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Lieber Sven,

Wenn ich morgens aufstehe, wuseln mir zwei Haustiere um die Beine, nur leider haben sie zwei sehr unterschiedliche Charaktere.

Das eine ist sehr aggressiv. Bekommt es nicht genug Aufmerksamkeit, beißt es mir in die Wade. Kläfft und jault, wenn nicht sofort sein Fressen auf dem Küchenboden steht. Das Gejaule könnte es sich sparen. Denn es bekommt von mir eh nichts. Noch nie. Aber es ist einfach nicht totzukriegen. Dafür ist das andere umso friedlicher. Lässt sich streicheln, wartet geduldig darauf, dass ich ihm etwas zu fressen hinstelle, und bedankt sich, wenn der Napf leergeschleckt ist, indem es mir auf den Schoss springt und mir das Gesicht ableckt.

Verlasse ich die Wohnung, sind die beiden in der Regel schon verschwunden. Es sind zwei Wölfe und sie existieren nur in meiner Fantasie.

In seinem Buch „Im Grunde gut“, erschienen passenderweise zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020, erzählt der niederländische Historiker und Superstar aller Weltverbessererinnen und Weltverbesser Rutger Bregman von ihnen.

Ein Großvater sagte einst zu seinem Enkel: „In mir findet ein Kampf statt, ein Kampf zwischen zwei Wölfen. Einer ist schlecht, böse, habgierig, eifersüchtig und feige. Der andere ist gut  – ruhig, liebevoll, bescheiden, großzügig, ehrlich und vertrauenswürdig. Diese Wölfe kämpfen auch in dir und jeder anderen Person.“ Da dachte der Junge einen Moment nach und fragte dann: „Welcher Wolf wird gewinnen?“ Der alte Mann lächelte. „Der, den du fütterst.“

Ich denke jeden Tag an diese Parabel.

Du schreibst zurecht: Nichts als Probleme. Und ich ergänze: Es war wahrscheinlich selten so leicht, allen Mut in einer Weise zu verlieren, dass eine Einsamkeit zurückbleibt, die man nicht einmal mehr durch sich selbst abstellen kann. Wer gut mit sich umzugehen weiß, mag allein sein, aber nicht einsam. Ein solcher Umgang mit sich selbst ist eine Kunst, die man erlernen kann. Es ist dagegen keine Kunst, sich selbst zu verlieren, gerade jetzt. Die Bundesfamilienministerin Anne Spiegel will mit ihrem Ministerium sogar eine Strategie gegen Einsamkeit erarbeiten.  

Die Gründe, irre zu werden, werden derweil nicht weniger. Vor einigen Tagen habe ich ein Interview gesehen mit Claudia Kemfert, der Energieökonomin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Kemfert streitet seit so vielen Jahren für eine Energiewende, dass man allein mit ihrer Leidenschaft zwei Atomkraftwerke einsparen könnte, konservativ geschätzt.

Kemfert sagt in diesem Gespräch (ab 9:40), (Opens in a new window) dass ihr Institut seit 15 Jahren davor gewarnt habe, sich so sehr von fossilen Energien abhängig zu machen, dass den Handelnden die Hände gebunden sind, wenn es ernst wird. Angesichts der Entwicklungen an der russisch-ukrainischen Grenze kann man nun sagen: Aus Spaß wurde Ernst und Ernst heißt heute Wladimir.

Deutschland bezieht knapp 50 Prozent seines Gases aus Russland. Und ein regionaler Konflikt, der sich seit 2013 nicht allzu weit weg von uns entfernt abspielt und auf dessen Konto nicht nur Tausende von Toten, sondern auch Traumatisierte gehen, die ihre Hoffnungslosigkeit in Alkohol zu ertränken versuchen, die genauso wenig totzukriegen ist wie mein einer kleiner Wolf, kann sich nun zu einem Krieg auswachsen, in den halb Europa und die USA involviert werden würden. Aber wir Deutschen senden zur Unterstützung 5000 Stahlhelme und müssen darauf hoffen, dass der Spuk an uns vorübergehen und das russische Gas weiter fließen mögen. Lass uns im Geiste dieser Politik eine Sammelaktion starten, Sven. Lass uns Papiertaschentücher sammeln. Damit sich all die Traumatisierten wenigstens die Nase putzen können vom vielen Heulen. Und für Claudia Kemfert, damit sie sich den Mund stopfen kann, bevor sie so laut zu schreien beginnt, dass man sie von Berlin bis in den Odenwald hören kann.

Unser kollektives Bewusstsein ist ausgelegt auf kurzfristige Ziele: Wir brauchen Energie. Wir holen uns Energie. Bei Gas aus Russland gab es keinen Mangel an Warnungen über die Konsequenzen. Es mangelte allein an der Fähigkeit und Bereitschaft, in unser Entscheiden Vernunft und Weitblick einfließen zu lassen. Claudia Kemfert ist eine Verkörperung unserer Weigerung, anzuerkennen, dass das Leben auch nach dem nächsten Quartalsbericht und der nächsten Wahl nicht zu Ende ist. Hätten wir vor zwanzig Jahren konsequent auf den Ausbau erneuerbarer Energien gesetzt, hätten wir jetzt zwei Probleme weniger: zu viel Treibhausgase hier, zu wenig Handlungsoptionen dort. Aber für langfristiges Vernunftshandeln ist unser gesellschaftliches und politisches Denken nicht geschaffen. Schade Kaviarmarmelade.

Und da sind in diesem Brief noch kein Mal die Begriffe Omikron, Impfpflicht oder Pharmaindustrie gefallen. Das überlasse ich in dieser Woche einer Journalistin der taz, die sich mit einer Frau aus dem gemeinsamen Bekanntenkreis getroffen hat, um zu versuchen, sich zu unterhalten – ihr Gegenüber weigert sich, sich impfen zu lassen. Deren Gesprächsstrategie ist allerdings bisweilen in etwa so schlüssig wie die eines Kindes, das zu allem, was man ihm näherzubringen versucht, sagt: Dahinter steckt doch die Schulbuchmafia! Die Wurzel aus 49 ist 7? Schulbuchmafia! Die Punischen Kriege trugen sich zwischen 264 und 164 vor Christus zu? Schulbuchmafia!! Die Goldkröte gehört zur Gattung der Amphibien, die sich nur in Gewässern fortpflanzen können? SCHULBUCHMAFIA!!! (Opens in a new window)

Ich könnte noch lang so weitermachen, Sven (mit den Gründen, irre zu werden, nicht mit den Goldkröten – mit denen aber auch). Und dennoch stehe ich jeden Morgen auf und füttere den einen Wolf, den guten und großherzigen. Weil ich sonst den Sinn davon zu verlieren drohe, warum ich hier bin, wofür ich leben und worum ich streiten möchte.

Dabei weiß ich um die Aussichtslosigkeit, die ganze Welt retten zu können. In dieser Sekunde, in der ich Dir schreibe, leben 7 955 858 320 Menschen auf diesem Planeten. Konservativ geschätzt wird es sieben Milliarden Menschen ziemlich egal sein, was ich denke und fühle – ich gehe jetzt mal großzügig davon aus dass ich eine Milliarde Menschen mit meinen Gedanken werde erreicht haben bis zum Ende meines Lebens – das hat mir mein kleiner Wolf eingeflüstert. Und seien es auch ein paar weniger und mögen die ökologischen und sozialen Krisen auch noch so übermächtig werden – nichts wird mich davon abbringen, jeden Tag meinen Teil zur Lösung beizutragen zu versuchen und dabei alles dafür zu tun, um fröhlich zu bleiben. Wenn ich diese Überzeugung aufgebe, gebe ich mich auf. Dafür ist mir mein Leben zu schade.

Dass unser Lebensglück viel weniger von äußeren Faktoren abhängt als wir denken, ist eine Erkenntnis, die die Sozialpsychologie schon längst gewonnen hat (Moment: FACHBUCHMAFIA!). Nur um die 15 Prozent unseres Wohlempfindens sind von dem abhängig, was um ums herum geschieht. Den überwiegenden Anteil haben wir selbst in der Hand beziehungsweise im Gehirn: Er ist das Ergebnis unserer eigenen Wahrnehmung. Dieses Wissen habe ich von Stefan Klein, Wissenschaftsautor und eine der klügsten Stimmen über das, was Zufriedenheit ausmacht. Sein Buch "Die Glücksformel" (Opens in a new window) ist eine solche Offenbarung, dass ich es selbst gern nochmal zum ersten Mal lesen würde.

https://www.youtube.com/watch?v=ZDEJ6rEoz_s (Opens in a new window)

(Dr. Stefan Klein über das Glück)

Wenn ich abends in mein Schlafzimmer zurückkehre, empfängt mich eine Lampe, wie man sie auch aus Asia-Imbissen kennt. Wer genau hinsieht, erkennt daneben ein Gesicht, das einen fröhlich angrinst (guck nochmal an den Anfang des Briefs). Erzähle ich ihm vor dem Einschlafen, wie zermürbend gerade alles ist, grinst es einfach weiter. Es mag die Beschissenheit unserer Welt einfach nicht zur Kenntnis nehmen.

Ich finde das unverschämt. Und genau richtig.

Es grüßt Dich grinsend,
Dein Kai

https://www.youtube.com/watch?v=vl1TL9tU9yg (Opens in a new window)

(Rocko Schamoni und LaBrassbanda: Der Mond)

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