Zu Hannah Arendt und dem "Recht, Rechte zu haben"
"Die Menschenrechte haben immer das Unglück gehabt, von politisch bedeutungslosen Individuen oder Vereinen repräsentiert zu werden, deren sentimental humanitäre Sprache sich oft nur von den Broschüren der Tierschutzvereine unterschied."[1] (Opens in a new window)
Nicht zuletzt die Sprache von Hannah Arendt trägt zur Faszination ihres Werkes bei. Die Schärfe ihrer Gedanken zeigt sich in pointierten, zupackenden Formulierungen, die tatsächlich frei von jeder Sentimentalität auch vor Drastik nicht zurückschrecken. Ihre Schriften behandeln Grauenhaftes, das in unvergleichliche Menschheitsverbrechen mündete. Manchmal wirkt es beinahe, als schiebe sich ihre Fähigkeit, in Sarkasmus zu flüchten, wie ein Schutzschild vor die behandelten Inhalte. In berühmten Formulierungen wie jener von der "Banalität des Bösen", auch jener, dass als Jude sich zu verteidigen habe, wer als Jude angegriffen wird, zeigt sich so immer auch das Verbergen der Verletzlichkeit einer Persönlichkeit, die selbst als Staatenlose im Pariser Exil sich dafür engagierte, jüdischen Kindern die Flucht nach Palästina zu ermöglichen. Sie sah hautnah mit den Schrecken des 20. Jahrhunderts sich konfrontiert, opponierte mit all ihrer intellektuellen wie auch Tatkraft gegen sie, während sie begrifflich sie zu fassen half.
In manchen Passagen, dort, wo sie z.B. von den "Wilden" schreibt, bleibt sie Kind ihrer Zeit. In dem Gehalt ihrer Analysen zeigte sie jedoch Wege von ungebrochener Aktualität auf.
Nirgends zeigt sich dieses klarer als in der berühmten Formel vom "Recht, Rechte zu haben". Arendt entwickelt diese inmitten ihres Hauptwerkes "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft". Das Kapitel ist überschrieben mit "Die Aporien der Menschenrechte" (S. 452 ff.). In einem knappen Aufriss rekonstruiert sie, wie nach dem Zusammenbruch einer religiös sich rechtfertigenden Ständegesellschaft unter der Herrschaft des Adels diese Idee sich entwickelte als eine, dass dem Menschen als Mensch unveräußerliche Rechte zukämen. Dieses jedoch sei, so Arendt, schnell aufgelöst worden in der Konzeption der "Volkssouveränität" - in sich formierenden, mehr oder weniger demokratischen Staaten. Als Staatsbürger gewährten diesen ihnen jene Rechte, die zugleich Voraussetzung der Demokratie seien. Wenn nur alle in solchen Staaten als Garant der Rechte lebten, seien die Menschenrechte auch überall wirksam. So dachte man.
Was jedoch wurde Schicksal der Staatenlosen, denen, die ihre Heimat preisgeben mussten,? Eine Frage, die global weiterhin sich allzu dringend stellt und angesichts einer in Teilen gesichert rechtsextremen Partei und deren gehackten Plänen, gesellschaftliche Minderheiten zu deportieren, derzeit Millionen Menschen auf die Straße treibt.
Arendt führt aus, wie Zugehörigkeiten zu Gruppenidentitäten als Basis dessen sich herausbildeten, was als Nation jeweils zu begreifen sei. Eine Entwicklung, die bereits im 18. Jahrhundert einsetzte und dazu führte, dass "Menschen überhaupt" immer zugleich als Glied eines Volkes gedacht worden seien (S. 455).
Historisch gab es jedoch immer mehr Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten mussten und somit nicht mehr als Teil eines Volkes durch die Welt irrten - ohne Staatsbürgerrechte. Um sich doch wieder da, wo sie landeten, in Gruppen zusammenzufinden und als solche Volksgruppenrechte einzufordern (S. 456) - im besten Falle als nunmehr Staatsangehörige in neuen Heimatländern. Jene, die diesen politischen Status nicht erhielten, würden sodann von der Protektion durch diesen Staat ausgeschlossen und blieben prekär. Indem sie z.B. kein Wahlrecht erhielten und so außerhalb der Volkssouveränität angesiedelt blieben.
Arendt verknüpft diese Entwicklungen mit der Frage, welche Rechte es denn nun seien, die als Teil der Rechte von Menschen überhaupt zu betrachten seien (S. 457). Diese Fragestellung habe das Thema überfrachtet, wenn z.B. gefordert würde, noch soziale Rechte hinzuzufügen. Anfang der 50er Jahre verfasst, konnte sie Konzeptionen wie die von Amartya Sen oder Martha Nussbaum noch nicht kennen, die solche Erweiterungen durchaus plausibel unter Bedingungen der Globalisierung formulieren.
Arendt stellt hingegen fest, dass man ein allgemeines eingeborenes Recht aller Menschen gleichermaßen "entdecken" könne, wenn man es "grundsätzlich von allen Staatsbürgerrechten unterscheidet" (Ebd.). Das aufzuspüren gelänge, wenn man jene betrachtete, die trotz aller internationalen Abkommen und Regelungen wie Aufenthaltsrechten komplett aus jeder Legalität herausfielen. Konkret: Flüchtlinge, die noch nicht mal mehr "Ausländer" sind, sondern vor allem Vertriebene.
"Der moderne Flüchtling ist das, was ein Flüchtling seinem Wesen nach niemals sein darf: er ist unschuldig selbst im Sinne der ihn verfolgenden Mächte." (S. 459)
Weil er vor Kriegen, der Verfolgung ethnischer Gruppen, Umweltkatastrophen, Unrechtsregimen und Willkür flieht, nicht z.B. vor der Strafverfolgung aufgrund eines Verbrechens. Da das auch in aktuellen Debatten so schlecht auszuhalten ist, drehen sie sich oft darum, dass er dann eben im Sinne der Länder, in die er gespült wird, schuldig sei - z.B. als "Wirtschaftsflüchtling", weil er politisch ja gar nicht verfolgt würde, sondern "nur" vor dem Klimawandel geflohen sei.
"Es gehört zu den Aporien moderner Erfahrung, daß es offenbar leichter ist, den völlig Unschuldigen seiner juristischen Person zu berauben, als irgendeinen anderen, leichter als den politischen Gegner oder den Verbrecher"(Ebd.) - da gibt es noch ein Prozessrecht, zum Beispiel. In dieser Hinsicht sind geregelte Asylverfahren ein zivilisatorischer Fortschritt - obgleich es immer wieder Bestrebungen gibt, diese zu "vereinfachen" oder in Drittstaaten zu verlagern so, dass sich Staaten mit der Unschuld der Flüchtlinge nicht beschäftigen müssen. Diese sind halt einfach aus jeder Gemeinschaft gefallen. Sie nun "in ihre Heimat zu deportieren" bildet eine Hilfskonstruktion, dieses zu überschreiben.
"Es ist sinnlos, für jemanden Freiheit zu fordern, der gar nicht unterdrückt ist" (S. 460) - weil er keinem Staat mehr angehört. Wobei auch da sich die Praxis dahinverschoben hat, dass es Repressionen gibt in den Ländern, in denen Flüchtlinge stranden, während sie zugleich über keine Bürgerrechte verfügen, auch, um sie, deutlich formuliert, rauszuekeln. Dennoch verfügen sie prinzipiell über ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Arendt rekonstruiert, wie auch diese Basis-Rechte Juden im Nationalsozialismus Schritt für Schritt aberkannt wurden:
"Mit anderen Worten, das Recht auf Leben wird erst in Frage gestellt, wenn die absolute Rechtlosigkeit - und das heißt, dass niemand sich bereit findet, Rechte für diese bestimmte Kategorie von Menschen zu garantieren - eine vollendete Tatsache ist." (S. 461)
Oder soll man es lassen?
Der Verlust der Menschenrechte tritt ein, wenn Menschen "einen Standort in der Welt verlieren" (ebd.), durch den sie überhaupt Rechte haben können. Meinungsfreiheit und andere Allgemeine Menschenrechte spielen dann keine Rolle mehr, weil es eh egal ist, was diese Menschen sagen. Sie werden zu "lebenden Leichen" (S. 462).
"Daß es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben (...) wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben". (Ebd.)
Das Ausstoßen aus der Menschheit als solcher, aus allen gemeinschaftlichen Zusammenhängen, zeige erst, dass es dieses Recht, Rechte zu haben, auch gäbe, dass es einzufordern sei. Selbst ein Sklave lebe noch in sozialen Bezügen, "die erst die displaced persons eines Internierungs- oder die die Insassen eines Konzentrationslagers ganz und gar verloren haben." (S. 463)
Das 18. Jahrhundert habe das fundamentale Recht aller gleichermaßen, Rechte zu haben, deshalb ignoriert, weil es sie über Bestimmungen der Natur des Menschen herleitete. Dieses jedoch sei unter modernen Bedingungen nicht mehr möglich. Auch aus der Geschichte heraus ließen sie sich nicht begründen.
Vielmehr gelte es zu begreifen, dass "die Menschheit", nunmehr auch historisch real geworden sei. Andere sprachen von "Weltbürgertum", Jürgen Habermas von "Weltinnenpolitik". Diese sei zu denken, um das Recht, Recht zu haben, fordern zu können: eine Menschheit als ganze, die zuallererst das Recht, Rechte zu haben, allen gleichermaßen zuspricht.
Weil es verwirkt würde, wenn Personen nicht mehr als Teil der Menschheit behandelt werden. Mit zwischenstaatlichen Abkommen, die wieder nur Relationen ihrer Staatsbürger zum Gegenstand hätten, allein sei das nicht zu erreichen. Ebenso wenig mit einer Weltregierung oder utilitaristischen Prinzipien, die Teile des Ganzen "Menschheit" über ihre Nützlichkeit definierten und so die "Unnützen" kurzerhand ausspuckten.
Arendt führt aus, wie weder der christliche Glaube, in jedem das Ebenbild Gottes zu sehen, noch die Annahme der "Menschheit in jedem Menschen" davor geschützt hätten, dass die Vernichtungslager errichtet wurden und Staatenlose über Erdball trieben, auf ihr nacktes Leben bis zum Tode reduziert. Hier knüpfte Giorgio Agamben an, als er über den "homo sacer" schrub.
Auf die zudem das Zurückgeworfenseins auf reine Kreatürlichkeit außerhalb staatlicher Ordnung projiziert würde, so dass viele ihnen die Existenzweise einstiger "Barbaren" andichteten. Tatsächlich fluten diese Bilder, auch tatsächliche, oft manipulierte, die das angeblich zeigen sollen, rechte Social Media-Accounts und -Gruppen, wenn dort Menschen über Flüchtlinge fantasieren.
Was nicht im Rahmen des eigenen Nationalstaates "gemacht", "zivilisiert" wurde, erscheint dann "Leitkulturen" als fremd und tendenziell verroht statt wie die Eigengruppe kultiviert, bildet Anlass für Fiktionen des Archaischen. Was denen, die aus analogen nationalstaatlichen Gebilden wie dem eigenen flohen, nicht im selben Sinne aufgeprägt wird.
Gerade deshalb neigten "hochentwickelte Gemeinwesen"(S. 469) zu Fremdenfeindlichkeit, Arendt zufolge; sie sähen in anders Sozialisierten oft die im eigenen gesellschaftlichen Gefüge verdrängte Natur in ihrer gefährlichen Form. Die Staaten- und Rechtlosen verkörperten, "aus allen menschlichen Gemeinschaften herausgeschleudert"(Ebd.), die Naturhaftigkeit selbst, ganz wie den vermeintlich "Wilden" von den Kolonisierenden (die Arendt in diesem Zusammenhang nicht explizit erwähnt) diese auch als Gefahr unterstellt wurde.
"Dies abstrakte Menschenwesen, das keinen Beruf, keine Staatszugehörigkeit, keine Meinung und keine Leistung hat, durch die es sich identifizieren und spezifizieren könnte, ist gleichsam das genau Gegenteil des Staatsbürgers (...). Wenn man sie mordet, ist es, als sei niemandem ein Unrecht oder auch nur ein Leid geschehen (...). "(S. 469-470)
Die bestens in sich vernetzte, zivilisierte und globalisiere Weltgesellschaft produziere durch Kriege, mittlerweile auch die Klimakatastrophe, rassistische Entmenschlichungen und Nützlichkeitskriterien so permanent jene "Barbaren", gegen die sie dann glaubt, sich schützen zu müssen.
Zentrale Aporie dabei ist die zwischen Staatsbürgerschaft und Menschsein als solchem. Letzteres führt gerade nicht in alltäglichen politischen Prozessen zur Einhaltung universeller Menschenrechte da, wo keine Staatsbürgerschaft vorliegt, da Menschenrechte sich in ihrer Konzeption lediglich an diesen orientieren.
Das fundamentale Recht, Rechte zu haben als Teil der Menschheit, wird so fortwährend ausgehebelt durch politische Institutionen der Staatlichkeit. Einen politischen Ausweg zeigt Arendt nicht auf. Und er scheint auch bisher nirgends gefunden worden zu sein.
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[1] (Opens in a new window) Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, 3. Auflage, Serie Piper, S. 453; alle Zitate folgen dieser Ausgabe