Oh ja, Sven,
lass uns über Gier sprechen. Die Kraft, die zu uns gehört wie Hunger und Begierde. Allein daran, dass das sexuelle Begehren und das Verlangen nach Mehr denselben Wortstamm haben, lässt sich ja schon ablesen, dass es nicht so einfach ist zu sagen: Die Werkseinstellung des Menschen sind seine Güte und seine Mitmenschlichkeit und er hat sich Gier als bestimmenden Wesenszug im Laufe der zurückliegenden 20 000 Jährchen nur einreden lassen. Also können wir sie uns auch wieder ausreden. Ich glaube, es ist komplizierter, und der Fall Wirecard beweist das ja eindrücklich. Wie lange jene diffamiert und verächtlich gemacht wurden, die die Alarmsignale sahen, zu deuten wussten und sich auch dann noch nicht einschüchtern ließen, als man ihnen Schläger auf den Hals hetzte, hat mich wirklich beeindruckt.
Ich bin überzeugt: Der Mensch ist nicht im Grunde gut, wie es Rutger Bregman im vergangenen Jahr in seinem Bestseller beschrieben hat. Der Mensch ist vielmehr ein Guesthouse, in das jeden Tag neue Gäste kommen (diese Metapher habe ich erst gestern im Rahmen eines sehr schönen Abends gehört und sie gefällt mir sehr). Die einen sind reinen Herzens und wollen ans Meer. Die anderen klauen auf dem Weg zum Strand ein paar Handtücher und lassen Früchte vom Frühstücksbuffet mitgehen. Und am Ende jedes Tages müssen wir uns als die Pensionswirtinnen und -wirte unseres Selbst fragen, woran wir glauben und woran nicht und wovon wir uns verführen lassen wollen und wovon nicht. Und die Gier ist immer dabei und zischelt uns kurz vor dem Einschlafen ins Ohr: Nimm dir, was dir zusteht. Die anderen machen es doch genauso. Sei kein Trottel.
Seit ich mich mit anderen über die großen Fragen unserer Zeit unterhalte – An welchen Werten wollen wir uns als Gesellschaft auf dem Weg in eine neue Epoche orientieren? Wie können wir individuelle Freiheit und gesellschaftliche Verantwortung in Zeiten zunehmender ökologischer und sozialer Krisen ausbalancieren? Wie schaffen wir ein neues Verständnis von Gemeinsinn? –, höre ich oft: Sei kein Träumer. Der Egoismus kennt keine Grenzen und jeder Versuch, eine Gesellschaft auf eine neuen Kurs führen zu wollen, wird am Eigensinn jener scheitern, die sich auch deine Gutgläubigkeit zunutze machen.
Ich halte dann immer dagegen. Wir haben es der Gier in den vergangenen Jahrzehnten ziemlich einfach gemacht, uns vor dem Einschlafen erfolgreich einzuflüstern, dass wir auch am nächsten Morgen nichts unversucht lassen sollten, unseren Eigennutz zu mehren. Es ist nicht nur, aber auch das Werk einiger Männer mit Einfluss und Geld, die sich im Jahr 1947 in einem Dorf nahe des Genfer Sees trafen, um die Grundlage für eine Politik- und Wirtschaftsordnung zu schaffen, die den Staat niedrig hält und die Eigenverantwortung hoch. (Opens in a new window)
Es ist daran zunächst nichts Verwerfliches: Einer der Vordenker, Friedrich August von Hayek, geborener Wiener und einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts, sieht im Faschismus und im Sozialismus denselben teuflischen Kern: eine zu große Macht des Staates, die der freien Marktwirtschaft so enge Zügel anlegt, dass sie sich nicht entfalten kann. Nach seiner Überzeugung ist ein freier Markt in einer immer komplexer werdenden Welt aber die einzige Garantie für Wohlstand, Gerechtigkeit und letztlich – die Demokratie.
Insgesamt 36 Männer kommen damals in der Schweiz zusammen. Gemeinsam gründen sie die Mont-Pèlerin-Society, benannt nach dem Berg, der sich über dem Nordostufer des Genfer Sees erhebt. Es sind darunter Wirtschaftswissenschaftler, Journalisten, Politiker, Unternehmer. Unter anderem zwei Deutsche, die später den Bundeswirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard beraten werden, und Anthony Fisher aus Großbritannien, der mit – Achtung, Sven! – Börsenspekulationen und der Einführung der Massentierhaltung bei Masthühnchen reich geworden ist und eigentlich in die Politik gehen möchte.
von Hayek überzeugt ihn, sein Geld besser in den Aufbau einer Institution zu investieren, die die Politik beeinflussen kann. Gemeinsam gründen sie das „Institute of Economic Affairs“ (IEA), das heute als der erste Thinktank für das gilt, was wir als Neoliberalismus bezeichnen, man aber besser konkret benennt: Deregulierung, Privatisierung, Entmachtung von Gewerkschaften – der ganze Werkzeugkasten für einen vermeintlich freien Markt, der aber in Wirklichkeit nicht frei, sondern nur sich selbst überlassen ist. Und das ist ein großer Unterschied. Vom IEA heißt es heute, ohne seinen Einfluss wären weder Margret Thatcher in Großbritannien noch Ronald Reagan in den USA in den achtziger Jahren mit ihrem Kurs der Verhöhnung des Staates und dem „There is no such thing as society.“ je so weit gekommen.
So, und warum ich erzähle ich Dir das alles, Sven? Ich erzähle es Dir, weil die Mont-Pèlerin-Society für mich die Keimzelle dafür ist, dass wir Gier heute für eine Art Doktrin der Weltgesellschaft halten. Zunächst blieb die Mont-Pèlerin-Society ohne Wirkung, drei Jahrzehnte lang. Denn ein gewisser John Maynard Keynes stand für den genau entgegengesetzten Kurs: Es braucht einen starken Staat, der einerseits Investitionsimpulse setzt und andererseits mit ordnungspolitischen Eingriffen dafür sorgt, dass nicht Einzelne zu mächtig werden, wirtschaftlich wie politisch. Für den britischen Ökonom Keynes ist der Nationalsozialismus eine direkte Folge eines zu schwachen Staates, nicht eines zu starken.
Doch dann kommen: Ölpreisschock und Einbruch der Wachstumsraten der Wirtschaftswunderjahre. Und weit weg von den großen Scheinwerfern der Weltwirtschaft erhält ein gewisser Milton Friedman, auch er Mitglied der Mont-Pèlerin-Society, unter einem gewissen Augusto Pinochet, chilenischer General und von 1973 bis 1990 der sympathische Diktator Chiles, die Gelegenheit, die Ideen eines schlanken Staates, der der unsichtbaren Hand des Marktes möglichst nicht ins Lenkrad greift, in der Realität auszuprobieren. Chile gilt deshalb heute als der Kreissaal, in dem der Neoliberalismus geboren worden ist, seitdem in einer nie endenden Welttournee durch alle großen Industrienationen zieht und inzwischen auch in Schwellenländern wie Brasilien oder Indien die größten Stadien füllt, wo alle "I can't get no satisfaction" brüllen. Mit diesem Blick auf die Welt erhält Milton Friedman 1976 den Wirtschaftsnobelpreis:
https://www.youtube.com/watch?v=RWsx1X8PV_A (Opens in a new window)Aus diesem Grund, Sven, aus diesem einen Grund werde ich mich nie damit abfinden, Gier mit ihrer Allmacht über unser Denken und Handeln als Werkseinstellung des Menschen zu akzeptieren.
Ja, es stimmt, die Gier ist in uns angelegt wie Hunger. Aber jenen, die glauben, ihrer Allmacht nichts entgegen setzen zu können, möchte ich zurufen: Auf Hunger kann man reagieren, indem man in seinen eigenen Körper hört, was ihm gut tut und was nicht. Dann geht man der Stimme des Körpers folgend einkaufen und merkt, dass gutes Essen keine große Kunst ist: Man wirft einfach die richtigen Zutaten in den Topf und guckt, was passiert. Oder aber man reagiert auf Hunger, indem man gedankenlos zum Erstbesten greift, was einem in den Sinn kommt, und stopft es in sich hinein – und sehr oft ist dieser Impuls das Ergebnis einer Verführung aus Werbung, Peergroup-Verhalten und Verpackungsdesign. Einer Verführung, die Vieles im Sinn hat, aber nicht das Wohl des Körpers.
Auch auf Gier gibt es zwei grundlegend unterschiedliche Reaktionen: Man hört in seinen Geist und fragt sich, was ihm gut tut und was nicht. Dann geht man mit offenem Herzen durch die Welt und merkt, dass noch mehr Geld, ein noch größeres Auto, ein noch weiter entfernter Urlaub nichts mit dem zu tun hat, was uns wirklich froh und zufrieden macht. Oder man lässt zu, dass Milton Friedman mit zynischem Lächeln im eigenen Bewusstsein sitzt und sagt: Ach, Kai.
Heute wird in Chile ein neuer Präsident gewählt. Es ist die erste Wahl nach den gewaltvollen Protesten vor zwei Jahren. Zur Wahl steht unter anderem der erst 35-jährige Gabriel Boric, ein Studentenführer mit tätowierten Unterarmen. In diesem sehr hörenswerten Feature (Opens in a new window)im Deutschlandfunk sagt er:
„Habt keine Angst vor der Jugend. Denn wir haben die Erfahrung derer, die vor uns gekämpft haben. Wir lernen aus ihren Fehlern und Erfolgen. Und wir sagen heute voller Hoffnung: Wenn Chile die Wiege des Neoliberalismus war, dann kann es auch das Grab sein. Aber eines, auf dem alle Blumen blühen.“
Aber klar, Sven, von Boric sagen natürlich auch in Chile viele: „Dieser Mann hat in seinem Leben noch keinen Pesos verdient. Wir dürfen nicht zulassen, dass er uns in den Sozialismus führt.“ Die einzige Alternative dazu, einseitig auf die Macht des Stärkeren zu setzen und ökologische und soziale Missstände zu produzieren, die nahezu überall auf der Welt den gesellschaftlichen Frieden nicht mehr nur gefährden, sondern längst zu zersetzen begonnen haben, ist also wieder mal: der Sozialismus.
Ach, Milton.
Liebe Grüße,
Dein Kai