Wochenplannewsletter #34
.png?auto=compress&w=800&fit=max&dpr=2&fm=webp)
Meine Lieben,
neulich wurde ich Zeuge einer Diskussion um Kurztests, wie es sie früher in Spielemagazinen häufig gab: kleine, knappe Beurteilungen auf einer Viertel- oder gar Achtelseite, nicht viel mehr als die Wertung und ein paar Sätze zur groben Beschreibung. Redakteure hassten Kurztests. Schließlich mussten sie das Spiel spielen (wenngleich das nach meinem Eindruck eher eine Arbeit von Minuten als von Stunden war), bloß um anschließend einen winzigen Test anzufertigen, den eh keiner las.
Denn Leser hassten die Kurztests zwar nicht, hielten sie aber laut Umfragen und Fokusgruppenanalysen mehrheitlich für überflüssig. Sie gehörten regelmäßig zu den Artikeln, die am wenigstens gelesen wurden. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis die Barden den Untergang der Kurztests besangen. Spätestens als Gürtel enger geschnallt, Personal gekürzt und die klassische Printjournalismusdenke irrelevant wurden, war die Kosten-Nutzen-Rechnung der Kurztests offensichtlich negativ. Und Verteidiger in den eigenen Reihen hatten sie ohnehin keine, im Gegenteil: Viele Kolleginnen und Kollegen konnten es (aus nachvollziehbaren Gründen) kaum erwarten, sie endgültig anzuzünden, die Asche ins Meer zu streuen, das Meer trocken zu legen und den Planeten zu sprengen.
Nun gehörte ich immer zu den Freunden der Kurztests, womöglich weil ich aus der klassischen Printjournalismusdenke komme. Denn obwohl es tatsächlich eine undankbare Plage war, sie anzufertigen, und obwohl sie aufgrund der niedrigen Spielzeit und des murkeligen Umfangs nur bescheidene Aussagekraft besaßen, waren sie in meinen Augen viel wichtiger, als ihnen je einer zutraute. Vielleicht mit Ausnahme von Jörg Langer, Heinrich Lenhardt und den wenigen anderen verbliebenen Journalismusveteranen in dieser Branche.
Die Spiele, die Wertungen, die paar Sätze, das alles war nicht relevant. Relevant war ihre Existenz - und die implizierten Aussagen, die diese Existenz über das Magazin und seine Redaktion traf.
Wir schauen über den Tellerrand der Charts hinaus.
Wir sehen und anerkennen auch kleine, unbekannte Spiele.
Uns interessieren alle Facetten dieses Hobbys, nicht nur die populären.
Wir nehmen unseren Auftrag ernst.

(Nimmt ihren Auftrag immer ernst: Scout)
Ich könnte noch eine Weile so weitermachen, aber ihr seid schlau und habt mein Argument längst verstanden. Und wahrscheinlich habt ihr auch schon über den Tellerrand geschaut und festgestellt, dass das Prinzip auf alle Spielarten des Journalismus zutrifft. Man muss den Feuilleton einer Tageszeitung nicht regelmäßig gelesen haben, um sein Fehlen zu bedauern. Genau genommen muss man ihn nicht ein einziges Mal gelesen haben, um wenigstens zu ahnen, dass eine Redaktion, der Kultur so unwichtig ist, dass sie den Kulturteil streicht, wenn er finanziell nicht gut genug performt, womöglich keine Redaktion ist, der man bei Politik, Wirtschaft, Gesellschaft noch vertrauen will oder kann. Denn all diese Aspekte, Kultur, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft sind so eng miteinander verzahnt, bedingen sich so fundamental gegenseitig, dass man sie nur trennen kann, wenn einem an der Wahrheit nicht gelegen ist.
Oder um es mit einem Pionier der Wirtschaftswissenschaften zu sagen, dem österreichisch-deutschen-amerikanischen Ökonom Joseph Schumpeter:
„Ein Mensch, der nur Wirtschaft versteht, versteht nicht einmal die.”
Journalismus ist nicht investigativ, Service, Information, Beratung, Unterhaltung. Das alles hat seinen Platz und seine Berechtigung, keine Frage, aber das ist nicht seine Essenz. Das alles können andere viel besser als er, wir sehen es in diesen digitalen Zeiten jeden Tag.
Journalismus ist Breitenwissen.
Journalisten sind die Menschen, die eben nicht nur Wirtschaft verstehen. Als der Journalismus anfing, (fast) ausschließlich das aktive Interesse seiner Leser in den Mittelpunkt der Arbeit zu stellen, hörte er im Grunde auf, Journalismus zu sein - und fraß sich selbst. Denn Service, Information und Beratung, sogar dreckige investigative Arbeit, mithin also alles, wonach Menschen aktiv suchen, weil sie es in diesem Augenblick brauchen, wollen, unterhaltsam finden, das alles kriegt man anderswo oft besser, schneller, präziser, unterhaltsamer.
Klingt schlimm? Ist es nicht. Wenn ich wissen will, ob ich mir das neue Doom kaufen sollte, habe ich dafür noch nie einen Spielejournalisten gebraucht. Das hätte mein Freund Paul besser, schneller, präziser und unterhaltsamer erledigt. Ich habe den Spielejournalismus gebraucht, weil ich mehr, viel mehr wissen wollte als nur das. Mehr über andere (unbekannte) Shooter, mehr über das Design von Shootern und vor allem: mehr über alles außer Doom.
Für Menschen wie euch und mich, die mit Gamestar und PC Games und PC Player aufgewachsen sind, womöglich mit der ASM, der Powerplay, dem Joker, für uns waren Spielemagazine ein Studium der Gameswissenschaften. Wir inhalierten sie nicht wegen der Artikel, die uns interessierten, sondern vor allem wegen der Artikel, von denen wir erst hinterher wussten, dass sie uns interessierten. Spielemagazine waren Bildung, im wahrsten Sinne des Wortes. Journalismus war Bildung, Breitenbildung. Das meiste von dem, was ich über die Welt weiß, weiß ich nicht aus der Schule, sondern aus Zeitungen und Magazinen. Wenn ich auch ganze Rubriken übersprang, den Feuilleton, die Actionspiele, den Wirtschaftsteil, dann machte mich ihre bloße Existenz darauf aufmerksam, dass hier eine ganze unbekannte Welt auf mich wartete. Und dass ich in vielen Themen ungebildet war, massiv ungebildet sogar.
Aber das ließe sich ändern. Wenn ich morgen beschloss, dass nun der Tag sei, an dem ich die Wunder des Aktienmarktes erkunden wollte, dann war der Teppich ausgerollt. In einer Welt jedoch, in der nur noch produziert wird, was Leute aktiv suchen, schrumpelt nicht nur Bildung wie ein männlich-vaskuläres Geschlechtsorgan beim Eisbaden, sondern auch die Ignoranz über die eigene Nicht-Bildung. Man denkt, man kenne sich mit einem Thema aus, und sei es ein vergleichbar unwichtiges wie Spiele, aber natürlich kennt man in Wahrheit höchstens die Spitze des Eisberges. Denn nur die wird einem präsentiert, weil man nach dem größeren, physikalisch viel wichtigeren Teil gar nicht sucht. Wie auch, der liegt ja unter der Wasseroberfläche und ist unsichtbar.
Wenn man euch also das nächste Mal sagt, dass ein wichtiger oder aufschlussreicher Inhalt nicht produziert wird, weil es dazu keine Nachfrage gäbe, dann seid euch bewusst, dass das eine anti-journalistische Haltung ist. Es ist die Kapitulation vor dem Klick, die Verneinung dessen, was Journalismus in seinem Kern bedeutet.
Es ist im Übrigen auch nicht eure Verantwortung und schon gar nicht eure Schuld. Ihr seid nicht diejenigen, die verfassungsrechtliche Privilegien genießen, von denen alle anderen Berufszweige nur träumen können. Ganz zu schweigen von zahlreichen Wirtschaftssubventionen in Milliardenhöhe (ermäßigte Steuersätze, Versand von Presseerzeugnissen zu einem Bruchteil der üblichen Kosten usw.) und persönlichen Vorteilen wie kostenlose Eintritte oder Presserabatte für Urlaub, Auto, Abos.
Geht also nicht dem Opfernarrativ auf den Leim, das bemerkenswert an jene Leute erinnert, die hunderte Kilometer mit dem Traktor nach Berlin fahren, um sich dort zu beschweren, dass sie sich das Benzin dafür nur leisten können, wenn alle anderen ein Viertel davon bezahlen.
Der ehemalige Metzgergeselle des elterlichen Betriebs hatte für solche rhetorischen Taschenspielertricks einen sehr treffenden Vergleich:
Einem alten Trapper in den Colt pissen und behaupten, dass es regnet.
1 Meldung, 5 Gedanken
“Wenn du ein echter Fan bist, dann findest du einen Weg [um 80$ für das neue Borderlands zu bezahlen]”
-Gearbox-Chef Randy Pitchford auf Twitter
(Weil ich Elons Pissbude nicht direkt verlinken will, hier stattdessen ein Link zu Kotaku)
https://kotaku.com/borderlands-4-randy-pitchford-gearbox-80-games-1851781445 (Opens in a new window)Erster Gedanke: Ach, Randy. Man kann sich natürlich begeistert in jedes Schwert stürzen, das einem über den Weg läuft. Aber man muss nicht.
Zweiter Gedanke: Trotzdem spannend, wie die Öffentlichkeit mit Wahrheit umgeht. Denn Pitchford hat natürlich Recht: Ein echter Fan wird einen Weg finden. That’s what fans do. Man kann es jedes Wochenende millionenfach auf der ganzen Welt überprüfen, wenn Leute in Stadien gehen, die sie sich nicht leisten können, dabei Klamotten tragen, die sie sich nicht leisten können, und atemberaubende Mengen Bier konsumieren, die sie sich nicht leisten können. Jeder Profi-Sportverein lebt extrem gut von Menschen, die eigentlich kein Geld für seine Produkte haben und trotzdem einen Weg finden. Oft sind diese Menschen - und die Stimmung, die sie machen - überhaupt der Grund, warum alle anderen kommen. Rein wirtschaftlich gesehen müsste der Club sie fürstlich entlohnen. Stattdessen gewährt er ihnen herrschaftlich einen Rabatt und sammelt dafür sogar noch Sympathiepunkte. That’s what fans do.
Dritter Gedanke: Die Empörung über Pitchfords Aussage kann also nicht daran liegen, dass sie falsch ist. Natürlich wird es Ausnahmen geben, aber im Großen und Ganzen beschreibt er eine Offensichtlichkeit. Er sagt nicht einmal, dass er das gut findet. Aber er bricht das eine Tabu, das man nicht brechen darf, wenn man Fans hat: ihnen zu sagen, was alle (sie inklusive) längst wissen, nämlich dass sie sich nach Strich und Faden ausnutzen lassen. Es ist okay, wenn Unternehmen und Fans eine missbräuchliche Beziehung führen - so lange beide so tun, als wäre das gar nicht der Fall.
Vierter Gedanke: Für wie dumm hält man in eurem Unternehmen eigentlich die Kunden? Ich habe eine kleine interne Umfrage in meinem Freundes- und Bekanntenkreis gemacht und kam zu dem traurigen, aber völlig erwartbaren Ergebnis, dass der Kunde mindestens ein bisschen dumm ist. Häufig sogar ausgesprochen dumm und gelegentlich (nein, die Branchen verrate ich nicht) dumm wie eine Bürste. Vielleicht ist es eine notwendige Bedingung des Kapitalismus, dass Unternehmen ihre Kunden für Vollidioten halten, Kunden die Unternehmen für Arschgeigen und man sich größtenteils auf eine Form des Waffenstillstands verständigt, bei dem niemand den anderen umzubringen versucht, außer es muss unbedingt sein.
Fünfter Gedanke: Wenn nun aber der Gegenstand des Unternehmens einer ist, der sich zum Fandom eignet, Videospiele, Fußball, dann … ändert sich eigentlich gar nichts. Außer: Der Waffenstillstand wird zu elaborierten Lüge. Das Unternehmen tut so, als schätze es seine Fans über alle Maßen und die Fans tun so, als fühlten sie sich über alle Maßen wertgeschätzt. Beide wissen, dass das gelogen ist, aber beiden geht es mit der schönen Lüge besser als mit der hässlichen Wahrheit. Es ist eine Win-Win-Lüge. Jedenfalls bis einer - nennen wir ihn Randy Pitchford - wie ein Trampeltrotteltier die mühsam konstruierte Fassade niederreißt und die verschämte Wahrheit für einen Augenblick nackt auf der Bühne steht. Dann laufen alle rot an und knüppeln das Trampeltrotteltier nieder, bevor noch jemand merkt, dass das Trampeltrotteltier auf seine trampelige, trottelige und empathielose Weise eigentlich nur sagte, dass der atlantische Ozean ganz schön nass ist.
Bonus-Gedanke: Klar gibt’s Unternehmen (eins davon lest ihr gerade) und möglicherweise sogar Profi-Clubs, wo die Beziehung zu den Kunden/Fans von ehrlichem Respekt und aufrichtiger Wertschätzung geprägt ist. Aber gerade wenn der Gegenstand des Unternehmens zu Fandom und Emotionalität inspiriert, ist die Beziehung oft besonders krass gefaked. Dafür gibt es gute Gründe, denke ich, aber das sind 5 andere Gedanken für 1 anderen Tag.
Was wir spielen & was wir sonst noch machen
Frei!
Was? Schon wieder? Der André ist doch gerade erst zurück?!
Das stimmt. Aber ich habe jetzt ziemlich genau fünf Monate durchgearbeitet, bisweilen auch sieben Tage am Stück, und habe Lust auf eine kleine Pause mit Scout und Natur und Freunden und anderen fetzigen Sachen. Also bin ich ab Donnerstag ein paar Tage weg. Nun. Genau genommen zeichne ich am Freitag noch einen Podcast mit Ralf auf, aber davor und vor allem danach bin ich ein paar Tage weg. Was unter anderem bedeutet, dass der nächste Newsletter von einem meiner Kollegen zu euch flattern wird.
Oh, ich bin ja so gespannt.
Davor nehme ich übrigens noch einen Podcast mit einem gewissen Wolfgang auf. Ein paar von euch erinnern sich vielleicht noch an ihn: cooler Typ, schon was älter, hat an Spielen wie Die Siedler oder Aquanox mitgearbeitet und war hier früher öfter zu hören. Womöglich bald wieder? Stay tuned.
Spielen tun wir auch. Zum Beispiel:
Drop Duchy
The Precinct
Monster Train 2 (“weils hart gut ist” Sebastian S.)
Lunacid
Das Rätsel zum Sonntag
Circa 2.800 Jahre, bevor die Römer einen jungen Mann an ein Kreuz nagelten und dachten, damit habe sich die Sache erledigt, schrieben die Assyrer folgendes auf eine Tonscherbe:
“Unsere Erde ist in diesen Tagen entartet; es gibt Anzeichen, dass die Welt auf ihren Untergang zusteuert; Korruption und Bestechung sind an der Tagesordnung; Kinder gehorchen ihren Eltern nicht mehr; jeder Mann möchte ein Buch schreiben, und das Ende der Welt kommt offensichtlich näher.”
(Quelle: Das Magazin des Smithonian, Übersetzung ich)
(Nein, ich weiß auch nicht, warum grassierende Bücherschreiberei ein Indiz für den Weltuntergang sein soll, aber erstens ist das nur ein Rätsel und zweitens sind wir mehr als 5.000 Jahre später immer noch da, was nahelegt, dass dieser tontafelschreibende Assyrer nicht ganz so schlau war, wie er dachte)
(Heute wäre übrigens ein guter Tag, um den Irrglauben, die nachfolgende Generation sei fauler, undisziplinierter und weniger leistungsfähig als die eigene, endgültig zu den Dodos und den Quaggas zu schicken. Die Wahrscheinlichkeit, dass du der erste Mensch bist, der mit diesem Gedanken nicht katastrophal daneben liegt, dürfte mit 0 noch optimistisch nummeriert sein)
Genießt die kurze Woche, verbringt den Vatertag mit Vätern und anderen guten Menschen und knuddelt alles, was ihr lieb habt. Oder macht es wie dieser gutaussehende junge Mann:

Jochen