Jay Graber und der Ruf des Schicksals
Die Bluesky-Chefin und der Namens-Determinismus

Am 11. Dezember 2019 kündigten der damalige Twitter-Chef Jack Dorsey und Technik-Vorstand Parag Agrawal an, Twitter werde ein unabhängiges Team von Softwareexperten finanzieren, das einen offenen und dezentralen Standard für soziale Medien entwickeln solle. Ziel sei es, dass Twitter dieses Protokoll später selbst verwenden könne. Der Arbeitstitel des Projektes: Bluesky - blauer Himmel. Der Twitter-Vogel sollte freigelassen werden.
Als die Softwareentwicklerin Jay Graber das las, spürte sie den „Ruf des Schicksal“, wie sie Jahre später schmunzelnd auf ihrem Kurznachrichtendienst Bluesky (Opens in a new window) schrieb. „Es ist ein kurioser Fall von Nominativ-Determinismus. Meine Mom nannte mich eigentlich 蓝天 (Lantian).“ Das bedeutet auf Mandarin „blauer Himmel“. „Sie wollte, dass ich grenzenlose Freiheit habe - die Möglichkeiten, die sie selbst nicht hatte“, erzählte Graber dem Magazin Forbes.
Ihre Mutter wuchs in China auf und erlebte während ihrer Kindheit die Schrecken der Kulturrevolution. Einer Zeit, in der Mao Zedongs Regime Millionen Menschen folterte und ermordete sowie weitere Millionen Menschen in Gefängnisse oder Umerziehungs- und Arbeitslager steckte. In den 1980er-Jahren floh Grabers Mutter aus China in die USA, um sich dort ein neues Leben in Freiheit aufzubauen. Auf ihrer Flucht verlor sie ihr ganzes Hab und Gut.

Aber das ist noch nicht alles: Ihr Spitzname Jay ist der englische Name eines Vogels, der auf deutsch Eichelhäher heißt. Und das alte Twitter hatte einen Vogel als Logo, bevor es Elon Musk durch ein X ersetzte. Darum haben früher Twitter manche als „Bird App“ bezeichnet.
https://bsky.app/profile/jay.bsky.team/post/3jt2xrsrwju2a (Opens in a new window)Jay erzählte dem Journalisten Kyle Chayka von der Zeitschrift The New Yorker (Opens in a new window), dass sie sich sofort angezogen fühlte von dem Projekt, das ihren Namen trug. „Wenn es kein Schicksal gibt, müssen wir es erschaffen“, sagte sie. „Man kann Dingen folgen, die synchron erscheinen.“
https://bsky.app/profile/jay.bsky.team/post/3lbd2eav4x22r (Opens in a new window)Doch es sollte noch rund anderthalb Jahre dauern, bis Jay Graber die Leitung von Bluesky übernahm und aus dem Projekt ein von Twitter/X unabhängiges gemeinnütziges Unternehmen machte. Während der Pandemie zog sie von San Francisco nach Seattle und zog Hühner groß. Sie liebt die Natur im Bundesstaat Washington. Außerdem habe sie in San Franciso fast Ihr ganzes Geld nur für die Miete ausgeben müssen, erzählte sie Chayka.
Inzwischen hat Bluesky rund 36 Millionen User:innen weltweit. Und wird als Alternative zu Elon Musks X-Hölle auch politisch immer relevanter: Kürzlich traten der ehemalige US-Präsident Barack Obama, (Opens in a new window) die frühere Außenministerin Hillary Clinton (Opens in a new window) und Ex-Vizepräsidentin Kamala Harris (Opens in a new window) der Microbloggingplattform bei. Die amerikanische Kongressabgeordnete Alexandra Ocasio-Cortez (Opens in a new window) ist schon länger auf Bluesky und hat dort mittlerweile über zwei Millionen Follower:innen.
Auch europäische Politiker:innen wie etwa EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (Opens in a new window), der österreichische Bundespräsident Alexander van der Bellen (Opens in a new window), der polnische Ministerpräsident Donald Tusk (Opens in a new window), der französische Premierminister François Bayrou (Opens in a new window), Robert Habeck (Opens in a new window) oder Annalena Baerbock (Opens in a new window) haben dort Accounts. Aber auch viele Journalist:innen, Prominente, Medien und NGOs die früher auf Twitter waren, sind mittlerweile auf Bluesky sehr aktiv.
Wer ist die inzwischen 33-jährige Frau, die Elon Musk und Mark Zuckerberg herausfordert und soziale Medien neu erfinden will? Was hat es mit ihrer Krypto-Vergangenheit auf sich? Warum kämpft sie für eine Welt ohne Cäsaren und hat Verständnis für Orca-Wale, die Boote kentern lassen? Was verbindet sie mit der Schweiz? Lest demnächst mein großes Jay Graber-Porträt in diesem Newsletter.
Es ist Teil einer größeren Recherche über Bluesky und andere Social Media-Plattformen, an der ich seit längerem arbeite. Ich ging der Frage nach, inwieweit Plattformen wie X, Meta oder TikTok mit ihren Blackbox’Algorithmen zum Erfolg antidemokratischer Kräfte beigetragen haben und wie wir Soziale Medien demokratischer machen können.