Lieber Sven,
am Wochenende kam ich an einem Stand der SPD vorbei. Man kann nicht eine einzelne Abgeordnete für die SPD in Haftung nehmen. Es ist, als säße man in einem Café in Kapstadt und jemand am Nachbartisch sagt: German? Shame on you. Und trotzdem hielt ich an und sagte, dass sich die SPD im gegenwärtigen Zustand unwählbar gemacht hat für jene, die sich der Verantwortung zu stellen versuchen, die mit dem Dasein im Deutschland des Jahres 2021 einher geht. Womöglich auch nicht der beste Einstieg in ein Gespräch.
Wir leben in der besten aller Welten – gerade in diesen Tagen ist das immer wieder zu hören von denen, die das Werte- und Wirtschaftsmodell der vergangenen Jahrzehnte verteidigen wollen. Etwa von Kurzstreckenfriedrich Merz, der mit dem Privatjet und der Überzeugung, die soziale Marktwirtschaft brauche keine Renovierung, allenfalls einen neuen Anstrich, weil der alte etwas matt geworden ist.
Auf den ersten Blick hat Merz ja recht. Die Menschheit ist auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung angekommen. Zwischen den Jahren 0 und 1900 unserer Zeitrechnung ist die durchschnittliche Lebenserwartung nur von 24 auf 31 gestiegen. Der wesentliche Faktor dafür war die hohe Kindersterblichkeit. In den folgenden 120 Jahren bis heute hat sie sich mehr als verdoppelt – auf 73 Jahre.
Diesen beispiellosen Entwicklungssprung haben wir allerdings teuer erkauft. Die Zahlen, die die Zerstörung unserer Ökosysteme dokumentieren, sind nichts anderes als der Kontoauszug, auf dem wir ablesen können, wie nah wir auf dem Weg zur Sonne schon gekommen sind, bevor die Flügel schmelzen. Als Industrienation können wir stolz sein auf das, was wir geschafft haben. Das lässt sich aber nicht nur am Bruttoinlandsprodukt ablesen – wir spüren es auch, wenn morgens um 6 die Hitze im Schlafzimmer steht, als hätte man vor dem zu Bett Gehen vergessen, im Wohnzimmer das Lagerfeuer zu löschen.
Über die Verantwortung, die mit diesem Einsehen einher geht, wollte ich mit der SPD-Kandidatin sprechen, die sich fürs Berliner Abgeordnetenhaus bewirbt, und die Unterhaltung, die darauf folgte, werde ich lange nicht vergessen. Sie war wie die Diagnose beim Arzt, der dir sagt: Ja, ich weiß, Sie haben Ihre Ernährung umgestellt und das Rauchen aufgegeben – es tut mir leid, es ist trotzdem ernst.
Sage ich zu ihr: Wie kann es sein, dass die SPD so tut, als wollten die Grünen die kleinen Leute schröpfen? Sie wissen doch, dass das nicht stimmt.
Sagt sie: Erst in der vergangenen Woche hat sich mein Bruder bei mir bedankt, dass wir Leute wie ihn gegen Pläne verteidigen, das Benzin zu verteuern. Er ist aufs Auto angewiesen.
Sage ich: Aber es gibt doch Konzepte, die gerade Ihren Bruder vor zu hohen Belastungen schützen werden.
Sagt sie: Die Medien sagen doch auch, dass die Grünen das Benzin verteuern wollen.
Sage ich: Aber das bedeutet doch nicht, dass ihnen die sozialen Folgen gleichgültig wären. Die Konzepte für eine gerechte Lastenverteilung, bei denen gerade die mehr zahlen müssen, die sich einen höheren CO₂-Ausstoß leisten können, schlagen Experten seit Jahren vor. Sie werden nur konsequent ignoriert. Haben Sie die nicht gelesen?
Sagt sie: Ich hatte in der vergangenen Woche 14-Stunden-Arbeitstage und war beim Impfen.
Als wäre der Klimagipfel von Paris fünf Tage her und nicht fünf Jahre.
Über die Konzepte hinter einem höheren CO₂-Preis zerbrechen sich Expertinnen seit Jahren den Kopf, gerade jene, denen Gerechtigkeit auf dem Weg in die Zukunft das drängendste Motiv ist. Dafür, wie die Einnahmen zurückverteilt werden können, kursieren mehrere Ideen. Auf den Kern gebracht wird das Geld entweder direkt ausbezahlt, in den Ausbau von öffentlichem Nahverkehr und Radwegen investiert oder für eine umfassende Steuerreform genutzt. Hinter solchen Konzepten stehen Frauen wie Brigitte Knopf, (Opens in a new window) Generalsekretärin des „Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change“ und seit September 2020 stellvertretende Vorsitzende des von der Bundesregierung neu berufenen Expertenrats für Klimafragen. Knopf ist eine promovierte Physikerin und pragmatische Denkerin, die mit Sozialismusfantasien so viel zu tun hat wie ich mit Rhythmischer Sportgymnastik. Wir sprechen hier nicht über einen Gesellschaftsumsturz, sondern über eine notwendige Reparatur an einer Marktwirtschaft, die es sonst nicht mehr durch den Zukunfts-TÜV schafft. Von einer ökologischen Steuerreform würden gerade die Geringverdiener profitieren. (Opens in a new window) Doch das Gespräch am SPD-Stand hat mir gezeigt: Für eine solche Reparatur haben wir noch nicht mal das richtige Werkzeug bereitliegen.
Gleichzeitig gelingt es der CDU, sich als die Partei zu inszenieren, die die Bedürfnisse der Menschen mit geringem Einkommen im Blick hat, während Ökonomen zum Ergebnis kommen, dass das genaue Gegenteil richtig ist, (Opens in a new window) und die Autoindustrie, zu deren Verteidigung die Grünen zur Autohasser-Partei diffamiert werden, erklärt einfach selbst, dass sie ab 2026 keine neuen Autos mit Verbrennungsmotoren mehr verkaufen will. (Opens in a new window)
Die politische Realität entkoppelt sich von der Wirklichkeit. Achwas, höre ich Dich fragen, es ist Wahlkampf – überrascht dich das? Ich will zurückfragen: Wenn nicht einmal die größte Krise in der Geschichte der Menschheit die üblichen Rituale zu durchbrechen vermag, welchen tieferen Sinn hat das dann alles – das Nachdenken über Gerechtigkeit und die Zukunft, unsere Briefe, das Reden über Wirtschaftswachstum und Konsum? Was ist unser Fluchtpunkt?
Du hast in Deinem letzten Brief geschrieben:
„Damit wir ein ähnliches Gefühl wie bei Corona für den Klimawandel erzeugen können, bräuchten wir schon eine Klimakatastrophe vor unserer Haustür. Überschwemmungen, Erdbeben, Plagen. Solange das aber nicht passiert, werden zu wenige die Dringlichkeit von Veränderungen für sich annehmen wollen und stattdessen im Vordergrund ihr eigenes Leben und die zurückgewonnene Freiheit betrachten.“
Vor einigen Tagen ist das Buch „Überhitzt – Die Folgen des Klimawandels für unsere Gesundheit“ (Opens in a new window) erschienen, geschrieben von einer ehemaligen GEO-Redakteurin und einer international führenden Umweltmedizinerin. Es genügt eine halbe Stunde Lektüre, um zu erkennen: Eine Katastrophe ist nicht, was die Natur uns vorgibt. Kein Erdbeben und keine Plage. Eine Katastrophe ist, was wir darin sehen.
Der Hitzesommer 2003 zum Beispiel, in dessen Verlauf in Frankreich Hunderte Verstorbene in Kühllagern von Lebensmittelgroßmärkten und in Kühllastern gelagert werden mussten, ist inzwischen hinreichend analysiert: Er war die tödlichste Naturkatastrophe der vergangenen hundert Jahre. Drei Jahre später erlebte Deutschland ein Sommermärchen – die Ärztinnen und Ärzte der Berliner Charité haben diese Wochen als Alptraum in Erinnerung, weil auf unerklärliche Weise Menschen starben. Als Grund stellte sich später heraus: die Hitze. Und heute bittet die Caritas Berlinerinnen und Berliner darum, Wasserflaschen einzustecken, um sie bei Bedarf Obdachlosen zu geben, die der Hitze ausgeliefert sind. (Opens in a new window) Wegen anhaltender Trockenheit hat das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg Grillen in allen Grünanlagen untersagt und die Trinkwasser-Speicherseen um Berlin sind mangels Niederschlag seit drei Jahren nicht mehr komplett gefüllt. Erlösung ist nicht in Sicht. Amerikanische Forscher haben in der Fachzeitschrift „Geophysical Research Letters“ jetzt erklärt: Die Erde speichert beispiellos mehr Wärme (Opens in a new window) als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit: Zwischen 2005 und 2019 hat sich das Energieungleichgewicht der Erde fast verdoppelt.
Wenn ich das Heute vergleiche mit den Prognosen, die zu lesen waren als ich 18 Jahre alt war und Du vier, komme ich zum Ergebnis: Wir sind in der schlimmsten aller Welten angekommen. Es vergeht mittlerweile kaum ein Tag, an dem ich mich nicht gegen eine Bestürzung wehren muss, die wie eine schwere Wolke mein Denken verhüllt und mich weinen lässt, und ich bin damit nicht allein. In „Überhitzt“ kommt ein pensionierter Förster aus dem Harz zu Wort. Nach vier Jahren Trockenheit knicken dort die Fichten um wie morsche Knochen, wenn der Wind zu heftig bläst. „Das hat eine Wucht, so was habe ich mein ganzes Berufsleben nicht erlebt“, sagt er. Mitunter verliert er deshalb beim Spazierengehen die Orientierung, weil da, wo früher Bäume standen, plötzlich alles kahl ist. „Manchmal denke ich: Das ist nicht mehr mein Wald.“
Auf welche Katastrophen wollen wir also noch warten, Sven? Wenn die eingetroffen sein werden, die nicht nur einen Förster im Harz erschüttern, wird es zu spät sein. Wir leben bereits in einer, doch viel zu viele Menschen schotten nach wie vor ihre Sinne davor ab (was ich nachvollziehen kann) und halten jenen Hysterie vor, die sich ihr aussetzen und nicht mehr wissen, wohin mit ihrer Verzweiflung (das weniger). Und doch müssen wir uns selbst davor bewahren, uns in Gesprächen mit ihnen immer dadurch ins moralische Recht zu setzen, dass wir auf die Alternativlosigkeit hinweisen, die uns die ökologische Krise aufzwingt. So kann kein gelingendes Gespräch entstehen. Es ist, als hätten wir in einem Tennismatch einen Aufschlag auf Lager, den der Gegner grundsätzlich nicht erreichen kann. Nach einer halben Stunde würde er frustriert vom Platz marschieren und auch ihn könnte ich verstehen.
Wir müssen zuhören und Räume schaffen, in denen wir uns über unseren Schmerz und die unterschiedlichen Vorstellungen von Freiheit und Verantwortung austauschen können, auf dass wir uns gemeinsam darauf einigen, dass niemandem daran gelegen ist, diese Welt zu zerstören. Aber wo finden wir dafür den Sinn, wo Halt und Zuversicht? Vielleicht ebenfalls im Harz.
Ein mir teurer Freund hat mir am Wochenende einen Brief geschickt. Er verwahrt sich darin gegen die Hexenjagd gegen Carolin Emcke nach ihrer Rede beim Parteitag der Grünen, unter anderem angefacht von einem Text, den auch ich zustimmend geteilt habe, und schreibt:
„Ich finde, uns und unserem Planeten wäre viel mehr geholfen, über die Möglichkeiten des Wandels nachzudenken, als uns so intensiv mit unseren Defiziten zu beschäftigen. Die Aussage, dass wir als bessere Gemeinschaft mit gesteigertem Verständnis füreinander zu einer besseren Welt gelangen, ist sowohl hypothetisch als auch fiktional. Denn nichts darin hat Aussagekraft für das etwaige Gelingen. Alles beeinflusst alles. Aber dennoch gibt es Allgemeingültiges. Nämlich gemeinschaftlich vereinbarte Normen. Wie sieht das Richtige denn möglicherweise aus? Wenn du eine Vorstellung vom Falschen hast, dann solltest du doch in der Lage sein, dessen Gegenteil zu beschreiben. Tu es.“
Ich weiß, dass er recht hat, allein schon deshalb, weil ich selbst merke, dass ich mich meinem Schmerz nur zu stellen imstande bin, indem ich mich mit Menschen umgebe, die von einer anderen Welt nicht nur reden, sondern daran arbeiten, unsere Normen so weiterzuentwickeln, dass sie einen anderen Anspruch an Gerechtigkeit erfüllen, als ihn Kurzstreckenfriedrich im Sinn hat. Jeden Tag und gegen alle Widerstände.
Deshalb beende ich meinen letzten Brief vor der Sommerpause mit einem Zitat jenes Försters, der seinen Wald verliert. Dessen Sterben will er sich nicht ergeben. Mit seinem Wanderklub (Opens in a new window) hat er deshalb auf einer Fläche mit klimatisch bedingtem Baumausfall allein im vergangenen Jahr 3000 Setzlinge von Bergahornen, Roteichen, Sträuchern und Wildobstbäumen gepflanzt. So wird ein Mischwald heranwachsen, der den Folgen der Erderwärmung besser standhalten kann – vorausgesetzt, der Regen kommt zurück.
„Mir kann nicht mehr viel passieren. Aber ich habe zwei Töchter und die werden es vermutlich schwerer haben. Ich habe ja auch mal gezweifelt, ob der Mensch den Klimawandel antreibt. Aber die Geschwindigkeit hat mich überzeugt. Meine Hoffnung ist: Wenn ich in fünfzig Jahren als Engelchen über den Harz fliege, ist der wieder grün.“
Bei diesem Flug, Sven, werde ich dabei sein. Ich möchte neben ihm durch die Luft segeln, im Wissen, dass die Verzweiflung zu Beginn der zwanziger Jahre auch viel Gutes hervorgebracht hat. Roteichen und Bergahorne zum Beispiel.
Dein Kai
https://www.youtube.com/watch?v=5tcKf4Kh9oE (Opens in a new window)(Moby: Why does my heart feel so bad? Reprise Version)