Skip to main content

KI und TikTok-Existentialismus

Ich habe es getan.

Ich wollte es wissen.

Nun sind schon diverse Institutionen dabei, die doch eigentlich mit primärer Contentproduktion, mit Recherchen vor Ort und der Fähigkeit, erworbenes Wissen in neuen Kontexten zu situieren, KI in Publikationen zu nutzen. Vermutlich entstehen so längst unzählige Hausarbeiten mit deren Hilfe - und es kann auch sein, dass manche dabei entstehende Texte sogar besser sind als das, was geschrieben würde, hauten die Autor*innen selbst in die Tasten. Man lann die Werkzeuge nutzen, Recherchen zu erleichtern - auch Google stellt den Suchergebnissen mittlerweile KI-generierte Zusammenfassungen voran. Das tendiert alles zur Mitte, das Spezielle wird wegdefiniert, der Konsens schillert. Verschiebt der Gipfelpunkt der Normalverteilung sich gesamtgesellschaftlich nach rechts, so wird KI dem folgen.

Da ich jedoch auch zu den trägen Wesen gehöre, wenn es darum geht, stundenlang zum Beispiel bei TikTok zu scrollen, habe ich es getan.

Claude, sag mal, was wird im Feld der Philosophie unter den Jüngeren derzeit intensiv diskutiert?

Vor allem Stoizismus, so die Antwort. Das fiel mir auch schon bei Youtube auf, dass vor allem mit sonoren Männerstimmen gefütterte Kanäle ganz auf die Stoiker setzen und dabei vor allem auf Marc Aurel und Seneca. Das ist auch nix Schlechtes und harmoniert gut mit vielem, was an populären Aneignungen des Buddhismus und Taoismus im Netzt kursiert: eine Mischung aus Tugend- und Weisheitslehren, teilweise mit Kosmologien verknüpft. Solche, die meistens Gelassenheit und "Detachment" proklamieren - lass Dich von der Welt nicht manipulieren und atme erstmal tief durch. Reagiere zunächst gar nicht und warte, bis Deine affektiven und nur im Ego sich formenden, spontanen Fehlurteile sich auflösen, sonst wirst Du zum Spielball Deiner Umwelt und verlässt den Pfad des Logos. So ungefähr. Gerade auch Verbindungen zu Spiritualität und Mystizismus seien bei den Jüngeren beliebt.

Zu meiner Überraschung tauchte jedoch auch der Existentialismus in der TikTok-Analyse von Claude auf. Platz 2 nach den Stoikern.

Das war einst auch mein Einstieg in die Philosophie, der mich motivierte, mich in den entsprechenden Studiengang einzuschreiben. Mein Anlass einst: ein Referat über die Philosophie Jean-Paul Sartres im Französisch-Leistungskurs, die ich im Wesentlichen der rororo-Bild-Monographie entnahm. Sie kickte mich gerade deshalb, weil hier das freudomarxistische Weltbild, als eine Mischung unbewusster Triebe und Traumata und zudem auch noch Effekt gesellschaftlicher Verhältnisse durch die Welt getrieben zu werden, struktureller Gewalt und Entfremdung ausgesetzt, zertrümmert wurde.

Der Mensch erschafft sich selbst durch Handlung! Jede Annahme einer fixen Identität ist Selbstbetrug!

Menschen benutzen sich nur gegenseitig, um sich die je eigenen Lebenslügen glauben zu können - und verweigern Andere, diese Lügen zu akzeptieren, objektivieren sie Dich konträr zu Deinen Annahmen, dann hast Du darauf keinerlei Zugriff. Und es prägt Dich doch, weil Du Dich dazu verhalten musst - da sie auf Grundlage des Bildes, das sie von Dir zeichnen, sich zu Dir verhalten.

Diese Mechanismen prägten die berühmte Formel Sartres "Die Hölle, das sind die Anderen!" Das ruft eine der Protagonistinnen im Theaterstück "Geschlossene Gesellschaft" aus.

Dieses Denken mündet in eine durch und durch politische Philosophie und auch Psychologie. Z.B. Frantz Fanon wendete diese Muster auf "Schwarze Haut, weiße Masken" an. Die dominanten Bilder und Blicke weißer Dominanzkultur prägen Schwarzen Schablonen auf wie Masken, in denen diese sich verhalten müssen - oft, indem sie sich erstmal weiße Masken aufsetzen müssen. Ganz plump reformuliert. Sartre selbst wendet dieses Muster auch brillant auf den Antisemitismus an, indem er die Lügen der Antisemiten in deren Rahmen analysierte.

Nun lief mir neulich schon im Stadion des FC St. Pauli Sisyphus über den Weg - in der Interpretation von Albert Camus. Mein guter Freund Erik P. Hauth verfasste dazu einen schönen Text rund um Camus und den "Mythos von Sisyphus" in seinem Blog (Opens in a new window) .

Man müsse sich Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen, so eines der berühmtesten Zitate von Camus. Kurz zuvor begegnete mir eben diese Formel im Editorial der französischen Zeitschrift für Queers, têtu. Aufgrund der immer neuen Anstrengungen, gegen Queerfeindlichkeit anzukämpfen, glaubend, man habe den Gipfel nun endlich erreicht, rollen einem die Steine von Orban, Putin, Trump und dem obersten britischen Gerichtshof entgegen und man fängt von vorne an. Man müsse sich Sisyphus queer vorstellen.

Da leitet dann gut zu der Antwort von Claude über, wie denn nun TikToker*innen Sartre und Camus interpretieren. Ich hänge Claudes Text mal unredigiert an meinen (ohne KI) verfassten Auftakt. Das folgende wurde von Claude verfasst:

"Philosophie als digitaler Kompass: Wie TikTok-Nutzer Sartre und Camus zur Deutung ihrer Online-Existenz verwenden

Die TikTok-Community nutzt existenzialistische Philosophie auf überraschend konkrete Weise als Interpretationsschlüssel für ihre digitalisierte Lebenswelt. Dabei entstehen neue Anwendungen klassischer philosophischer Konzepte, die weit über oberflächliche Zitate hinausgehen.

Doom-Scrolling als moderner Sisyphus

Das vielleicht prägnanteste Beispiel ist die Gleichsetzung des endlosen Scrollens mit Sisyphus' Felsen. TikTok-Nutzer beschreiben ihre Erfahrung: "Nach dem Löschen von TikTok und Instagram Reels fand ich mich dabei wieder, wie ich gedankenlos durch YouTube Shorts scrollte" - eine moderne Verkörperung der absurden Wiederholung. Wissenschaftliche Studien bestätigen, dass "Doomscrolling" zu existenzieller Angst führt und Menschen dazu bringt, das Leben als bedeutungslos zu empfinden. Jerome Yankey beschreibt exemplarisch: "Ich zog Nachtschichten durch im College – nicht zum Lernen oder Feiern, sondern zum TikTok-Scrollen bis zum Sonnenaufgang". Nutzer identifizieren ihre gesamte Lebensroutine mit Sisyphus: "Universität, Arbeit, Ehe, Elternschaft, Rente und Tod" - alles repetitive Aufgaben ohne klares Erfolgskriterium.

Sartres "schlechter Glaube" in der Influencer-Kultur

Besonders sophisticated ist die Anwendung von Sartres Konzept der "mauvaise foi" auf die Influencer-Ökonomie. TikTok-Nutzer analysieren, wie sowohl "Influencer" als auch "Follower" in festgelegte Rollen gedrängt werden, die ihre Authentizität untergraben. Der Mechanismus funktioniert durch gegenseitige Bestätigung: Influencer und Follower bestätigen sich gegenseitig in "fixen Charakteren" - ein Prozess der Assimilation, bei dem beide Seiten vorgeben, der andere habe eine "feste Natur". TikToks Algorithmus verstärkt diesen Effekt durch "Micro-Engagement" (Wiederanschauen, Scroll-Pausen, Kommentar-Hover) und priorisiert emotionale Resonanz über Informationsqualität.

Corporate Millennials und existenzielle Erschöpfung

Der TikTok-Trend #corporatemillennial mit über 64 Millionen Aufrufen zeigt Millennials, die ihre Beziehung zu ihren Berufen neu definieren und ihre "9-to-5"-Jobs aufgeben wollen. Hier dient Camus als philosophische Rechtfertigung: Millennials zitieren "Es gibt kein Schicksal, das nicht durch Verachtung überwunden werden kann" als Begründung für berufliche Veränderungen. Die Parallele zwischen modernen Bürojobs und Sisyphus' Felsen wird explizit gezogen: "Der Arbeiter von heute arbeitet jeden Tag seines Lebens an denselben Aufgaben, und dieses Schicksal ist nicht weniger absurd".

Digitale Authentizität vs. existenzielle Angst

Gen Z wendet existenzialistische Konzepte auf ihre Social-Media-Nutzung an. Die Generation erkennt ihre eigene Verantwortlichkeit: "Niemand zwingt eine Person zum endlosen Scrollen, stundenlang auf einen fluoreszierenden Bildschirm zu starren. Wir entscheiden uns dafür" - eine direkte Anwendung von Sartres Konzept der radikalen Freiheit. Als Reaktion entstehen neue Authentizitäts-Strategien: Die BeReal-App wird als Antwort auf digitale Unauthentizität verstanden, wobei "Authentizität als Teil eines generationsbedingten Zyklus und ein Heiliger Gral" betrachtet wird. Gleichzeitig wendet sich Gen Z dem Nihilismus zu als Reaktion auf "Klimawandel, politische Turbulenzen, wachsende Vermögensungleichheit" und nutzt die "Philosophie des Nichts" als Bewältigungsmechanismus.

Existenzielle Krisen als Content-Format

Die Plattform selbst wird zum Schauplatz philosophischer Selbstreflexion. TikToks Algorithmus verstärkt Mental-Health-Content, wobei "über 83% der Mental-Health-Ratschläge auf TikTok irreführend sind", aber dennoch als Orientierungshilfe dienen. 7,1 Millionen Posts unter #existentialcrisis dokumentieren Menschen, die "ihre Existenz in Frage stellen". Spezifische Accounts wie @exitexistencialcrisis verwenden Camus-Memes und #camustok für philosophische Bildung.

Klimaangst und absurde Akzeptanz

Schließlich nutzt die Generation existenzialistische Philosophie zur Bewältigung globaler Krisen. Über 50% der Gen Z-Befragten berichten über "Angst und Furcht vor der Zukunft" bezüglich des Klimawandels, wenden aber Camus' Konzept der absurden Akzeptanz als Bewältigungsstrategie an. Gen Z akzeptiert die "Temporarität" als Trost: "Alles, was wir durchleben, ist temporär und vergänglich", und verwendet Camus' Rebellion gegen das Absurde als Rechtfertigung für Klimaaktivismus.

Fazit

Diese Beispiele illustrieren, wie TikTok-Nutzer existenzialistische Philosophie nicht nur konsumieren, sondern aktiv zur Deutung ihrer digitalen Lebenserfahrungen einsetzen - von der Kritik an Algorithmus-gesteuerten Verhaltensmustern bis hin zur Rechtfertigung radikaler Lebensentscheidungen. Die Philosophie wird zum praktischen Werkzeug für eine Generation, die sich in einer digitalisierten Welt orientieren muss."

So weit saugte Claude Informationen aus dem Netz und bastelte sie zusammen.

Ich finde das politisch nicht uninteressant. Der Existentialismus wurde populär nach dem zweiten Weltkrieg. Ihre noch immer rezipierten Hauptwerke “Das Sein und das Nichts” und “Der Mythos des Sisyphos” verfassten Sartre und Camus noch vor 1945 im von Deutschen besetzten Frankreich. Sartres Theaterstück "Die Fliegen" wurde als ein Appell gegen die Besatzungsmacht rezipiert.

Während sie sich später an der Frage nach dem Kommunismus verstritten, Sartre und Camus, traten beide philosophisch sozusagen von der konkreten politischen Situation zurück (auch wenn Sartre zugleich Forderungen nach dem Engagement formulierte und sich hier und da auch in der Resistance engagierte). Dennoch ist diese im Falle Sartres in den 3 H, Hegel, Husserl, Heidegger gründende philosophische Suche eine, die sich müht, Grundstrukturen menschlicher Existenz überhaupt freizulegen, so, dass sie über historisches Situiertsein hinaus geht - vor jeder konkreten gesellschaftlichen Prägung.

Und das mit dezidiert antibürgerlicher Freude am Schock. In Sartres Romanen wollen sich Figuren selbst kastrieren und Katzen ertränken, sinnieren über Impotenz und fallen aufgrund brutaler Zufälle dem Schlimmsten zum Opfer. Bei Camus sucht die Pest Menschen heim, und eher aus einem spontanen Impuls heraus erschießt der Protagonist in "Der Fremde" einen Araber. Es gibt dazu einen Gegenroman aus arabischer Perspektive, das sei betont.

Beiden gemein ist, das arbeitet Claude ja auch heraus, dass aus der Erfahrung der Sinnlosigkeit und Kontingenz, der willkürlichen Zufälligkeit allen Seins, Freiheit entstünde, die ermögliche, selbst dem Leben einen Sinn zu geben.

Es würde zu weit führen, Sartres spätere Relativierungen nun zu referieren; ihren Schwung entfaltete diese Philosophie aus ihrem alles nichtenden Freiheitspathos, der auch die konkrete politische Situation transzendieren könne, ohne sich dabei die Welt schön zu reden.

Es entsteht dabei ein schmaler Grat zwischen Resignation (z.B. angesichts der Klimakatastrophe) und Sinngebung.  Diese entsteht daraus, dass man die eigene Routine in einer leeren Ökonomie hinterfragt und gleichzeitig das Geschehen in Social Media als verlogen und eitel, fixiert auf falsche Selbstdarstellungen begreift.

Es formiert sich bei allen trotzigen Haltungen wie "es gibt nichts, was sich Verachtung nicht negieren ließe" ein Ruf nach einem Ende der Entfremdung durch Arbeit und Social Media (in Social Media) - und nach einem "authentischen" Leben. Wobei sich das weniger als "natürlich" denn als selbstbestimmt versteht. Sozusagen das Gegenteil dessen, was Merz und Linnemann gerade fordern: alle müssen mehr arbeiten, aber keiner weiß wofür und warum!

Diese Beschäftigung jenseits fixer Identitäten mit dem, was als Fels die sinnlosen Mühen erzeugt plus der sartrischen Antwort: "es ist zwar alles sinnlos und sowieso absurd, aber machen wir was draus!" bietet ja Anknüpfungspunkte, um alte Fragen neu zu stellen: wie sähe denn Arbeit ohne Entfremdung aus? Wie ist Engagement aktuell zu denken, das die Sinnlosigkeitserfahrungen durch eigene Sinnstiftung ersetzt?

Das ist sozusagen das Gegenteil der stoizistischen Antwort: Lass Dich nicht ein. Detach yourself.

Das haben auch schon "Fridays for Future" versucht und sind gescheitert.

Aber auch das ist ja Sartres und Camus’ Lehre: die Praxis selbst ist sinnstiftend, wenn es gelingt, die richtige Haltung zu ihr zu entwickeln und nicht nur auf die Ergebnisse zu schauen. Das schützt auch vor Enttäuschungen und glaubt dennoch die Lügen von Musk &Co nicht, bleibt skeptisch.

Wenn es das ist, womit sich die Generation Z beschäftigt, dann ist das gut.

Topic Gesellschaft

0 comments

Would you like to be the first to write a comment?
Become a member of Bettges - Essays zu Kunst-, Medien- und Sozialphilosophie and start the conversation.
Become a member