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Du und ich - für 4. Mio+

#01 Die Verteidigung der Selbstständigkeit.

Dies ist die erste Ausgabe von 4. Mio+ - dem wöchentlichen Briefing von Cathi Bruns. Diese Woche:

  • Wie rechtliche Unsicherheit das Angestelltenland zementiert

  • Vor welche Realitäten dies aktuell nicht nur das Land Berlin, sondern auch viele Selbstständige stellt

  • Wie eine selbstständige Yogalehrerin damit umgeht und was das für ihre Arbeit und Branche bedeutet

  • Warum eine juristische Betrachtung vom Anwalt hilfreich ist

  • Ein selbstständiger Nachklapp zur EU-Wahl

  • Und warum wir weniger nach Teilzeit und mehr nach Selbstständigkeit streben sollten

Hi.

In diesem Format soll es bekanntlich um die Selbstständigkeit gehen. Tatsächlich ist es in diesem Land aber gar nicht so einfach zu wissen, wann genau jemand selbstständig ist und wann nicht.

Für alle, die frei und solo arbeiten ist das nicht witzig. Wer gern mit Freien zusammenarbeitet, könnte es deswegen sein lassen. Und in der politischen Auseinandersetzung ist es ein richtig zähes Biest:

Scheinselbstständigkeit (Opens in a new window)” - gemeinhin als missbräuchliches Arbeitsverhältnis bekannt, aber gleichzeitig auch sowas wie der deutsche Generalverdacht gegen alle Selbstständigen ohne Beschäftige. Gleich vorab aber ein paar Zeilen, die ich schon vor Jahren dazu schrieb. Denn es geht hier ausdrücklich nicht darum, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse zu verteidigen. Aber eigentlich führt schon das Wort in die Irre. Nicht die Selbstständigkeit ist falsch, sondern die Betrachtungsweise.

„Niemand sollte selbstständig sein, wenn er es nicht will oder die Bedingungen es gar nicht zulassen. Es sollte daher auch nicht „scheinselbstständig“ heißen, sondern besser „scheinangestellt“. Denn das bezeichnet doch, was es wirklich ist: Der Schein der gewünschten Anstellung trügt und obwohl eigentlich Arbeitnehmer, wird man als unversicherter Tagelöhner um seine Rechte gebracht. Das hat nichts mit Selbstständigkeit zu tun. Menschen in die Selbstständigkeit zu zwingen, um damit Sozialversicherungsbeiträge zu umgehen ist genauso übel, wie Selbstständigen die Existenzgrundlage zu nehmen und freie Arbeit zu verunmöglichen, weil man die moderne Arbeitswelt nicht versteht, Selbstbestimmung nicht akzeptiert und wohl keine Ideen hat, für ein zeitgemäßes Sozialversicherungsmodell.” (aus „Mehr Sein als Schein (Opens in a new window)”, 20. Juni 2019)

Photo courtesy of Gratisography (Opens in a new window)

Warum muss uns das beschäftigen?

Weil hier dringend Klarheit her muss, die ohne die Mitwirkung von Selbstständigen und ihren Auftraggebern nicht sauber erreicht werden kann. Es an der Zeit, sich gemeinsam für die freie Arbeit stark zu machen.

Wie wir im Interview mit Rechtsanwalt Oliver Siebert weiter unten sehen, ist die Situation für Laien schlicht nicht einschätzbar. Die Maßstäbe, die bei Prüfung der Deutschen Rentenversicherung für oder gegen eine Selbstständigkeit sprechen, sind keineswegs einfach nachvollziehbar. Die Auswirkungen auf Selbstständige, die mit Scheinselbstständigkeit nichts zu tun haben, sind immens. Der Wunsch nach Fairness und verbindlichen Kriterien wird im Gespräch mit Yogalehrerin Svea Sauerborn-Plumin deutlich.

Wer noch nie selbstständig war, ahnt nicht, mit welchem Irrsinn wir uns beschäftigen müssen. Aber es darf gern jeder wissen. Denn nur dann können wir Verbesserung erreichen.

Freie nicht rechtssicher arbeiten zu lassen und mit langwierigen Prüfungsverfahren zu belästigen, ist in vielerlei Hinsicht übergriffig. Es kriminalisiert Auftraggeber, es verschärft den Fachkräftemangel und beraubt Selbstständige ihrer Wahlfreiheit. Es hat negative Auswirkungen auf Gründunglust, Kultur der Selbstständigkeit und damit auf die Angebotsvielfalt und Versorgungssicherheit in diesem Land.

Am aktuellen Beispiel der Berliner Volkshochschulen wird klar, wie weltfremd die Gefährdung freier Arbeitsverhältnisse ist. Denn ohne Freie läuft nichts.

Die Lage

Wer in Berlin an Kursen der Volkshochschule teilnimmt, muss sich in Zukunft auf weniger Angebote einstellen. Oder steht im schlimmsten Fall gar vor verschlossenen Türen. Wer frei unterrichtet, ist diese Tätigkeit womöglich bald los. Auslöser für den aktuellen Stress ist das so genannte „Herrenberg-Urteil” von 2022. Eine frei beschäftigte Musiklehrerin ließ durch die Deutsche Rentenversicherung ihren Status klären und wurde als abhängig beschäftigt eingestuft. Die Stadt für die sie tätig war, sah das anders und legte Widerspruch ein. Worauf besagte Musiklehrerin eine Festanstellung einklagte. Das Bundessozialgericht sah sie im Recht. Es befand, ebenso wie zuvor die Rentenversicherung, dass eine selbstständige Tätigkeit in ihrem Fall nicht gegeben sei. Ein wegweisendes Urteil.

Scheinselbstständig ist eben nicht selbstständig - wenn es doch nur immer so einfach wäre. Denn es ist nicht das erste Mal, dass Gerichte Fakten gegen die Selbstständigkeit schaffen. Und das gilt auch, wenn man seine Selbstständigkeit eigentlich bestätigt sehen will.

Frei oder nicht, nach fest kommt ab - oder wer hat Angst vor der Deutschen Rentenversicherung?

Schon frühere Urteile haben dafür gesorgt, dass sogenannte Poolärzte (also zB. ehemals niedergelassene Mediziner, die mit ihrer Expertise als Honorarärzte die Not- und Bereitschaftsdienste entlasteten) oder freie Pflegekräfte, per Gerichtsurteil zu regelmäßig Scheinselbstständigen erklärt wurden.

Mit nicht unerheblichen Folgen. Ärztliche Bereitschaftsdienste bleiben unterbesetzt, die ambulante Versorgung leidet (Opens in a new window). Und damit werden dann nicht bloß Freie in ein anderes Beschäftigungsverhältnis oder vollkommen aus der Arbeit gedrängt, sondern wir alle müssen unter dem gestörten Verhältnis zur Selbstständigkeit in diesem Land leiden.

Für Auftraggeber ist es deshalb so brisant, weil es zur Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen führt - in einer Höhe, die sie nicht selten ruinieren kann. Wenn irgendwer klagt, oder die Rentenversicherung prüft, kommen Steine ins Rollen.

Im Bereich der Erwachsenenbildung arbeiten laut wbmonitor 2021 (Opens in a new window) etwa 70 Prozent als freie Honorarkräfte und mit Werkverträgen. Man könnte sagen, das gesamte System wird von (festen) Freien am Laufen gehalten.

Berlin muss also reagieren. Bei der Tagesschau kann man lesen, dass die Berliner Senatsverwaltung die Lage für die Volkshochschulen entschärfen will.

„Ihr Vorschlag ist ein sogenanntes "Drei-Säulen-Modell". So sollen in Zukunft Lehrkräfte teilweise fest angestellt sein, als sogenannte feste Freie arbeiten oder auch wie bisher als Honorarkräfte. Dazu braucht es allerdings die Zustimmung der Deutschen Rentenversicherung.” (Quelle (Opens in a new window), tagesschau.de (Opens in a new window), Stand: 04.06.2024 21:36 Uhr/Sendung: rbb24 Abendschau, 03.06.2024, 19:30 Uhr)

„Zustimmung der Deutschen Rentenversicherung” So so..

Natürlich ist es Unsinn sich generell gegen die abhängige Beschäftigung in Stellung zu bringen. Und für viele Dozentinnen und Dozenten könnte der ganze Wirbel auch zu einer Verbesserung ihrer persönlichen Lage führen - immer dann, wenn die Festanstellung ohnehin bevorzugt wird.

Alle, die bisher auf Honorarbasis gearbeitet haben in eine Festanstellung zu übernehmen, dürfte für die klammen Kommunen und auch für private Auftraggeber jedoch nicht möglich sein. Und vor allem: nicht jeder möchte angestellt arbeiten. Und um die geht es nie.

Kein Problem, wenn sozialversicherungspflichtige Jobs zur Wahl stehen. Aber es ist ein Problem, wenn freie Arbeit der Festanstellung politisch und gesellschaftlich untergeordnet wird. Wenn vorsichtshalber generell keine Freien mehr beschäftigt werden. Freie Arbeit darf nicht an sich zur unsicheren Sache werden - verjagt durch Verunsicherung, beerdigt mit Bürokratie.

Denn diese Urteile haben durchaus Strahlkraft. Ich habe darüber mit Svea Sauerborn-Plumin (Opens in a new window) gesprochen, die als selbstständige Psychologin und Yogalehrerin, mit ihrem Yogahaus im Haupterwerb selbstständig tätig ist und ebenfalls die Auswirkungen solcher Rechtsprechungen spürt. Schon der Umstand, dass freie Honorarkräfte in ihren Räumen lehren, könnte von der Rentenversicherung als „Weisungsgebundenheit” verstanden und damit als Indiz einer abhängigen Beschäftigung gewertet werden.

Die Besprechung
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Liebe Svea,

wie hast du von der Situation erfahren und welche Auswirkungen hat es schon jetzt auf deinen selbstständigen Alltag?

In meinem kleinen Yogahaus gebe ich primär Yoga- und Stressbewältigungskurse in kleinen Gruppen, die von den gesetzlichen Krankenkassen bezuschusst werden können und gut nachgefragt werden. Jetzt bin ich schwanger, was für mich bedingt planbar war, da ich an Endometriose leide. Ursprünglich hatte ich geplant, dass alle laufenden Kurse in der Zeit nach meiner Geburt von Kolleg*innen auf Honorarbasis unterrichtet werden und ich weiterhin den Orga-Part übernehme.

Dafür standen alle Lehrer*innen in den Startlöchern. Durch einen Facebook-Post einer Yogastudio-Inhaberin und einen Beitrag des VGSD (Opens in a new window) im April wurde ich darauf aufmerksam, dass eine Beschäftigung von Honorarkräften aktuell nicht mehr rechtssicher möglich ist. Ich selbst habe das Statusfeststellungsverfahren der Deutschen Rentenversicherung vor Jahren durchlaufen, wurde als selbstständig eingestuft und zahle seitdem ein.

In den vergangenen Wochen habe ich mich in alle Richtungen informiert und mich von einem Fachanwalt beraten lassen, der sich speziell mit dem Thema Scheinselbstständigkeit und der DRV beschäftigt. Er hat mir dringend davon abgeraten, meine Kurse auf Honorarbasis abzugeben. Ich muss nun versuchen, meinen Kursraum unterzuvermieten, um wenigstens diese laufenden Kosten abzudecken - ich habe Angst, dass die Schwangerschaft meine berufliche Existenz zerstört. Es belastet mich, mich in der Schwangerschaft mit der Bürokratie herumschlagen zu müssen, in der Hoffnung, beruflich irgendwie zu überleben.

Wie gehst du mit der Situation um?

Meine Sorge ist im worst case ein Branchensterben! Kleine Yogaschulen können es sich in vielen Fällen nicht leisten, ihre Lehrer*innen anzustellen, sodass möglicherweise nur noch die big player übrig bleiben.

Es würde eine enorme Vielfalt verloren gehen, zudem beschneidet es die Freiheit der Lehrer*innen, für verschiedene Auftraggeber tätig zu sein.

Eine Anstellung auf Minijobbasis würde in meinem Fall wenig Sinn ergeben, da ich mit zehn Personen für elf Kursangebote pro Woche geplant habe. Kaum eine Yogalehrerin möchte neben ihrem Hauptjob mehr als zwei oder drei Stunden pro Woche geben. Es ist schwierig, Vertretungslehrer*innen zu finden, die bereit sind, nur den Raum anzumieten und alles um ihre Kurse herum selbst zu organisieren.

Das wird sich aber vermutlich verändern, sobald sich für alle herauskristallisiert, dass nur noch Untermiete oder Anstellung möglich sind. Kund*innenfreundlich ist das nicht, da sich das klassische Studiomodell (man kauft bspw. eine 10er-Karte und kann dann an allen Angeboten teilnehmen) ausschließlich über eine Anstellung der Lehrer*innen umsetzen lässt - ansonsten wird die Zahlungs- und Organisationsstruktur aus Verbrauchersicht deutlich umständlicher.

Wie reagieren andere in deiner Branche darauf? 

Die meisten wissen vermutlich noch gar nicht davon! Als ich in den vergangenen Wochen versucht habe, andere Kolleg*innen darüber aufzuklären, bin ich oft auf eine Mischung aus Ungläubigkeit („das trifft doch bestimmt nicht auf uns zu!“) und mangelndem Verständnis gestoßen, was die Sachlage angeht.

Viele Yogalehrer*innen, die bisher auf Honorarbasis für verschiedene Auftraggeber tätig waren, sind in großer Sorge, zukünftig Aufträge zu verlieren bzw. sich anstellen lassen zu müssen.

Was wünscht du dir von der Politik um der Lage angemessen zu begegnen?

Ich wünsche mir erstens eine klare Differenzierung zwischen einer „echten“ Selbstständigkeit und der Scheinselbstständigkeit, ohne in die Anstellung gedrängt zu werden. Und außerdem eine Entlastung für Soloselbstständige insgesamt, also faire Sozialabgaben.

Und zu guter Letzt eine Differenzierung zwischen den ganz kleinen Fischen und im Haupterwerb tätigen Menschen. Im Falle der Musikschulen ist es in meinen Augen zu begrüßen, dass vorher in Vollzeit prekär auf Honorarbasis beschäftigte Lehrer*innen, gerade von kommunalen Trägern, nun angestellt werden, insofern sie sich das wünschen. Yogalehrer*innen sind aber zum größten Teil in Voll- oder Teilzeit in einem anderen Job tätig und darüber sozialversichert - dass sie nun auch unterhalb der „Minijobgrenze“ bei ihrer Nebentätigkeit Abgaben leisten müssen, ist für mich unverständlich.

Danke, liebe Svea, für deine Antworten.

Wir sehen, es ist alles andere als witzig.

Ich meine, es ist dringend nötig, auch die Seite der Selbstständigen zu verstehen und die rechtliche Sprengkraft zu benennen. 

Dazu habe ich Arbeitsrechtler Oliver Romald Siebert befragt, Rechtsanwalt, CertHE (Norwich), Partner bei NÜMANN + SIEBERT Rechtsanwälte PartGmbB (Opens in a new window), Berlin.

(Opens in a new window)

Lieber Herr Siebert,

wie schätzen Sie die Auswirkungen solcher Urteile auf die freie Arbeit generell ein?

Das Urteil verwundert nicht sonderlich und sollte Anlass dazu geben, die nicht selten vernachlässigte Problematik einer möglichen Scheinselbstständigkeit einer genaueren Überprüfung zu unterziehen.

Vor allem für Unternehmen bzw. Auftraggeber dürfte es ratsam sein, möglichst frühzeitig und weitgehend Klarheit zu erhalten und die negativen Folgen bzw. hohen Haftungsrisiken einer für sie nachteilig ausgehenden Betriebsprüfung nach Möglichkeit zu vermeiden.

Da dies teilweise mit einem nicht unerheblichen Aufwand verbunden und die Komplexität dieser Thematik dem juristischen Laien teilweise kaum noch verständlich ist, ist sicherlich nicht abwegig, dass sich dies auf die Angebotsvielfalt in der Bundesrepublik Deutschland nachteilig auswirken kann. Wir vertreten z. B. Ärzte, denen, kurz gefasst, trotz vorhandener eigener Praxis deshalb Scheinselbstständigkeit in Bezug auf deren Tätigkeit in befreundeten Praxen vorgeworfen wird, da sie sich dort zur Durchführung ambulanter Eingriffe kurzzeitig eingemietet (Behandlungs- bzw. Operationsraum) und sich damit nach Auffassung der Deutschen Rentenversicherung der Organisationsstruktur der anderen Praxis unterworfen haben.

Regelmäßig Schwierigkeiten erfahren z. B. Kurierdienstleistungsunternehmen mit immer wieder unterschiedlich gelebten „Vertragskonstruktionen“, Minderheitsgesellschaftergeschäftsführer oftmals mangels ausreichender gesellschaftsrechtlicher Macht im Unternehmen, Cutter, trotz hohem Grad an Kreativität usw.

Deren Willen gegen eine abhängige Beschäftigung ist dabei nicht entscheidend. Freilich grenzt das die Flexibilität unternehmerischen Handelns ein und lässt unserer Erfahrung nach einige nicht nur den Blick ins für sie (auch) insofern teilweise attraktivere Ausland werfen oder solche „Jobs verschwinden“.

Ist das Urteil auf andere Branchen übertragbar?

Ungeachtet der Branche ist das Gesamtbild der Arbeitsleistung maßgebend. Vereinfacht ausgedrückt: ob nun im Falle von Minderheitsgesellschaftergeschäftsführern, Cuttern, Honorarärzten, Musikschullehrern usw., die Prüfung des konkreten Einzelfalls ist stets erforderlich, wobei Ausgangspunkt zunächst die jeweiligen vertraglichen Vereinbarungen und die Klärung der tatsächlichen Verhältnisse sind; entscheidend ist letztendlich, wie das Vertragsverhältnis gelebt wird.

Die Besonderheiten der verschiedenen Branchen sollte man bei einer juristischen Prüfung berücksichtigen, freilich auch zum Vergleich dieser untereinander.

Welche Möglichkeiten haben Freie, in vergleichbaren Settings, weiter frei arbeiten zu können?

Das Urteil sollte nicht entmutigen. Erst vor wenigen Wochen konnten wir ein Verfahren vor dem Sozialgericht Berlin, also bereits in erster Instanz, zu einem Ende führen, in welchem es um die Einordnung der Tätigkeit eines Softwareingenieurs als selbstständige Tätigkeit ging.

Die Deutsche Rentenversicherung hat erst im Termin zur mündlichen Verhandlung erkannt oder zu erkennen gegeben, dass in diesem Fall von einer selbstständigen Tätigkeit auszugehen ist und hat die Klageforderungen unter Kostentragung vollständig anerkannt. Mit anderen Worten: Es gibt Möglichkeiten – nur sollte man freilich am besten möglichst frühzeitig und vor Tätigkeitsbeginn mit der gründlichen Überprüfung beginnen.

 Hat man eventuell bereits erkannt, dass ein Fall von Scheinselbstständigkeit vorliegen könnte, sollte man keinesfalls, vor allem ohne anwaltliche Begleitung, versuchen, (scheinbar) mögliche Rettungsversuche zu beginnen.

So hat z. B. das Bundessozialgericht in einem Fall, in welchem der Kläger als einzig ausgebildete Pflegekraft alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer einer haftungsbeschränkte Unternehmergesellschaft (UG) war, trotz der, vereinfacht ausgedrückt, „Verkleidung seiner Tätigkeit“ in eine Kapitalgesellschaft, eine abhängige Beschäftigung seinerseits angenommen (siehe z. B. BSG, Urteil vom 20.07.2023 - B 12 BA 1/23, BSG, Urteil vom 20.07.2023 - B 12 BA 4/22 R;  vgl. aber die abweichende Beurteilung: BAG, Urteil vom 17.01.2017 - 9 AZR 76/16).

Auch andere Versuche können scheitern und eventuell zu weiteren rechtlichen Problemen führen. Ohne anwaltliche Prüfung des jeweiligen konkreten Einzelfalls im Detail ist hiervon abzuraten.

Wie können Auftraggeber, die Freie beschäftigen, jetzt reagieren? Sollte man als Selbstständige/r selbst aktiv werden und den eigenen Fall per Statusfeststellungsverfahren prüfen und wann sollte man einen Anwalt zu Rate ziehen?

Nachvollziehbar wünschen sich viele Freie und Auftraggeber spürbar mehr Klarheit über beitragsrechtliche Sachverhalte und die Möglichkeit, solche anhand von gewissen Abgrenzungsmerkmalen selbst feststellen und damit Rechtssicherheit erlangen zu können.

Die bisherige Rechtsprechung heranzuziehen hilft vor allem dem juristischen Laien oftmals kaum weiter. Bereits der Blick in das „Gemeinsames Rundschreiben des GKV-Spitzenverbandes, Berlin, der Deutschen Rentenversicherung Bund, Berlin, und der Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg zur Statusfeststellung von Erwerbstätigen vom 1.4.2022“ und den dazugehörigen Anlagen (jeweils Online erhältlich) sollte eigentlich zumindest ein Stück weit zur Klarheit und Sicherheit verhelfen („Selbstbindung der Verwaltung“, „Prognosemöglichkeiten“).

Ausweislich des zeitlich nachfolgenden „Herrenberg-Urteils“ wird aber deutlich, dass z. B. die Ausführungen in Anlage 5 zum vorgenannten Rundschreiben, dort zu „Dozenten/Lehrbeauftragte/Lehrer“, allein nicht immer ausreichen, um die Gesamtproblematik und die Entwicklung auf diesem Gebiet „im Blick“ zu haben.

Insofern ist man sicherlich mit der Durchführung eines Statusfeststellungsverfahrens über die Clearing-Stelle der Deutschen Rentenversicherung (vor Aufnahme der Tätigkeit) gut beraten; hierbei sollte auf anwaltliche Unterstützung nicht verzichtet werden, auch in Bezug auf eine ggf. mögliche Gruppenfeststellung für gleichartige Beschäftigungsverhältnisse. Auch wenn eine 100%ig rechtssichere Prognose in der Regel kaum möglich sein wird, kann doch Vieles, insbesondere teilweise Haftungsrisiken, z. B. durch Etablierung eines gut durchdachten „HR Compliance-Systems“ verhindert werden. Auch Auftraggeber, die bereits Freie „beschäftigen“ sollten anwaltlichen Rat einholen; Näheres wäre dann zu klären.

Warum ist es so kompliziert, Selbstständigkeit von abhängiger Beschäftigung zu unterscheiden?

Keinesfalls sollte man dem Trugschluss unterliegen, lediglich auf die Möglichkeit freier Disposition von Arbeitszeit und Arbeitsort abzustellen; es bedarf in der Regel einer tiefergehenden Prüfung. Der Katalog an zu berücksichtigenden Kriterien, die für oder gegen eine abhängige Beschäftigung sprechen, ist lang, die Einordnung des konkreten Sachverhalts aus tatsächlichen Gründen nicht immer einfach.

Entscheidend sind die Umstände des konkreten Einzelfalls. Hierfür sind nicht selten intensivere Mandantengespräche erforderlich, die einen Einblick in diverse Abläufe im Unternehmen des Auftraggebers, der Tätigkeit des Freien usw. erforderlich machen, dies mit Blick auf vertragliche Ausgestaltung im Einzelfall.

Hat die Rentenversicherung zu viel Macht über das Schicksal Selbstständiger?

In unserem System besteht die Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle. Die Justiz ist jedoch in nicht unerheblichen Teilen nachvollziehbar überlastet, so dass Verfahren vor den Sozialgerichten viel Zeit in Anspruch nehmen können. Dies trägt damit teilweise nicht dazu bei, dass Unternehmen, Auftraggeber und Freie kurzfristig Klarheit und Rechtssicherheit erlangen.

Zwar mag das Ergebnis der Clearing-Stelle bei einem (gründlich vorzubereitenden) (teilweise obligatorischen) Statusfeststellungsverfahren in oftmals „nur wenigen Monaten“ vorliegen; ist das Ergebnis nicht zufriedenstellend, schließen sich insbesondere Widerspruchsverfahren und Klage nicht selten an, dies mit einer Verfahrensdauer von vielen Monaten und bis sogar einigen Jahren. Eine Optimierung „insgesamt“ könnte hilfreich sein.

Herr Siebert, vielen Dank für das Interview!

..Ok, und jetzt?

Wenn es sowas wie ein Recht auf Festanstellung geben soll, was ist dann mit dem Recht auf Selbstständigkeit?

Sich vor jedem Projekt von Neuem erstmal gründlich auf den Status prüfen zu lassen, ist zwar typisch deutsch, aber steht im Gegensatz zu jeder unternehmerischen Arbeitsweise.

Aus meiner Sicht hilft unmittelbar nur eins: Sichtbar sein und diese hyperbürokratischen Abläufe zum Schaden freier Arbeit immer wieder thematisieren. Es gibt keine moderne Arbeitswelt, ohne eine standhafte Kultur der Selbstständigkeit. Gute Arbeit - das wissen wir Selbstständige - misst sich eben nicht bloß an einem gut gemeinten Sozialversicherungsstatus.

Freie Arbeit hat einen hohen Wert. Eigentlich unbezahlbar. Wer frei arbeiten will, darf sich keine Übergriffigkeiten gefallen lassen. Genau wie andersherum auch nicht.

Bleiben wir dran.

Politisches

Apropos dran bleiben. Am 9. Juni fand in Deutschland die Europawahl statt. Viele Bestimmungen, die Auswirkungen auf Selbstständige haben, werden in Brüssel auf den Weg gebracht. Was zum Beispiel die jüngst entschiedene Richtlinie zu Plattformarbeit für Selbstständige hierzulande bedeuten könnte, habe ich in der Wirtschaftswoche kommentiert:

„Und nun soll bei allen, die über Plattformen arbeiten, das  Beschäftigungsverhältnis rechtlich vermutet werden, ohne dass Selbstständigkeit ebenso einfach zu beweisen ist? Der ehrlichere Name wäre dann wohl „Festanstellungsdurchsetzungs-Richtlinie“. Gemacht, um Selbstständigkeit zu verhindern.“

Was wir wollen ist Rechtssicherheit, was wir bekommen ist eine schlecht gemachte Richtlinie? Die Freiheit frei zu arbeiten kommt immer mehr unter Druck. Ich frage daher: Wo bleibt die Revolution im Angestelltenland (Opens in a new window)?”

Am dritten Tag nach dem EU-Wahltag kennen wir die Ergebnisse. Ob sich einzelne Projekte, wie die Plattform-Richtlinie auf das Wahlverhalten von Selbstständigen auswirkten, vermag ich nicht zu beurteilen. Bei X habe ich die Daten der Tagesschau/infratest dimap in einem Thread zusammengefasst, die zeigen, wie u.a. Selbstständige in Deutschland im Vergleich zu 2019 abgestimmt haben. Zwei Ergebnisse fallen besonders auf:

  • Die Grünen, die sich genau wie die SPD sehr für die Plattform-Richtlinie eingesetzt hatten, haben ganze 10 Prozent der selbstständigen Stimmen verloren

  • Die AfD hat aus der Gruppe der Erwerbstätigen von den Selbstständigen am wenigsten Stimmanteile dazu erhalten (+6 Prozent)

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Auch nach der Wahl lohnt es sich über die EU zu informieren. Wer sich aufschlauen will, wie die Europäische Union funktioniert und wie viel Gutes sie für die Unionsbürgerinnen und -bürger jeden Tag bringt, kann über die Website „Was tut die EU für mich” mittels einfacher Stichwortsuche diverse Bereiche erkunden in denen die EU wirkt. Es gibt sogar das Stichwort „Freiberufler”. ;)

https://what-europe-does-for-me.europarl.europa.eu/de/social/B69?search=freelancer (Opens in a new window)
zahl der woche
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unternehmerisches

Ist dir aufgefallen? Wir reden wahnsinnig viel über Arbeit, aber ganz selten über die Selbstständigkeit. Ein Fehler, denn sie hat neben all ihren Herausforderungen alle Vorteile, die sich offenbar die meisten Menschen wünschen. Zum Beispiel flexible Arbeitszeiten. Und Selbstbestimmung. Die Chance auf Aufstieg, auch ohne die Macht über die eigenen Tag komplett abzugeben. Die Einkommensskala ist in der Selbstständigkeit nach oben offen - auf das Geschäftskonzept kommt es an.

Selbstständige müssen nicht zwangsläufig mehr Stunden arbeiten um Vollzeit verdienen zu können und sie müssen auch nicht irgendeinem Arbeitsfetisch erlegen sein. „Teilzeit” dagegen, ist eine Angestelltenkategorie. Und zwar eine, in der fehlende Unabhängigkeit vorprogrammiert ist.

Fast die Hälfte (!) der erwerbstätigen Frauen arbeiten in Teilzeitmodellen. Eine wahnsinnig hohe Zahl. Dabei sollte es bei Arbeit nicht so sehr um Arbeitsstunden gehen, sondern vielmehr um Arbeitsinhalte. Dafür braucht es ein neues unternehmerisches Selbstbewusstsein.

In der Doppel-Kolumne „Zukunftsgedanken”, die im Wechsel mit Lexware-Chef Christian Steiger erschien, unterstreiche ich daher die Chancen, die in modernem Unternehmertum liegen - besonders für Frauen.

„Es ist falsch Arbeit und Leben gegeneinander auszuspielen. Echte Vereinbarkeit ohne auf Geld, anspruchsvolle Aufgaben, Unabhängigkeit und Aufstieg verzichten zu müssen, ist eine unternehmerische Chance. […] Warum ist das ein Zukunftsthema? Weil eine moderne Gesellschaft nicht ohne das Können und die Ideen von Führungsfrauen und Macherinnen auskommt.“

Die Stärkung

Was gibt diese Woche Schub?

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Mich daran zu erinnern gibt mir auch diese Woche neuen Schub.

  • Mich freut, dass die Zahl der Gründungen in den Freien Berufen steigt (2023 um 1,7% (Opens in a new window)), der Frauenanteil ist dort besonders hoch und hat laut dem IfM Bonn gar den Anteil der männlichen Gründer übertroffen (2023: 54,9% (Opens in a new window)). Das sind Ärzte, Zahnärztinnen, Apotheker, Tierärzte, Rechtsanwältinnen, diverse Heil- und Pflegeberufe, Kreative und die Kulturberufe, Steuerberater und freie Lehrerinnen und Lehrer - also alle, die jeder irgendwann im Leben mal braucht und zu Rate zieht und nicht missen möchte.

  • Dieses Projekt für 4. Mio+ hat seit der Ankündigung ohne viel Promo schon über 150 und weiterhin jeden Tag neue Abonnenten und sogar zahlende Mitglieder gewonnen. Fühlt sich an, wie ein Gig in einem kleinen Club. ❤️

Was habe ich diese Woche (mal wieder) gelernt?

Ja, Zweifel sind ständige Begleiter aber es ist gut, sich selbst für etwas zuständig zu machen. Es bringt neue Energie, Vorhaben eigenverantwortlich durchzuziehen und es verschwendet Energie, sich ständig zu fragen „soll ich oder soll ich nicht".

Es geht nichts über eigene Projekte und es kostet nichts einfach anzufangen.

Jeder braucht jemanden, der an ihn glaubt: Ich glaube an die Selbstständigkeit. In diesem Sinne - nicht aufhalten lassen!

Bis nächste Woche!

Cathi

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Topic Selbstständigkeit

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