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Lieber Kai,

Auf dem Weg zu meinem derzeitigen Arbeitsplatz muss ich U-Bahn fahren. Nicht nur einmal, nein nein. Mein Arbeitsplatz in Moabit erreiche ich meist nur durch die Kombination von drei verschiedenen drei U-Bahnlinien: Der U3, der U2 und der U9. Gerade die U9 ist für mich bisher eher ein Geheimnis geblieben. Die Verbindung zwischen Steglitz und Wedding ist für mich eine U-Bahnlinie, die komplett an meiner sonstigen Lebenswirklichkeit vorbei geht. Als Kreuzberger sind mein U-Bahnleben die U1, die U3, die U6 und, ganz besonders früher, die U7, die längste U-Bahnstrecke Berlins. Dieser neue U-Bahnkosmos, den mir mein neuer Arbeitsplatz liefert und der mich ne knappe Dreiviertelstunde durch die Berliner U-Bahnhöfe schickt, ist erstmal noch gewöhnungsbedürftig. 

An meinem letzten Umsteigebahnhof am Bahnhof Zoo (U2 -> U9) kam ich dabei vergangene Woche an einem Werbeplakat vorbei. Diesem hier.

Glück ist anziehend also. Ein weiterer Auswuchs irgendeiner hippen Texter-Klitsche, urteile ich sofort. Ein Spruch, der sich innerhalb eines Berliner U-Bahnhofs in der Jetztzeit doch irgendwie eher wie ein höhnischer Kommentar anhört als ein gelungener Werbeslogan. 

Berlin wäre nicht Berlin, wenn so ein Plakat unbemalt oder unkommentiert bleibt. Da fragt beispielsweise ein*e Berliner*in: "Wer von uns hatt (sic!) denn noch wirklich Glück." Ich finde die Formulierung dabei sehr interessant, da die Autorin ja extra schreibt, wer denn noch wirklich Glück hat. Eine gute Frage. Kai, was denkst du?

Als ich das an jenem Morgen las, schossen mir Gedanken durch den Kopf: Was ist denn wirkliches Glück? Kann man von wirklichem Glück sprechen, der gerade aus Mariupol noch fliehen konnte? Wär es zynisch, da von Glück zu sprechen?  Oder haben hundert Mädchen in Peshawar, Pakistan, Glück, dass der Rikshafahrer Arab Sha sie täglich kostenlos zur Schule fährt (Opens in a new window)? Sollte dieses Glück nicht eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein? Ja, wer hat denn noch wirklich Glück?! 

Ich verlor mich schon in ein Gestrüpp von Gedanken und Ansätzen, bis ich die Antwort las, die daneben geschrieben wurde. 

Diese stillt zwar nicht den Hunger der ersten Autorin (und insgeheim meiner) nach der philosophischen, fast existenziellen Frage nach dem wirklichen Glück, schafft aber durch die pragmatische, bodenständige, lebensechte Ebene einen praktischen Ansatz, den ich doch sehr unterstützens- und verfolgenswert finde. 

Ich finde es schön, wie die zweite Autorin den Blick auf das Wesentliche längt: Das direkt greifbare, das praktische Glück. Und in ihrer Rolle als Glückschaffende (da sie das Portmonee abgegeben hat) als auch Glückverteidigende (indem sie die erste, hoffnungslose Botschaft der ersten Autorin mit ihrer Antwort kontakarierte) ist diese Autorin (oder Autor) für mich meine persönliche Glücksbotin der Woche. 

Eine freie Fläche im Jahr 2022 kann aber sich nicht auf solch existenziellen Fragen beschränken. Nein, nein, auch hier, auf diesem Plakat am Bahnhof Zoo, wird die Impfdebatte aufgemacht. 

Links: "Was soll man denn von einem Impfstoff halten, der nach 4 Impfungen nicht immun macht?" Rechts:"Immunität ist prozentual + Nicht genug Leute sind geimpft". 

Toll finde ich auch die Lehrerin, die an diesem Plakat auf dem Weg zur Schule vorbei gekommen sein muss. Wahrscheinlich mit den Klassenarbeiten noch unterm Arm, die sie in der U-Bahn noch korrigierte, auf dem eiligen Schritt in Richtung Schule, läuft sie an diesem Plakat vorbei und kann sich doch noch nicht nehmen lassen, ihren heiligen Lehrer-Rotstift einzusetzen und nicht nur auf das fehlende Komma hinzuweisen, sondern die Antwort zur gestellten Impffrage mit einem Kringel und einem großen Ausrufezeichen noch einmal hervorzuheben und dieser Antwort damit den visuellen Ritterschlag gegeben hat. Wer da jedoch mit dem schwarzen Stift aus "prozentuell" "prozentual" gemacht hat, ob das vor- oder nach der Arbeit der Rotstift-Lehrerin passiert ist, das bleibt für mich bis heute unbeantwortet.
Es gibt noch viele weitere Nachrichten auf diesem Plakat, manche sind leider nicht mehr so richtig lesbar, manche hingegen noch sehr deutlich.

Ich finde es schön zu sehen, wie viel Kommunikationsbedarf die Berliner*innen haben und diesen versuchen in der echten Welt zu stillen, anstatt sich zuhause vor dem Bildschirm zu verstecken. Auch, dass die Lehrer*innen anscheinend noch nicht genug von ihrem Rotstift haben, sorgt bei mir für ein Gefühl von Normalität. Ein seltenes Gut in diesen Zeiten.  

Zum Abschluss meines Briefs empfehle ich dir einerseits noch die Daily Good News von Cosmo (Opens in a new window). Ich hoffe dir geht es trotz allem gut und du hast einen angenehmen, sonnenreichen Sonntag. 

Der Frühling kommt. 

Liebe Grüße

Dein Sven

https://www.youtube.com/watch?v=OQcTc9u2Zu8 (Opens in a new window)

(Alt J - Get Better)

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