Brief #89 - Angriff der Kra-Partei oder Wie geht's dir, Deutschland?
Lieber Kai,
Danke für deinen Brief. Seit Wochen will ich dir schon schreiben, aber tatsächlich überschlug sich nicht nur mein Privatleben, sondern auch die Ereignisse. Ich glaub, der Brief heute wird ein wenig länger. Erstmal aber ein Satz noch zu deinem Brief.
Du hast geschrieben:
Ich habe auch einen Beitrag gehört, in dem ein Paar aus Schwaben zu Wort kam, das gerade auf Rhodos gelandet war, genau an dem Flughafen, an dem kurz davor verstörte Menschen ins Flugzeug gestiegen waren, froh darüber, der Hölle entkommen zu sein, nachdem sie erst am Strand gestanden und gefürchtet hatten, bei lebendigem Leib verbrannt zu werden, und dann tagelang am Flughafen auf mitgebrachten Handtüchern geschlafen hatten. Die beiden Schwaben aber sagten: Der Reiseveranstalter hätte den Flug storniert, also hätten sie selbst gebucht und führen nun in den Norden der Insel, da sei es sicher. Als lebten die beiden in einem Haus, in dem im Erdgeschoss die Menschen fast verhungern und sie sich das Essen im ersten Stock per Drohne von Lieferando liefern lassen. Samt Hinweis im Feld „Anmerkungen“ bei der Online-Bestellung: „Bitte nicht klingeln. Unter uns wohnt die Realität. Die isst uns sonst alles weg.“
Ehrlich gesagt kann ich das Paar sogar verstehen. Ich wüsste nicht, was ich ihnen raten würde. Ich finde, je nach Lesart, hat es sogar was Rührendes, dass die beiden nicht einfach den Urlaubsort komplett links lassen und z.B. nach Malle fliegen, sondern die Insel trotzdem noch besuchen wollen, wo es möglich ist. Scheint für sie ja irgendwie wichtig zu sein, dass sie lieber dort hin reisen. Und die Menschen, die auf der anderen Seite von Rhodos arbeiten, freuen sich sicher, wenn trotzdem Gäste kommen, viele werden es ja nicht gewesen sein.
Ich habe das Interview ja nicht gehört und ich vermute ich weiß, worauf du hinaus willst. Wo bleibt das "aha"-Erlebnis bei den Reisenden? Dass es nicht um ihren Urlaub geht, sondern sie demütig darauf blicken, was da gerade passiert und was die Ursachen sind (Ohne jetzt zu wissen, ob meine Interpretation deiner Absicht jetzt stimmt, will ich diesen Gedanken trotzdem mal kurz nutzen und weiter spinnen). Das verstehe ich voll, bringt uns aber wieder in ein altes Problem: Die klaffende Wahrnehmungslücke zwischen privatem Handeln kontra politischem Handeln.
Mit privatem Handeln meine ich handeln, dass wir nur für uns machen und nur eine Auswirkung auf unser Leben hat. Popeln zum Beispiel. Politisches Handeln meine ich Handeln, dass eine Auswirkung auf andere hat. Wenn man den Popel an der Person neben sich abstreift. Ist hier es vielleicht noch offensichtlich, warum das eine okay und das andere gesellschaftlich nicht okay bzw. zumindest eine Auswirkung auf eine andere Person hat, sind viele andere praktische Situationen in unserer Gesellschaft weniger eindeutig und, je nach gesellschaftlichem Hintergrund, anders konnotiert:
Hier ist es das private Handeln des Urlaubspaars, dass wir (du+ich+unsere "Bubble") nicht als rein privates Handeln wahrnehmen, sondern als politisches Handeln. Eine ähnliche Auseinandersetzung haben wir auch bei Urlaubsart/-mittel (Fahrradreise vs. Flugzeug).
Auf der Sprachebene gibt es diese Situation natürlich auch: Heutzutage besonders beim Thema gendern, vor 1-2 Jahrzehnten die Benutzung von Wörtern wie N*-küsse oder die Fremdbeschreibung für Sinti & Roma etc.
Mode & Kultur ist ein weiteres Beispiel (Kulturelle Aneignung allgemein, bspw. Dreadlocks). Wann ist ein Handeln privat, wann ist es politisch?
Ich empfehle hier zum Beispiel dieses Video von ttt über Peter Fox und seine Musik, um das Ringen um die Position zu verdeutlichen.
Ich erzähl dir da ja hier nichts Neues. Ich komme nur immer mehr zu der Einsicht, dass dieser Kampf vielleicht der Schwierigste ist, auf dem Weg zu einer besseren Zusammensein: Der Kampf um das gemeinsame Agreement, wo die Linie zwischen privatem und politischem Handeln verläuft und die Diskussion darüber. Sie ist ja auch nicht eindeutig, sondern ständig im Wandel.
Ich denke das Agreement wird nur besser funktionieren, wenn wir verständnisvoller miteinander umgehen, wenn wir merken, wenn wir wieder mal merken, dass wir nicht einig sind, wo die Linie verläuft. Nicht belehren, nicht anfeinden, nicht verhöhnen, sondern Verständnis für die andere Realität zeigen. Ob wir wirklich richtig stehen, sehen wir, wenn uns ein Licht aufgeht. So würde ich es mir wünschen.
Dass noch lange nicht genug Lichter angehen, hab ich aber letztens wieder auf Instagram gesehen. Was bspw. im Internet passiert, wenn du das eher männlich konnotierte Indefinitpronomen "man" hinterfragst und dafür kreative Alternativen suchst, kannst du auf der Instagram Seite von Paula Paula (Opens in a new window) feststellen.
Als Marlène Colle dieses Thema mit einem Video auf ihrer Seite veröffentlichte (und so interessante Alternativen vorschlug wie "mensch", "eins" oder "maus"), tauchten immer mehr Personen von außen auf, die sich in das Thema einmischten und ihre Meinung breit in den Kommentaren kund taten.
Zusammenfassende Grundstimmung der Kommentare, auch im Niveau: "bäää haben wir nichts Besseres zutun, wie überflüssig, man man man bääää".
Hut ab vor Marlène Colle, wie besonnen sie kommentiert hat. Sie betonte dort ein ums andere Mal, dass jeder andere ja gerne handeln kann, wie er oder sie (oder maus) es für richtig hält. Sie sucht eben nach Alternativen. Leben und leben lassen.
Trotzdem hat die Kommunikation in diesem Fall nicht richtig funktioniert. Das ist schade, aber ich glaube leider Teil des Prozesses. Ich glaube wir brauchen auf dem Weg nicht nur ein tiefes Verständnis für menschliche Fehlbarkeit, sondern auch ne Menge Ausdauer. Und gute Nerven. Ob das am Ende reicht? Maus weiß es nicht.
Apropos Sprache: Wie du ja sicherlich auch gelesen hast, findet diese Debatte ja auch bei alter Literatur und Filmen statt, zuletzt bei den Filmen von Otto Waalkes, die beim WDR mit Warnhinweis ausgestrahlt werden (Opens in a new window).
Ich habe kein Problem mit dem Warnhinweis, Otto übrigens auch nicht. Ich frage mich, ob sich wirklich maus daran stört oder einfach das Sommerloch einen neuen Konflikt gesucht hat, an dem maus sich abarbeiten kann. Vielleicht sollten wir eine Umfrage machen.
Achtung, das war eine Überleitung!
Denn was in der Zwischenzeit auch passiert ist: Die AfD hat einen Parteitag gehalten und ist gleichzeitig bei Umfragen bei über 20 %. Auf diesem Parteitag haben sie dann noch dazu einen Spitzenkandidaten für die Europawahl gekürt, der auf den Namen Maximilian Krah hört. Natürlich ist dieser auch schon mit völkischen Tönen (Opens in a new window) aufgefallen (surprise...not), hat sich auch darüber gefreut, dass die Taliban 2021 Afghanistan eroberten. Warum? Weil kurz zuvor die US-Botschaft den Pride Month ausrief. Dies sei, so witzelte Krah in einem Podcast, "die einzig richtige Antwort auf den Pride Month (Opens in a new window)". Dazu fällt mir echt nichts mehr ein.
Wozu mir jedoch eine Menge einfällt, ist der Name des Spitzenkandidaten. Maximilian Krah. Tatsächlich verbinde ich mit diesem Namen schon seit Jahrzehnten eine faschistische Ideologie, schon seit meiner Kindheit. Warum?
Nun, Kai: Kennst du Alfred Jodocus Kwak? Das sprechende Entchen? Er wiegt, er watschelt und er schwimmt? (Opens in a new window) Nun, schon damals wurde nämlich in dieser Kinderserie vor einer Kra Partei gewarnt. Alfred hat es kommen sehen. Zum Glück gibt es YouTube und ich kann diesen Goldschatz meiner Kindheit mit dir teilen.
Synopsis dieser Folge: Kra, ein Rabe und Kindheits"freund" von Alfred, will den König stürzen und gründet dafür die nationale Krähenpartei. Mit dem Slogan "Kra ist gerecht" und einem sehr historisch aufgeladenen Kleidungs-, Bart- und Redestil.
Siehe hier (Ausschnitt: 13:10-16:13)
https://youtu.be/aUSKFH2sOcw?t=790 (Opens in a new window)Wenn ich mir eines für die Europawahl wünsche, dann, dass dieser ganze Videoschatz von Alfred J. Kwak genutzt wird und mittels Audio- und Videomontage entweder Kra's Sätze auf Reden von AfD-Krah montiert werden oder AfD-Krahs Kopf auf Kra's Körper. So viele Möglichkeiten! Vielleicht kann ja Alfred auch heute noch Faschismus bekämpfen.
Aber eigentlich wollte ich ja über Umfragen sprechen. Mich schockieren diese 20 % der AfD ehrlich gesagt nicht. Dass die AfD ein großes Problem ist und war, ist hierbei nicht die Frage, bloß schockiert mich diese Zahl jetzt nicht neu. Das hat unter Anderem damit zu tun, dass ich die Nase voll von Umfragen habe. Überall gibt es Umfragen, sie nehmen inflationär zu. Sie sollen aufzeigen, was eine Gesellschaft spürt, was gerade die Stimmung ist. In den wenigsten Fällen wird dabei jedoch wissenschaftlich genau gearbeitet, dementsprechend wenig (besser: nichts) sagen sie aus.
Es gibt dazu einen tollen Artikel mit dem Titel "Wie man sich eine Studie backt", bei Zeit-Online (Opens in a new window), der aber leider hinter einer Paywall ist. Zum Glück hat die Quintessenz Samira El Ouassil bei Deutschlandfunk (Opens in a new window) in 4:30 Minuten zusammengefasst. Anhören! Ist toll!
Diese Umfragen, die Nachrichtenseiten gerne zitieren und in Auftrag geben, sind selten WIRKLICH repräsentativ und tun dadurch der Demokratie einen Bärendienst, da sie Meinungsmehrheiten vorgaukeln, die wiederum eine Bevölkerung beeinflussen können.
"Ein Drittel der Männer findet Gewalt gegen Frauen okay"
"20% der Bevölkerung kann sich vorstellen Wagenknecht Partei zu wählen"
"Mehrheit der Deutschen hat Sorge, ein Freibad zu besuchen".
Und so weiter. Diese Umfragenhysterie klärt nicht auf, sondern schürt Panik und spielt eine Bedeutung vor, die die Leser und Leserinnen in ihrer Meinung beeinflussen können. Mit gesamtgesellschaftlichen Folgen, Sebastian Kurz hat es vorgemacht (Opens in a new window).
Wenn maus die Nachrichtenlage so liest, könnte maus meinen, dass es ganz schlimm um die deutsche Demokratie bestellt ist. Wie etwa hier die Umfrage beweist (Opens in a new window). Und außerdem ist Annalenas Airbus kaputt (Opens in a new window). Deutschland am Abgrund?
Da war es heute ja fast schon erfrischend zu sehen, wie trotz der Hitze in Berlin hunderte Menschen nicht den nächsten Badeort, den Tiergarten oder Madame Toussauds aufsuchten, sondern den Tag der offenen Tür der Bundesregierung einen Besuch abstatteten. Tjaha, lieber Kai, ich war auch da!
Und siehe da: Lange Schlangen vor dem Kanzleramt, interessierte Fragen bei Panels wie bspw. bei Justizminister Buschmann. Und ganz viele Goodies, Kai! Beutel, Stifte, Flyer - Du kannst dort sogar Socken vom Bundesnachrichtendienst gewinnen! Geheimdienstsocken, Kai!
Spaß beiseite. Ich war tatsächlich überrascht, wie groß der Andrang war, auch ohne Namen wie Scholz, Baerbock oder Lindner, die alle morgen kommen. Eintritt ist frei, ohne Anmeldung. Wenn du Zeit hast, geh hin. Da gibt's einiges zu entdecken.
Im Bundespresseamt habe ich zum Beispiel die Titelseite einer Tageszeitung an meinem Geburtstag ausdrucken lassen. Ich habe die Welt am Sonntag bekommen. Erschreckt hat mich, das selbst bei meiner Zeitung der Name Trump vorkommen muss. Echt fies.
Im Kleingedruckten ist auch ein spannender Artikel auf Seite 43:
"Telefaxen: Der Fernkopierer hat die Geschäftswelt in Faxer und Nichtfaxer gespalten. Wer nicht faxt, gilt als rückständig." Hach ja. Sag ich einfach nichts zu, oder?
Wie du merkst, mir wurde heute nicht langweilig im Regierungsviertel. Ich empfand es als einen sehr Demokratie bejahenden Tag. Ich habe leider vergessen unter den Teilnehmenden eine repräsentative Umfrage zu machen. Dafür wurde ich durch einen Talk mit Kanzleramtschef und Philipp Lahm erinnert, das in einem Jahr ja Fußball Europameisterschaft ist, in Deutschland! Kommen dann wieder die Fähnchen raus, ist Europa dann wieder zu Gast bei Freunden? Sommermärchengefühle?
Vielleicht ist es dieser Ausblick, warum Scholz in Interviews so gelassen auf Umfragewerte blickt und insgesamt alles nicht so negativ sieht. Oder er stimmt mir zu, dass die Ergebnisse von tagtäglichen Umfragen einfach keine Neuigkeit sein sollten.
Liebe Grüße
Sven
P.S. Blumentopf - Mann oder Maus
https://www.youtube.com/watch?v=xV1yp6RWmCU (Opens in a new window)