Lieber Sven,
auf meinem Spiegelschrank über dem Waschbecken steht ein kleines Kofferradio und manchmal reise ich damit beim Zähneputzen in die Bäder anderer Leute. Mal stehe ich neben einem älteren Herrn auf einem rosafarbenen Badevorleger aus Plüsch, dessen Frau vor zwei Jahren an Krebs gestorben ist. Der liebt deutschen Schlager. Mal bei einer Mitte-20-Jährigen mit Döschen mit Glitzer aus der letzten Festival-Saison im Wandregal, um das eine Lichterkette gewickelt ist. Da läuft der „Beat für Berlin“. Und mal lande ich bei einem Ehepaar etwa in meinem Alter, das in einem Reihenhaus lebt. Die haben zwei Kinder, beide im Teenager-Alter, und hören, während sie sich fürs Bett fertig machen, Supertramp, Cat Stevens und Roxette. Für eine solche Reise muss man nur am Sendersuch-Rad drehen und sich dabei vorstellen, wie es dort aussieht, wo 88,8, Kiss FM oder der Berliner Rundfunk 91,4 eingestellt ist.
Ein Radiosender ist ja mehr als rhythmisches Hintergrundrauschen. Er ist wie ein zusätzliches Zimmer aus Musik, die man mag, und Stimmen, die einem vertraut sind. Auf der Tür des Berliner Rundfunks 91,4 steht: „Bitte nichts berühren.“ Es soll dort bitte alles so bleiben, wie es immer war – ein Zimmer der Sehnsucht nach der eigenen Jugend, egal, wann die gewesen ist.
Alles in diesem Programm ist darauf ausgerichtet, das Unangenehme und Krisenhafte nur so weit in die eigene Wohnung zu lassen, wie es nicht weh tut. Man kann Kreuzfahrten gewinnen und Tank-Gutscheine. Die Erderwärmung stoppen wir, indem wir klimaneutrales Wasser trinken. Und die Musik ist ein Kokon aus Unbeschwertheit. "Gib mir die Hand, ich bau’ dir ein Schloss aus Sand, irgendwie, irgendwo, irgendwann." Irgendwann ist nie heute.
Und damit sind wir bei: Nena. Die Frau, die sich in der vergangenen Woche endgültig auf die Seite derer geschlagen hat, die die Demokratie zu retten vorgeben, indem sie Polizistinnen bedrängen und Journalisten verprügeln. Mir kommt die Bewegung aus Querdenkern, Esoterikerinnen und "Wir müssen die Welt mit Liebe retten"-Rettern inzwischen vor, als stünde sie vor einem brennenden Haus und riefe: Leute, Leute, lasst uns alle gemeinsam die Kraft des Feuers feiern. Und wenn manche dieser Leute, Leute versuchen, der Feuerwehr die Schläuche aus der Hand zu schlagen, hat sie halt gerade zufällig weggeguckt. (Opens in a new window)
Nena hat sich dort jetzt auch eingereiht. Aber ist das eine Überraschung? Was waren die „99 Luftballons“ anderes als eine vertonte Weltflucht? Nena ist doch die Verkörperung der Sehnsucht nach einer anderen Welt. In ihrem Fall ist die jetzt so weit aufgestiegen, dass ihre Verbindungsschnur zur Wirklichkeit gerissen ist und in die atmosphärische Schicht der Ignoranz vorgedrungen ist. Fliege wohl, Nena, ich wünsche dir von Herzen, dass der Wiedereintritt in die Realität nicht zu hart ausfallen wird.
Ich mache mir derweil mehr Gedanken um diejenigen, für die Nena das Idol ihrer Jugend ist. Die, die auch nichts zu tun haben wollen mit Reichsbürgern und Demokratieverächterinnen, aber trotzdem das Gefühl haben: Hier ist doch etwas aus den Fugen geraten. Diejenigen, die nie im Leben nach Kassel reisen würden, aber sich von Nena über vier Jahrzehnte in eine Welt haben entführen lassen, in der militärische Konflikte anders beantwortet werden als mit noch mehr Gewalt, (Opens in a new window) in der die soziale Ungleichheit keine so obszönen Ausmaße annimmt wie beispielsweise in Deutschland, in der nicht eine Krise die andere jagt und eine Pandemie diese nun wie in einem Laserstrahl zusammenführt. Was ist mit denen?
Du schreibst in Deinem letzten Brief: „Bei so viel Zersplitterung wünsche ich mir gemeinschaftsbildende Momente zurück.“ Mir geht es genauso und ich suche nach diesen Momenten gerade in mir. Der Berliner Rundfunk 91,4 fragte in der vergangenen Woche: Darf man jetzt noch Nena hören? Und es meldeten sich Menschen, die sagten: Man muss Leuten auch mal verzeihen, wenn sie einen Fehler gemacht haben. So, als habe sich Nena eben vertippt. Das sollte nicht „Danke Kassel“ heißen, sondern „Dinkel Kassel“ – ein Aufruf zu mehr Vollwertkost für einen ausgewogeneren Blick. Danke, Autokorrektur.
So kommen wir nicht weiter. Wohl aber mit einem Talk von Anfang Februar mit dem niederländischen Historiker und global rebel kid Rudger Bregman und seinem israelischen Konterpart Yuval Noah Harari. (Opens in a new window) Das Gespräch zwischen den beiden förderte einen einleuchtenden Gedanken in mir zu Tage. Wir haben in der Geschichte der Menschheit einen Punkt erreicht, der gleichzeitig offenbart, wie weit fortgeschritten unser Wissen und unsere Fähigkeiten sind und wie riesig die Herausforderungen, die wir uns mit den mit unserer Geistesgröße verbundenen Untiefen eingehandelt haben – Gier oder die Unfähigkeit etwa, abstrakte Gefahren so ernst zu nehmen, dass wir sie in unser Handeln einfließen lassen. Oder die Sehnsucht nach Geborgenheit.
Es ist in unserem Bewusstsein angelegt, rational und nüchtern zu handeln und gleichzeitig anfällig zu sein für die wildesten Verschwörungen. Wir sind Menschen, das macht uns so groß wie klein. Und wir haben jeden Anlass, die größten Optimisten wie die größten Pessimisten zu sein. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute ist: Wir können uns entscheiden, welcher Sicht auf die Welt wir uns verschreiben wollen. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem wir von uns selbst überfordert sind, und es kommt jetzt auf jede und jeden Einzelnen an, dieser kollektiven Überforderung neue Gedanken entgegenzusetzen.
Ich schöpfe Kraft daraus, mich mit unserer eigenen Fehlbarkeit zu versöhnen, und glaube, dass es wichtig ist, Gräben zuzuschütten und nicht noch tiefer zu machen. Mit den ganzen Tiraden, die in den vergangenen Tagen gegen Nena erschienen sind, tue ich mich deshalb etwas schwer. Wie zum Beispiel in der taz: (Opens in a new window)
Auf künftigen Schwurbler-Events wird Nena wohl in der Esoterik-Ecke zu finden sein. Sie ernährt sich vorwiegend von Rohkost, outete sich etwa schon vor Jahren als Anhängerin des Gurus Osho und handelte sich damit 2011 einen Eintrag ins „Schwarzbuch Esoterik“ ein. 2007 gründete sie in Rahlstedt die „Neue Schule Hamburg“, an der nach dem Sudbury-Modell unterrichtet wird. Die Kinder bestimmen dort selbst, was sie lernen wollen und was nicht.
Ich habe auch kein Verständnis dafür, wie Nena in der Pandemie agiert. Aber es hat für mich ebenso wenig Sinn, auf ihre Entgleisung Richtung Kassel mit der nächsten Richtung Hagen zu reagieren (woher Nena stammt): WAS, DIE ERNÄHRT SICH VON ROHKOST? NIEDER MIT DEN KAROTTEN! Wir stürzen gerade von einer Erregungsspirale in die nächste. Aber unter Stress ist noch kein Geist auf einen Gedanken gekommen, der uns in die Zukunft trägt.
Zu Ostern gibt es im Berliner Rundfunk den großen Oster-Countdown (Opens in a new window) mit den „555 besten Hits aus unserer Jugend“. Über die kann man sogar abstimmen. Ich werde beim Zähneputzen zuhören, auch wenn ich jetzt schon weiß, was mich erwartet: die immer gleichen Songs, nur neu gemischt. Denn weißt Du was? Die Sehnsucht nach Geborgenheit, die von ihnen ausgeht – die habe ich auch.
Hab schöne Feiertage,
Kai
(Per Gessle & Agnes: It Must Have Been Love – ein Song aus dem Tribute-Abend für die am 9. Dezember 2019 verstorbene Marie Fredriksson)