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Lieber Kai,

Dies ist mein letzter Brief vor der Bundestagswahl. Ich muss ehrlich gesagt gestehen, dass ich es eigentlich schade finde, dass der Wahlkampf schon endet. Seit ein - zwei Wochen habe ich nämlich endlich das Gefühl, dass der Wahlkampf Inhalte in den Vordergrund stellt anstatt um die Personen, die in Umfragen gerade besonders weit vorne oder hinten liegen. 

Ich mache hierfür nicht nur die Parteien, sondern auch die Medienlandschaft verantwortlich, die sich mehr um das personelle Klein-Klein gekümmert haben, als die Parteiprogramme zu studieren. In den letzten Tagen aber habe ich immer mehr das Gefühl, dass auch auf JournalistInnen-Seite sich mehr die Lust entwickelt hat, mal die konkreten Inhalte nebeneinanderzulegen, als die Auftritte im Triell, bei Late Night Berlin oder sonstwo. Geht dir das auch so?

Ich muss an dieser Stelle übrigens ein Lob an die SPD aussprechen. Es war die klügste Aktion des gesamten Wahlkampfs den Kanzlerkandidaten bereits letztes Jahr zu bestimmen. Dadurch hat sich die SPD jegliche Debatten über den Kandidaten in diesem Jahr gespart. Die Scholz-Kandidatur war früh geklärt und wurde nie in Frage gestellt, egal ob die SPD bei 14 oder 18% stand. Ein Umstand, den die Grünen und die Union nur beneiden können. Hätten die Grünen ähnlich agierte, wären Faux-Pas wie Baerbocks beschönigter Lebenslauf chon letztes Jahr aufgefallen und hätten zum jetzigen Zeitpunkt keine Rolle mehr gespielt.

Gewählt habe ich übrigens immernoch nicht. Eigentlich wollte ich ja die Briefwahl nutzen. Jetzt aber glaube ich, dass ich doch am Sonntag wählen gehe. Gemütlich ausschlafen, Kaffee und Frühstücksei und dann zur Grundschule um die Ecke marschieren. Es ist eine schöne Tradition und ich möchte sie gerne miterleben, anstatt dem Amazon/Zalando/Lieferando-Consumerism zu folgen, indem ich all meine Belange durch den Post- oder DHL-Boten regeln lasse. Nein, Wählen, das will ich schon selber erledigen, von vorne bis hinten. 

Ich habe mittlerweile einen ziemlich klaren Verdacht, was und wen ich wählen werde, aber gerade weil so viel gerade noch passiert, will ich mir das Schauspiel noch ein paar Tage angucken, bevor ich meine Kreuze setze.

Was ich damit meine? Auf der einen Seite gibt sich die Linke beste Mühe, doch noch eine linke Mehrheit im Bund auch zu einer mitte-links Koalition zu verwandeln (Opens in a new window). Auf der anderen Seite argumentiert Lindner, dass die Unions-Wähler doch lieber die FDP wählen sollten, da WählerInnen so die "Mitte" auch in einem Falle einer Ampel stärken würden. 

Egal ob Scholz oder Laschet - die Wahrscheinlichkeit, das sowohl die Grünen als auch die FDP in eine Regierung kommen, ist einigermaßen hoch. Klar, die Chance auf ein Linksbündnis gibt es, aber es ist ein offenes Geheimnis, dass Scholz lieber mit Lindner als mit Bartsch oder Wissler am Regierungstisch sitzen würde. Und alleine das wird heißen, dass die meisten Wähler*innen wohl am Ende einer fast jeden Koalition hauptsächlich eines der folgenden Gefühle spüren werden: Ernüchterung. Frust. Enttäuschung. Desillusionierung.

Denn welcher Partei du dich auch zugehörig fühlst, ein Bündnis von Grünen und FDP wird zwangsläufig dazu führen, dass der Weg, den die jeweils andere Partei sich ausgemalt hat, so nicht umgesetzt werden kann.
Es werden Kompromisse gemacht werden müssen: Steuererhöhungen gegen Steuererleichterungen, Fahrverbot oder keins. In vielen Themen gibt es gar keine Kompromisslösung. 

Nach der Wahl wird nicht Parteiprogramm gewinnen, sondern es wird ein neues Regierungsprogramm geschmiedet. Das Wahlprogramm, es ist doch immer eigentlich ein Fantasiegebilde, da es nie so komplett umgesetzt wird. Es ist ein Grundstein für ein Gespräch mit den VertreterInnen anderer Meinungen, um daraus eine neue Realität zu schmieden. 

Dieses Ringen um Positionen, dieses Finden der Realität anhand ihrer Wünsch-Dir-Was-Listen der Parteien wird auch diesmal lange andauern - eventuell so lange, dass Angela Merkel ein weiteres Mal eine Weihnachtsansprache halten muss (und damit gleichzeitig Kohl als Rekordkanzler ablöst).  
Ich weiß nicht, wer da am Kabinettstisch letztlich sitzen wird. Wo ich mir aber sicher mit bin: Am Ende wird  ein Gesamtwerk entstehen, dass von jeder Seite kritisiert werden kann. Viele wird es enttäuschen, viele ärgern. Manch eine/r wird sich abwenden. Pah, sie haben es wieder nicht hinbekommen!

Versteh mich nicht falsch: Ich glaube auch, dass mancher Kompromiss gut und richtig sein wird. Aber dennoch werde ich diesen Frust verstehen, wahrscheinlich sogar selber spüren. Aber genau dieser Prozess ist eben leider ein elementarer Bestandteil von unserer Demokratie und auch unseres demokratischen Selbstverständnisses. Wir müssen aushalten, dass dieses neue Papier, diese neue Regierung der parlamentartische Mittelweg sein wird. Als Repräsentation der Gesamtbevölkerung. 

Die Anschlussfrage wird aber sein: Wie gehen wir mit unserem Frust, unserer Enttäuschung um? Stecken wir unseren Kopf in den Sand?

Welchen Fehler wir als Zivilgesellschaft nicht machen dürfen, ist es uns nach dem kommenden Sonntag zurück zu lehnen. Wer immer gewählt ist, wie das Programm der neuen Regierung auch aussehen wird: Auch außerhalb von Wahlen muss Druck erzeugt werden, müssen Themen gesetzt werden.

Das wiederum sehe ich als den großen Vorteil einer heterogenen Regierung wie einer Jamaika- oder Ampel-Regierung: Fast egal um welches Thema es geht, du kannst als Bevölkerung dir Gehör verschaffen und weißt, dass es in der zukünftigen Regierung zumindest theoretisch Menschen gibt, die auf deiner Seite stehen. 

Deswegen: Die Zeit von Demonstrationen, Bewegungen, Aktionen, um für die richtige Sache zu kämpfen, endet nicht am 26. September, sondern sie fängt gerade erst an. Denn das kann, nein, sollte Demokratie auch sein: Mehr als nur ein paar Kreuzchen in einer Grundschule alle paar Jahre.

Ich wünsche dir eine schöne letzte Woche vor der Wahl. Mal sehen, wem wir in Zukunft Beine machenmüssen. 

Liebe Grüße

Sven

https://www.youtube.com/watch?v=lF7Plukjw6A (Opens in a new window)

(Raphael Gualazzi - Reality & Fantasy)

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