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Das Wichtigste: Das ist nicht normal

Diesmal geht es im Newsletter zentral um ein Thema: Eine der wichtigsten Fähigkeiten unserer Zeit ist, sich bei undemokratischen Vorgängen oder bei gezielten politischen Provokationen oder anderen Grenzüberschreitungen vor Augen zu führen: Das ist nicht normal.

Diejenigen, deren politisches Werkzeug die Eskalation von Debatten ist, versuchen stets aufs Neue, zu verschieben, was als „normal“ gewertet werden kann. Und dieser Eindruck einer angeblich anderen, neuen Normalität wird graduell dadurch hergestellt, dass man Grenzüberschreitungen macht – und je öfter dieselbe oder ähnliche Grenzüberschreitungen passieren, desto mehr fühlt sich das für einige wie „Normalität“ an. Zum Beispiel, wenn Herbert Kickl, FPÖ-Chef (und mittlerweile voraussichtlich nächster Bundeskanzler Österreichs), dem rechtsextremistischen Kanal AUF1 ein Interview (Opens in a new window) gibt (und dann noch eins (Opens in a new window), und noch eins (Opens in a new window)). Eine Grenzüberschreitung war in Deutschland nun auch, dass CDU-Chef Friedrich Merz in Kauf nahm, dass sein Migrations-Antrag durch die Stimmen der AfD die Mehrheit erhielt – also hier die Brandmauer fiel (Opens in a new window). Nun gingen in Deutschland rund eine halbe Million Menschen demonstrieren, eine beeindruckende Zahl.

Die große Herausforderung ist, sich als Gesellschaft wiederholt in Erinnerung zu rufen, was nicht Normalität ist oder nicht werden sollte. Denn die Gefahr besteht, dass beim zweiten, dritten, vierten Mal die Kritik und der zivile Widerspruch leiser werden – weil es sich nicht mehr so unvorstellbar anfühlt, weil Zermürbungstaktiken fruchten. Aber gerade weil der Versuch, Grenzen zu verschieben, in vielen Ländern beharrlich passiert, stellt sich die Frage, wie sehr es in diesen Ländern auch eine beharrliche öffentliche Debatte gibt, die diese Versuche als solche benennt und sagt: Das ist nicht normal.

Das beharrliche Hinweisen auf Grenzverschiebungen wird teils schlecht geredet und die Beharrlichkeit als etwas Negatives umgedeutet. Das offensichtlichste Beispiel ist die klassische rechtspopulistische und rechtsextreme Reaktion auf unvorteilhafte, kritische Medienberichte. Sie suggerieren: Diese Medien, die kritisch berichten und somit ihre Arbeit tun, wären die eigentlichen Übeltäter, sie hätten es quasi auf die Partei abgesehen. Dieser rhetorische Trick funktioniert auch deshalb so gut, weil diese Parteien ja wiederholt versuchen, zu verschieben, was als Normalität gesehen werden könnte: Und wenn dann auf weitere Provokation weitere kritische Berichterstattung folgt, können diese Parteien suggerieren: Schaut, jetzt hat sich Medium XYZ oder Journalist:in XYZ schon wieder auf uns eingeschossen.

Ein anderes Beispiel: Bei Medien oder Medienleuten, die besonders kritisch z.B. über Elon Musk berichten, kommt manchmal in Online-Postings der Vorwurf, sie seien „besessen“ von diesem Mann. Aber ist das wirklich so? Meines Erachtens gibt es seichte Promi-Texte über Elon Musk, die wenig Aussagekraft haben. Und ich hege auch den Verdacht, dass Elon Musk manche Kontroversen sehr gezielt und gekonnt anzettelt. Das größere Problem ist aber, Musk hat ja tatsächlich viel Macht, er besitzt eine wichtige Digital-Plattform, er soll für Donald Trump den US-Staat kleinstutzen.

Hier findet beim Vorwurf der Besessenheit eine Verwechslung von Ursache und Wirkung statt: Wenn zum Beispiel Elon Musk eine Einheit leitet, die sich Zugang zu den Daten des US-Finanzministeriums verschafft, und dort laut Recherchen (von Wired (Opens in a new window)) junge Männer ohne oder nur mit wenig Erfahrung in der Verwaltung plötzlich den Ton angeben, dann ist das berichtenswert (Opens in a new window). Die Gefahr ist, dass beim Versuch der Verschiebung der Normalität auch ein kommunikatives Gaslighting passiert – also, dass jene, die diese Grenzverschiebungen ansprechen, gescholten werden.

Noch zugespitzter hat es der US-Satiriker und Moderator Stephen Colbert neulich formuliert (Opens in a new window). Er spricht in seiner Sendung darüber, dass er eigentlich genug hat vom „Hass und den Lügen“, die Trump verbreite, aber man müsse aufmerksam bleiben: „Wenn auch nur, um nicht zu vergessen, dass nichts davon normal ist. Denn seine MAGA-Schergen und die rückgratlosen Apologet:innen wollen euch einreden, dass das alles völlig normal sei – und dass ihr verrückt seid.“ Aber dem ist nicht so, meint Colbert: Was passiert, sei eben nicht normal. Zur Einordnung: Hier hat die New York Times aufgelistet (Opens in a new window), wo sich Donald Trump bereits über Gesetze hinwegsetzt.

Im ersten Moment mag es nach einem simplen Ratschlag klingen, sich selbst daran zu erinnern, was nicht normal ist. Aber simpel ist das in meinen Augen keineswegs: Weil sich Menschen an Eskalationen gewöhnen, weil Grenzüberschreitungen beim zweiten oder dritten Mal zu etwas Erwartbarem werden können oder man vergisst, dass da mal eine Grenze war. Und die Norm-Verschiebung gelingt dann, wenn nicht mehr (oder zu wenig) an Normen erinnert wird. Deshalb: Es ist wichtig und es ist bereits eine Leistung, wenn sich viele von uns daran erinnern, was nicht Normalität ist – oder auch nicht Normalität sein sollte.

» Zum Schluss noch eine – ganz andere – Lese-Empfehlung:

Warum nutzen gerade Rechte so gerne KI-Bilder? Bild- und Medienwissenschaftler Roland Meyer schreibt: „Diese Liebe der globalen Rechten zu generativer KI ist weder Zufall noch das Produkt von Sparzwängen – sie ist vielmehr Ausdruck einer ideologischen und ästhetischen Affinität. KI-Bildgenerierung ist nämlich keineswegs ein politisch neutrales Werkzeug, sondern drängt sich für den Entwurf rechter Weltbilder geradezu auf: Zumindest in ihrer derzeitigen kommerziell verfügbaren Form ist sie strukturell nostalgisch, bedient eine populistische Ästhetik und basiert auf Stereotypisierung und Klischeebildung.“ Seinen Text über KI als Nostalgiemaschinen und Klischeeverstärker gibt es hier (Opens in a new window).

Bis in 2 Wochen, danke fürs Lesen des Newsletters!

Schönen Gruß

Ingrid Brodnig

Bild-Credit: Das Bild in der Web-Version wurde von DALL:E erstellt

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