verschafft Zuschauenden einen kurzen kathartischen Moment, kommt für Friedrich aber zu spät.

Seine Frau Anna ist Hausfrau, Mutter und hat in ihrem Haus wenig zu sagen. Sie scheint das Idealbild einer Frau des 19. Jahrhunderts zu sein. Gleichzeitig beweist sie große Willensstärke und ist der Fels in der Brandung, die Vernunft für ihre zunehmend verzweifelten Mitmenschen.

Fin de Siècle

In Dracula ging es schon immer um Sex. Zum einen nutzt Horror gerne sexuelle Elemente, weil Scham ein starkes Gefühl ist und Horror Verborgenes offen legt, was wir lieber versteckt wüssten. Zum anderen liegt der Grund im historischen Kontext des Romans.

Mit dem Ende des Jahrhunderts wuchs auch die Angst vor dem, was das neue Jahrhundert bringen würde. “Fin de siècle” (franz. für Ende des Jahrhunderts) beschreibt diese Angst vor der Degeneration einer Gesellschaft, die Dracula verkörpert. Er ist ein Symbol für Konsequenzen und Veränderung und gleichzeitig ihr Katalysator. Vampirismus steht für sexuell übertragbare Krankheiten, der Graf für alles unchristliche, unwissenschaftliche, unmoderne aus fernen Ländern. Deshalb stirbt er, stirbt die von ihm gebissene und freiheitsliebende Lucy, stirbt der Amerikaner.

Zur Jahrhundertwende war das viktorianische England, in dem Dracula spielt und wo es veröffentlicht wurde, noch kein vereinigtes Königreich, die Industrialisierung hatte die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen gerade grundlegend verändert, die überall auf dem Kontinent verstreuten Kolonien verlangten ihre Unabhängigkeit, ebenso wie Frauen.

Es gab nur wenig respektable Möglichkeiten im Leben einer Frau: Hausfrau und Mutter, vielleicht Lehrerin und Kindermädchen, Dienstmädchen oder Farmerin, Krankenschwester oder Nonne. Verdientes Geld verwaltete ein Ehemann oder Vater.

Ein Spaziergang ohne Mann wurde zum revolutionären Akt, was auch Ellen erfahren muss, als Friedrich ihr verbietet allein nach Hause zu gehen. Weibliche Lust war weniger ein Tabuthema als überhaupt nicht vorstellbar. Der britische Arzt William Acton war sich sicher: Die Mehrheit der Frauen bewege sexuelle Gefühle jeglicher Art überhaupt nicht. Was Männer gewohnheitsmäßig täten, würden Frauen nur ausnahmsweise tun — zum Glück für die Gesellschaft, wie er 1875 schrieb. Gegenteiliges Verhalten wurde mit einer Diagnose gestraft: Hysterie.

Für manche Frauen blieb nur die Prostitution. Kriminalisierung und Diskriminierung folgten. Denn während diese Dienstleistung für die daran beteiligten Männer, ob verheiratet oder nicht, geduldet wurde, führten spätestens die Contagious Disease Acts 1864-1886 zu drastischen Konsequenzen für Frauen. Polizisten durften Frauen, die sie der Prostitution bezichtigten, verhaften, ihre Körper untersuchen und sie in Anstalten einweisen.

Feministische Schriftstellerinnen und Frauenrechtsaktivistinnen wie Sarah Grand und Josephine Butler plädierten gegen die erniedrigenden Maßnahmen. Grand trennte sich 1890 von ihrem Mann und schrieb in ihrem Roman The Heavenly Twins (1893): “Withholding education from women was the original sin of man.”

“Muss ich jetzt Feminist:in sein, um Horrorfilme gucken zu dürfen?”

Nein, aber besser wär’s.

Nosferatu kann ein Kommentar über Scham, Sexualität, Gesellschaften und Depressionen sein. Es kann auch ein Kommentar über Abhängigkeit sein — ohne Blut, seine Erde und die Nacht kann selbst Nosferatu nicht bestehen. Auch die okkulten Symbole und Figuren sind einen genauen Blick wert. Dies hier ist die Interpretation, die der literarischen Vorlage am nächsten kommt. Eine von vielen. Aber man kann Filme natürlich auch konsumieren ohne sich dabei etwas zu denken.

Meme der Woche

https://www.youtube.com/watch?v=Jr58Uf1srfo&ab_channel=BrendanDonnelly (Opens in a new window)

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Christina

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