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Co-abhängig no more

Seit Jahren beobachtet Melanie, wie ihre Schwester ihre Magersucht mit Clean-Eating-Vorwänden und vermeintlichen Lebensmittelunverträglichkeiten kaschiert. Was kann sie tun?

Dear Daniel,

meine Schwester hat eine Magersucht, die sie mit Self Care, Clean Eating und Lebensmittelunverträglichkeiten kaschiert. Ich habe mehrfach versucht, sie darauf anzusprechen, ihr angeboten, sie bei der Suche nach Beratung und Hilfe zu unterstützen. Sie leugnet das und wird wahnsinnig sauer, wenn die Sprache darauf kommt. Aber ich beobachte sie jetzt schon lange, sehe, wie sie kaum etwas isst und immer dünner wird.

Ich sehe jetzt immer mehr darüber hinweg, wenn wir uns treffen, weil ich nicht will, dass sie mich komplett ausschließt und mich einfach nicht mehr sehen will, nur um dieses Thema zu meiden. Aber ein Teil von mir denkt auch: Du siehst dabei zu, wie sie vor deinen Augen zerfällt und bist zu bequem, um einzugreifen. Was kann ich tun?

Liebe Grüße,

Melanie

Liebe Melanie,

danke für deinen Brief – und oh man, was für eine schwierige und schmerzhafte Situation. Ich fühle so mit dir. Es ist so unfassbar traurig, wie viel Leid psychische Krankheiten verursachen, auch und gerade Krankheiten wie Abhängigkeit und Magersucht – sowohl für die Person, die an ihnen leidet, als auch für die Personen, die diese Person lieben. Ich habe das schon oft erlebt und jedes Mal bricht es mir das Herz.

Der genaue Begriff für dein Problem ist Co-Abhängigkeit – sie stellt sich bei fast allen Menschen ein, die viel mit Suchtkranken zu tun haben. Damit ist ein Verhalten gemeint, das die Krankheit des oder der Abhängigen ins Zentrum stellt und darauf angelegt ist, ihr oder ihm zu helfen. Oft geht dieses Verhalten mit dem Glauben einher, dass man durch das eigene Tun die Krankheit mildern oder gar heilen könnte, mit dem Glauben, dass sich der oder die Suchtkranke ändert oder gar „gesund“ wird, wenn man nur das Richtige täte: Wenn man ihm oder ihr nur genug Liebe schenkt. Wenn man die angemessenen Worte findet. Wenn es einem gelingt, aus der Krankheit für die Außenwelt ein Geheimnis zu machen. Wenn man das Trink-, Ess- oder Konsumverhalten der Süchtigen überwacht, steuert oder kontrolliert. Oder wenn man ihre Krankheit stark genug ignoriert und so tut, als wäre alles in Ordnung. Du beschreibst Ansätze dieses Verhaltens, wenn du sagst, dass du schon mehrfach versucht habest, deine Schwester auf ihr Problem anzusprechen, um sie bei der Suche nach Hilfsangeboten zu unterstützen. Du beschreibst dieses Verhalten aber auch, wenn du sagst, dass du das Thema aus Angst vor einer Einschränkung oder eines Abbruchs eures Kontakts gar nicht mehr ansprichst und dir deswegen Vorwürfe machst.

Oft geht co-abhängiges Verhalten mit dem Glauben einher, dass man die Krankheit der Angehörigen mildern oder gar heilen könnte, wenn man nur das Richtige täte: Wenn man ihm oder ihr nur genug Liebe schenkt. Wenn man die angemessenen Worte findet. Wenn es einem gelingt, aus der Krankheit für die Außenwelt ein Geheimnis zu machen. Wenn man das Trink-, Ess- oder Konsumverhalten der Süchtigen überwacht, steuert oder kontrolliert. Oder wenn man ihre Krankheit stark genug ignoriert und so tut, als wäre alles in Ordnung.

Co-abhängiges Verhalten ist völlig sinnlos, egal, was man tut, egal, was man versucht. Das ist eine schwierige Einsicht. Wenn man in ihm gefangen ist, hat man vielleicht stellenweise das Gefühl, Kontrolle über etwas zu erlangen, das sich nicht kontrollieren lässt. Doch dieses Gefühl ist eine Illusion. Das Ergebnis co-abhängigen Verhaltens ist immer nur noch mehr Leid, auf Seiten der Abhängigen und auf Seiten jener Menschen, die sie lieben und ihnen helfen wollen. Und wenn es lange genug anhält, geht es mit einer Selbstverleugnung der Co-abhängigen einher, die dazu führt, dass ihr Verhalten selbst Züge einer Abhängigkeit annimmt - einer Abhängigkeit von emotionalen Grenzsituationen und dem Schmerz, den sie verursachen. Ich vermute, dass du schon selbst zu dieser Erkenntnis gekommen bist oder zumindest auf dem Weg bist, diese Erkenntnis zu gewinnen. Ansonsten hättest du mir wahrscheinlich gar nicht geschrieben.

Am Wichtigsten für Co-Abhängige ist es, zu lernen und wirklich zu verstehen, dass sie über die Krankheit ihrer Angehörigen genauso machtlos sind wie die Kranken selbst: Du wirst deine Schwester nicht ändern können, egal, was du tust, egal, wie sehr du dich fortbildest, wie einfühlsam du bist, wie erfindungsreich, sensibel oder klug. Du kannst sie nicht ändern und du kannst ihr auch nicht helfen. Sie hat eine Krankheit, gegen die du nichts unternehmen kannst. Diese Einsicht in die eigenen Machtlosigkeit ist brutal, weil sie einen auf so konzentrierte Weise mit dem eigenen Schmerz konfrontiert, mit den eigenen Ängsten um die Person, die man liebt, und mit der Trauer für die Person, die sie einmal war. Vielleicht hilft es, wenn du dir verdeutlichst, dass sich auch deine Schwester ihre Krankheit nicht ausgesucht hat. Wenn sie Macht über ihre Krankheit hätte, würde sie selbst etwas daran ändern. Als sie ein Kind war, hat sie sicherlich nicht davon geträumt, später jeden Tag für ein unisinniges, verinnerlichtes Schönheitsideal zu leiden und zu hungern, sich selbst und den Menschen, die sie lieben, weh zu tun, und dabei langsam zu „zerfallen“, wie du schreibst.

Vielleicht hilft es, wenn du dir verdeutlichst, dass sich auch deine Schwester ihre Krankheit nicht ausgesucht hat. Wenn sie Macht über ihre Krankheit hätte, würde sie selbst etwas daran ändern. Als sie ein Kind war, hat sie sicherlich nicht davon geträumt, später jeden Tag für ein unisinniges, verinnerlichtes Schönheitsideal zu leiden und zu hungern, sich selbst und den Menschen, die sie lieben, weh zu tun, und dabei langsam zu sterben.

Alles, was du tun kannst, ist, dich um dich selbst zu kümmern und dafür zu sorgen, dass dein Verhalten und dein Leben von der perfiden Logik der Krankheit deiner Schwester nicht weiter beeinträchtigt werden. Das mag erst einmal egoistisch und hart klingen, ist aber tatsächlich deine einzige Möglichkeit, wenn du dir und deiner Schwester helfen möchtest. Wie gesagt, du kannst deine Schwester und ihr Verhalten nicht ändern. Alles, was du diesbezüglich unternimmst, führt zu keinem Ergebnis und nur noch zu mehr Leid. Aber du kannst dein eigenes Verhalten ändern – und so den Schmerz lindern, den du empfindest.

Ich finde es sehr sinnvoll, dass du aufgehört hast, Problemgespräche mit deiner Schwester zu führen, die sie selbst nicht führen möchte. Das ist ein erster, guter und wichtiger Schritt. Das bedeutet aber nicht, dass du ihre Selbsttäuschung unterstützen und ihr das Gefühl geben solltest, dass alles okay wäre oder sie nicht an einer schweren Krankheit litte, die unbehandelt in fast allen Fällen zu einem frühen Tod führt. Das heißt, wenn deine Schwester verbal oder nonverbal von dir einfordern sollte, ihre Selbsttäuschung aufrechtzuerhalten und so zu tun, als sei alles in bester Ordnung, darfst du nicht darauf eingehen. Auch wenn das zunächst einmal einfacher wäre. Du solltest ihr stattdessen klarmachen, dass du sie und ihre Krankheit siehst und sie nicht dafür verurteilst, sondern mit ihr fühlst und dir bewusst bist, wie viel Leid damit einhergeht. Das ist sicherlich eine Riesenherausforderung, aber diese Art von Ehrlichkeit ist entwaffnend. Weil du ihr so klarmachen kannst, dass du sie und ihre Probleme siehst. Weil sie die Fallen der Co-Abhängigkeit umgeht. Und weil sie wirkliche Gespräche ermöglicht. Deine Schwester wird sich dem Leid und der Logik ihrer Sucht zumindest zum Teil bewusst sein, oder zumindest stellenweise, in bestimmten Momenten der Klarheit. Anstatt ihre Selbsttäuschung zu unterstützen, kannst du ihr anbieten als urteilsfreie Gesprächspartnerin zur Verfügung zu stehen.

Deine Schwester wird sich dem Leid und der Logik ihrer Sucht zumindest zum Teil bewusst sein, oder zumindest stellenweise, in bestimmten Momenten der Klarheit. Anstatt ihre Selbsttäuschung zu unterstützen, kannst du ihr anbieten als urteilsfreie Gesprächspartnerin zur Verfügung zu stehen.

Ich weiß, dass das erst einmal wie sehr wenig klingt, aber es ist sehr viel. Vielleicht wird deine Schwester noch einige Jahre brauchen, um deine Ehrlichkeit annehmen zu können – jeder und jede Abhängige geht seinen oder ihren eigenen Weg. Vielleicht wird es aber dazu führen, dass ihr echte Gespräche über ihre Krankheit führt. Und vielleicht wird es dazu führen, dass du selbst nicht mehr so an ihrer Krankheit leiden musst und dass du ihr begegnen kannst, ohne dass du ein beständiges inneres Knirschen spürst.

In jedem Fall möchte ich dir noch einmal sagen, wie sehr ich mit dir fühle, und wie irre schwer diese Situation ist. Ich möchte dir auch sagen, dass du mit dem Problem nicht allein bist. Falls sich die nächsten Monate nichts daran verändert, würde ich dir empfehlen, eine der Selbsthilfegruppen für Co-Abhängigkeit aufzusuchen, CoDA etwa oder Al-Anon. Dort wirst du auf Menschen treffen, die ganz genau verstehen, was du durchmachst, weil es ihnen genauso geht wie dir, weil sie ähnliche Erfahrungen machen. Und diese Art der Unterstützung ist unbezahlbar. Wirklich.

Hab’s gut und pass auf dich auf, Melanie, alles Liebe!

Daniel

P.S. Die Illustration ist ein Ausschnitt aus der Arbeit "The Only Thing Greater Than ..." der großartigen Künstlerin Astrid Klein von 1980

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