Lieber Sven,
ich habe mir die von Dir zurecht empfohlene Dokumentation der New York Times über den 6. Januar 2021 angesehen. Was mich daran weniger hat aufhorchen lassen, war, was an diesem Tag geschehen ist, als vielmehr, wie sehr sich diejenigen im Recht fühlten, die das Kapitol mit teils militärischer Präzision eingenommen haben. Nach ihrer Lesart waren sie aus allen Teilen des Landes mit Flugzeugen und Bussen angereist, um nicht nur den Vollzug eines Wahlbetrugs abzuwenden, sondern mehr noch den Untergang ihrer USA zu verhindern.
„Unsere Gegner besetzen das Land – wir besetzen das Parlament.“ – so lautete der Auftrag, den sie von niemandem weniger angenommen hatten als vom noch amtierenden Präsidenten. Man könnte es sich an diesem Punkt einfach machen und sie alle für Spinner halten. Wer glaubt, eine Demokratie retten zu können, indem er ihre Herzkammer verwüstet, kann nach derselben Logik versuchen, eine Ehe zu kitten, indem er die Partnerin im Schlafzimmer einsperrt. Bei der Goldenen Handschellen-Hochzeit wünsche ich viel Vergnügen. Bin leider verhindert.
Und dennoch: Ich will an diesem Punkt nicht aufhören nachzudenken, sondern damit beginnen. Der Psychologe und Führungskräfte-Coach Jens Corssen sagte mal zu mir in einem Interview: „Die wichtigste Regel im Umgang mit anderen Menschen lautet: Jeder hat Recht im eigenen Angst- und Denksystem.“
Der Satz hat sich mir eingebrannt, weil Corssen darin den Beginn einer inneren Verwandlung sieht. Er erklärt diesen Prozess so:
Wer diesen Satz jeden Tag liest, erinnert sich selbst regelmäßig daran, dass jeder andere auch recht hat. Dann wird er feststellen, dass er nach ein paar Wochen länger zuhört. Das macht sympathisch. Dann merkt er, dass die Leute ihn mehr mögen. Und jetzt kommt das, was der Hirnforscher Professor Gerald Hüther, der meine Arbeit bestätigt hat, sagt: Nicht die Erkenntnis allein macht den Unterschied, sondern nur Erkenntnis, die durch häufige Wiederholung zu neuer Erfahrung führt. Dadurch entsteht eine neue neuronale Verknüpfung. Die Softwareentwicklung führt letztlich zu einer Persönlichkeitsentwicklung.
Diese neuen neuronalen Verknüpfungen, die entstehen, wenn wir uns nach der alten Regel „Wiederholung ist die Mutter aller Weisheit." immer und immer wieder selbst sagen, dass nicht nur wir ständig im Recht sind, brauchen wir gerade mehr denn je, scheint mir. Nach Deiner Doku habe ich Tagesschau geguckt und Bilder gesehen von Corona-Demos in Bayern und Sachsen. Die Szenen ähnelten auf verblüffende Weise denen aus Washington. Angetrieben vom Furor, ein Unrecht aus der Welt schaffen zu müssen, setzen sich die Menschen über Regeln hinweg, kämpfen gegen die Staatsmacht – und beißen Polizisten ins Bein. Es ist ja nicht so, dass zur Durchsetzung des eigenen Willens solche Methoden unüblich wären – man kennt sie halt eher von Dreijährigen, die sich im Sandkasten um eine Schaufel balgen.
Aber auch diejenigen, die sich gerade gegen die vermeintliche Corona-Diktatur zur Wehr setzen, fühlen sich im Recht. In ihrem Angst- und Denksystem sind sie einem Staat ausgeliefert, dem sie schon lang nicht mehr vertrauen. Er hat sie hängen lassen bei Hartz IV, bezahlbaren Mieten und Zukunftsperspektiven. Die soziale Ungleichheit wird immer größer, der Zusammenhalt immer kleiner. Und ausgerechnet jenem Staat, der sie nach ihrem Empfinden schon seit Jahrzehnten hintergeht, weil er immer nur die rettet, die ohnehin schon genug haben, und auf die hört, denen es nur um die eigenen Interessen geht, diesem Staat sollen sie jetzt vertrauen?
Wer einmal damit begonnen hat, sich auf einen solchen Blick einzulassen, wird Teil eines sich selbst nährenden Organismus. Man gehört nun zu einer Gruppe, von der anerkannt zu werden regelmäßig für einen flüchtigen Moment der Befriedigung sorgt, ausgelöst von Botenstoffen im Gehirn, für den Geist so nachhaltig wie eine Schüssel Chips für den Körper und deshalb nie von langer Dauer. Der Autor Matthias Eckoldt erläutert in dem lesenswerten Essay „Trainingslager für Extremisten“ (Opens in a new window), wie Social Media-Unternehmen diese Sucht ausnutzen, um eigene Interessen zu bedienen. Nach einer Studie des Massachusetts Institute of Technology MIT werden Tweets, die falsche Informationen verbreiten, sechsmal schneller verbreitet als faktenbasierte, universell nachprüfbare Meldungen. (Opens in a new window) Die Tech-Konzerne tun damit genau das, was die Protestierenden dem Staat vorhalten.
Auf diese Weise vermischen sich Fakten und Desinformation so schleichend, dass man gar nicht merkt, wie man in ein Universum gezogen wird, in dem Tausende von Impftoten mutwillig verschwiegen werden und der Staat den Verlockungen des Autoritären nicht widersagen kann, und schwupps empfindet man sich als Mitglied einer aufgeklärten kleinen Gruppe, die sich einen kritischen Blick bewahrt, während die dumpfe Masse nicht zu erkennen in der Lage ist, dass wir erst die Kontrolle über unseren Körper verlieren und dann übers Bargeld und nach der Pandemie werden wir aufwachen in der Dystopie eines Staates, der uns zwingt, jeden Morgen unsere Iris von der „Deutschland GmbH“-App scannen zu lassen, sonst werden uns Strom und Wasser abgestellt, denn das Deutschland kein Staat ist, sondern eine Firma, deren unmündige Angestellte wir sind, weiß ja wohl jedes Kind, und wer es nicht begreifen will, wird eben in die Wade gebissen, weil wer nicht hören will, muss fühlen, und wo ist eigentlich meine Schaufel?
So kann es doch nicht weitergehen, Sven. Die einen ängstigen sich vor Impffolgen, da mag das Paul-Ehrlich-Institut, das sämtlichen Meldungen zu Nebenwirkungen nachgeht, in seinen regelmäßigen Sicherheitsberichten noch so oft schreiben: (Opens in a new window)
Die weltweiten Daten zeigen, dass die ganz überwiegende Mehrzahl der Nebenwirkungen der in Deutschland verfügbaren Impfstoffe vorübergehende lokale und systemische Reaktionen betreffen, wie sie auch schon in den klinischen Prüfungen vor der Zulassung beobachtet wurden. (…) Nach derzeitigem Kenntnisstand sind schwerwiegende Nebenwirkungen, die im Folgenden zusammengefasst dargestellt werden, sehr selten und ändern nicht das positive Nutzen-Risiko-Verhältnis der Impfstoffe.
Und die anderen erklären alle zu Idioten, die solchen Aussagen dennoch misstrauen – ganz so als wäre Angst ein Zustand, den man sich aussuchen kann. Auf dem Fahrrad tragen gerade diejenigen oft einen Fahrradhelm, die am langsamsten unterwegs sind. Wenn ich sie unbehelmt überhole – wer von uns ist dann der der Depp?
Wir brauchen neue neuronale Verknüpfungen, um gemeinsam an einer Zukunft zu arbeiten, in der wir uns wieder begegnen können und nicht Rechtsextreme den Fuß, den sie bereits in der Tür haben, nutzen, um ihre Vorstellung von einer Nation aufmarschieren zu lassen, die nicht mehr in Oben und Unten unterscheidet, sondern in Drinnen und Draußen – dann sind die Geflüchteten, die Ausländer oder der Islam an allem schuld und die Frauen bleiben wieder hübsch zuhause und sagen Sie zu ihrem Mann. Bis zum vernagelten Schlafzimmer ist es dann auch nicht mehr weit.
Mit denen, die ständig mit dem Finger auf andere zeigen, damit sie sich selbst davon freisprechen können, etwas Konstruktiveres beizutragen als den Satz „Ich bin so klug, ich muss über gar nichts nachdenken." lohnt kein Wort. Aber mit denen, die sagen: „Ich weiß um meine Verantwortung als Teil unserer Gesellschaft, aber ich tue mich gerade schwer damit, weil ich sauer, verzweifelt oder ängstlich bin." – mit denen will ich ins Gespräch kommen, denen will ich zuhören.
Die Psychologin und eine der Sprecher.innen der Psychologists For Future Katharina van Bronswijk hat in ihrem sehenswerten neunminütigen TED-Talk (Opens in a new window) über den Nutzen gerade jener Emotionen gesprochen, die uns das Leben vermeintlich schwer machen: Angst, Verzweiflung, Ekel. Katharina sagt: Seien wir dankbar für diese Gefühle. Denn in ihnen stecken die Antriebskräfte für Veränderung. Nicht die Person ist glücklich, die keine negativen Gefühle empfindet. Sondern jene, die versteht, dass Glück und Unglück, Angst und Erlösung zusammengehören.
Jeder hat Recht in seinem Angst- und Denksystem. Und in jedem Angst- und Denksystem steckt der Keim für Entwicklung. Lassen wir ihn endlich gemeinsam wachsen als ständig darauf herumzutrampeln.
Liebe Grüße,
Kai
PS: Aber natürlich ist auch Twitter nicht nur böse, sondern manchmal auch einfach: sehr lustig. (Opens in a new window)
https://www.youtube.com/watch?v=E1tOV7y94DY (Opens in a new window)(Elis Regina & Tom Jobim – Aguas de Março)