"Reißen Sie Ihre inneren Mauern ein!"
Zu Beginn der Woche habe ich in der Schöpflin-Stiftung in Lörrach eine Rede zum Thema "Kein Miteinander, nirgends?" gehalten. Der Abend war Teil der spannenden Reihe "Welcome to Utopia", in der Utopieentwürfe für ein besseres Miteinander vorgestellt werden. In der Rede setze ich mich mit den inneren Mauern auseinander, die wir alle haben, damit, dass sie eine normale Reaktion auf eine sich wandelnde Welt sind - und warum wir und trotzdem von vielen von ihnen verabschieden sollten. Denn obwohl sie uns Sicherheit versprechen, sorgen sie für ihr Gegenteil. Das ist die Rede.
Guten Abend, ich stehe heute Abend hier, um mit ihnen über die Frage des Miteinanders zu reden bzw. über unser Gefühl, dass so etwas wie ein Miteinander in der heutigen Zeit nur noch schwer zu finden ist. Ich bin der Einladung, heute Abend vor Ihnen zu sprechen unter anderem gefolgt, weil eine Polemik angefragt wäre. Bekanntlich sind Polemiken ein Stilmittel der Aufklärung, ein Stilmittel jedoch, das gerne mal über die Stränge schlägt, das es im Dienste eines Diskussionsanstoßes nicht so ganz ernst meint mit dem, was es sagt. Für Schreibende also die ideale Möglichkeit, sich auszutoben. Doch wenn Sie heute Abend hier sind, um eine solche Polemik zu hören, muss ich Sie leider enttäuschen. Denn beim Schreiben der heutigen Rede ist mir aufgefallen, dass ich keine Polemik schreiben kann. Denn wenn ich schreibe, meine ich es ernst. Mit jedem Wort dieser Rede meine ich es ernst.
Ich bin, wie gesagt, hier, um über die Frage unseres Miteinanders zu sprechen und, damit verbunden, über die Frage, wie wir leben wollen. Über diese Fragen machen wir uns nur ungern Gedanken. Viel lieber gehen wir davon aus, dass es so etwas wie einen Konsens über diese Frage gibt, dass wir alle oder zumindest die meisten von uns wie selbstverständlich in dieser Frage übereinstimmen. Deswegen formulieren wir unsere Antwort auch nur selten aus und noch seltener reden wir darüber. Doch wenn wir nur einen Schritt von uns selbst und unserem Leben zurücktreten, werden wir feststellen, dass die Meinungen über die Antwort auf diese Frage sehr viel stärker divergieren, als wir glauben. Vielmehr besteht der vermeintliche Konsens meist nur in einer kleinen Gruppe von Menschen, die uns nahestehen, und wenn man genauer nachfragt, haben selbst diese Menschen ihre eigene, durch biografische, psychologische und ökonomische Voraussetzungen bestimmte Antwort auf diese Frage. Dennoch glauben wir, dass wir alle in dieser Frage übereinstimmen sollten, dass wir alle die gleiche vage, von uns selbst noch nicht einmal ausformulierten Antwort auf diese Frage haben sollten. Mit anderen Worten ist unsere Sicht auf die Welt generell etwas egozentrisch. Und dann tendieren wir dazu, schockiert davon zu sein, wenn andere Menschen diese egozentrische Sicht auf die Welt nicht teilen - und beklagen, dass es kein Miteinander mehr gibt. Hinter den Klagen über das Fehlen eines Miteinanders liegt also häufig die Entrüstung über die Begrenzungen unseres eigenen narzisstischen Horizonts. Darüber, dass andere Menschen unsere egozentrische Sicht auf die Welt nicht teilen. Mit anderen Worten bin ich heute Abend wirklich hier, um mit Ihnen über die Mauern in unseren Köpfen zu reden - auch wenn das als Thema erst einmal etwas unsexy klingt. But hear me out, wie man auf Englisch sagen würde.
Um es vorwegzunehmen: Es ist völlig normal, diese Mauern in unseren Köpfen zu haben. Das ist sogar eine völlig adäquate Reaktion auf eine Welt, die sich zumindest in unserem Land bis vor kurzem damit ausgezeichnet, dass zahlreiche äußere Mauern eingerissen wurden - konkrete Grenzmauern aus Stein und Stacheldraht, politische und ideologische Mauern, religiöse, philosophische und wirtschaftliche Mauern. Der Philosoph Jean-François Lyotard hat diesen Prozess schon in den Siebzigerjahren beschrieben. In seinem Buch „Das postmoderne Wissen“ stellte er die bekannte These vom „Ende der großen Erzählungen“ auf. Damit meinte er keine literarischen Erzählformen, sondern beschrieb einen grundlegenden Glaubwürdigkeitsverlust, unter dem unsere Gesellschaft leidet. Die „Erzählungen“, die er dabei im Auge hatte, waren die Politik und die Philosophie. Seiner Ansicht nach konnte keiner dieser beiden Bereiche noch so etwas wie eine verbindliche „Rationalität“ für sich beanspruchen. Ich habe den Eindruck, dass wir erst seit einigen Jahren wirklich erleben, was das Ende dieser großen Erzählungen im realen Leben bedeuten, dass wir sie geradezu in Echtzeit verfolgen können. Das schlägt sich in Entwicklungen nieder, von denen einige begrüßenswert und andere äußerst bedrohlich sind: dem Ende patriarchaler Selbstverständlichkeit und starrer Auffassungen von Geschlecht etwa. Aber auch dem Ende einer kollektiven Verantwortung, eines an wissenschaftlichen Maßgaben geschulten gesellschaftlichen Handelns, dem Verlust des gemeinschaftlichen Glaubens an die Demokratie. Für Lyotard stellte das Ende der großen Erzählungen auch jenes „autonome Subjekt“ infrage, das sich auf selbstverständliche Gewissheiten berufen kann und im Rückgriff auf von allen geteilten Wahrheiten zu sagen weiß, was richtig und was falsch sei. Stattdessen sah er auf sich zurückgeworfene Individuen entstehen, die zwischen vielen „kleinen Erzählungen“ ihren eigenen Weg finden müssen. Suchende „Ichs“, die dem grundlegenden Wandel der Zeit begegnen, indem sie ein Leben mit verlorenen Gewissheiten und dem Wunsch nach neuen Sicherheiten führen. Ich glaube, die meisten von uns können uns mit dieser Idee suchender Ichs identifizieren.
Es ist so simpel, das nostalgische Potential in uns anzusprechen, so simpel an unsere heimlichen und nicht ganz so heimlichen inneren Mauern zu appellieren. So simpel, jenes Gefühl der Sicherheit hervorzurufen. Doch es ist ein trügerisches Gefühl ist, das nicht für Sicherheit, sondern ihr Gegenteil sorgt - für Unsicherheit, soziale Ausgrenzung und gesellschaftliche Spaltung
Eine logische Reaktion auf den Abriss äußerer Mauern ist der Genuss einiger jener neuen Freiheiten, die damit einhergehen. Eine andere logische Reaktion ist das Errichten innerer Mauern. Wir alle tun das, die ganze Zeit. Auch wenn es uns mittelfristig nicht gut tut. Es ist die Reaktion auf eine gefühlte Hilflosigkeit angesichts jener neuen Freiheiten, angesichts des Verlusts jener „großen Erzählungen“, die lange bestimmt haben, wie wir denken, die uns gewissermaßen eine weltanschauliche Sicherheit geschenkt haben. Genauso fühlt sich das Errichten innerer Mauern an: Wie eine Frage der Sicherheit - auch wenn das Ergebnis in einem Gegenteil von Sicherheit besteht, auch wenn das Ergebnis dazu führt, dass wir uns von vielen unserer Mitmenschen immer weiter isolieren und der Welt, ob wir es wollen oder nicht, letztlich abhandenkommen.
In den vergangenen Jahren habe ich, wie einige von Ihnen vielleicht wissen, viel über das Alleinleben nachgedacht. Ein Ausgangspunkt war die Frage, ob es mir gelingen könnte, allein, das heißt ohne eine romantische Beziehung, ein gutes, ein erfülltes Leben zu führen. Ich hatte den Eindruck, dass es inzwischen mehr als wahrscheinlich geworden war, dass ich keine Partnerschaft mehr eingehen und keine Familie mehr gründen würde. Und ich war mir auch nicht mehr sicher, ob ich das überhaupt noch wollte, ob ich nicht eigentlich nach genau dem Leben gesucht hatte, das ich führte. Das führte mich zum zweiten Ausgangspunkt von „Allein“, dem Buch, das dabei entstand: Es gab so viele Menschen, die wie ich lebten. Allein in Deutschland lebten knapp 18 Millionen Menschen allein, sie machten 40 Prozent aller Haushalte aus und seit den Neunzigerjahren war ihre Zahl um 40 Prozent gestiegen. Trotz dieser aussagekräftigen Zahlen, wurde all diesen Menschen kulturell, gesellschaftlich, politisch und juristisch nahegelegt, dass sie ein defizitäres Leben führten, ein Leben, das gegen den Strich des Lebens ging, das wir alle eigentlich führen sollten. Und viele alleinlebenden Menschen hatten auch genau diesen Blick auf sich und ihr Lebensmodell verinnerlicht. Warum war das so? Wie konnten wir in einer Welt leben, in der die äußeren Mauern so weit eingerissen worden waren, dass wir das Leben führen konnten, das wir uns ausgesucht hatten - und in der wir trotzdem immer wieder gegen unzählige innere Mauern liefen, unseren eigenen und denen vieler anderer Menschen? Auch wenn Sie nicht allein leben, bin ich mir sicher, dass Sie dieses Gefühl kennen. In bestimmten Aspekten entsprechen unsere Leben und Persönlichkeiten nie ganz denen der wie auch immer imaginierten Mehrheit - wie sollten sie es auch. Wir alle kennen das Gefühl auf der anderen Seite jener inneren Mauern zu stehen.
Diese inneren Mauern können sich in den überraschendsten Momenten manifestieren. Manchmal gerät man in Situationen, bei denen man zuerst gar nicht merkt, dass man in das Labyrinth innerer Mauern anderer Menschen geraten ist. Man wird mit Projektionen konfrontiert, von denen man weiß, dass sie nicht zutreffen, und kann das zunächst nicht richtig in Worte fassen. Man hat das Gefühl, man müsse sich verteidigen, und weder weiß man wovor und vor wem noch wie. Besonders stark wird dieses Gefühl, wenn diese steinernen inneren Labyrinthe in bestimmte Debatten gegossen und als Spielball herrschender Aufmerksamkeitslogiken benutzt werden. So ging es mir etwa mit der Debatte um die „Einsamkeitsepidemie“, die seit einigen Jahren durch die Medien geistert. Ich konnte lange nicht sagen, warum mich die meisten Beiträge zu dem Thema so ärgerten. Erst später hörte ich von einer Psychologin Susanne Bücker, die seit vielen Jahren zu diesem Thema forscht, dass es sich bei der Einsamkeitsepidemie um einen Mythos handelte. Zwar sei die Zahl der an Einsamkeit leidenden Menschen in den vergangenen zwei Jahrzehnten statistisch relevant gestiegen, allerdings nur um 2,5 Prozent - und man könne nicht sicher sagen, ob sich diese 2,5 Prozent tatsächlich einsamer fühlen als früher oder ob es ihnen in Zeiten immer populärerer therapeutischer Lebensansätze nur einfacher fällt, darüber zu sprechen. Wie auch immer, diese Steigerung erfüllt kaum die Voraussetzung für das Ausrufen einer Pandemie.
Aber letztlich erheben sie nur eine Klage gegen den sozialen und medialen Wandel, den wir erleben, und gegen den Verfall sozialer Strukturen wie die der klassischen Kernfamilie.
Ich will damit nicht sagen, dass Einsamkeit kein großes Problem darstelle, im Gegenteil. Akute, langwierige Einsamkeit sorgt bei den meisten von uns für einen emotionalen Hunger, einen ernstzunehmenden seelischen Schmerz, der mit einem eklatanten Bedeutungs- und Selbstwertverlust einhergeht, mit Empfindungen von Scham, Schuld und Verzweiflung. Doch wie der norwegische Philosoph Lars Svendsen in seinem Buch „A Philosophy of Loneliness“ darlegt, wird die derzeitige Beschäftigung mit dem Thema und die gängige Beschwörung einer »Einsamkeitsepidemie« von einem grundlegenden Missverständnis bestimmt: Aus der steigenden Anzahl allein lebender Menschen in westlichen Gesellschaften wird automatisch der Schluss gezogen, dass sich immer mehr auch Menschen einsam fühlen müssen. Doch »allein zu leben und sich einsam zu fühlen«, so Svendsen, »sind sowohl in logischer als auch in empirischer Hinsicht zwei voneinander unabhängige Phänomene«. Zwar gebe es zwischen den Phänomenen des Alleinlebens und der Einsamkeit tatsächlich eine statistische Korrelation, doch deren Größe und Signifikanz werden für gewöhnlich überschätzt. Schon seit den Fünfzigerjahren rufen Soziologen und Journalisten in regelmäßigen Abständen eine »neue Einsamkeit« aus und beklagen den Verfall des traditionellen sozialen Zusammenhalts, auch wenn es dafür wenig andere statistische Nachweise als die wachsende Zahl alleinlebender Menschen gibt. Man muss nur an Bücher wie „The Lonely Crowd“ von David Riesman, „Bowling Alone“ von Robert Putnam oder „Together“ von Vivek Murthy denken. Sie alle geben vor, über Einsamkeit zu schreiben. Aber letztlich erheben sie nur eine Klage gegen den sozialen und medialen Wandel, den wir erleben, und gegen den Verfall sozialer Strukturen wie die der klassischen Kernfamilie. Doch Einsamkeit lässt sich nicht aufgrund des Fehlens einer Liebesbeziehung diagnostizieren, auch viele andere sozialen Bindungen, seien sei freundschaftlicher oder familiärer Natur, können unser Bedürfnis nach Nähe stillen. Zu implizieren, dass all diese alleinlebenden Menschen einsam sind und eine Einsamkeitsepidemie verursachen, ist schlicht absurd.
Wie gesagt, ich will nicht sagen, soziale Isolation stelle kein Problem für viele Menschen dar. Es ist weitgehend unbestritten, dass sie zu ernsten physischen und psychischen Erkrankungen führen kann. Die Harvard Grant Study, eine soziologische Langzeitstudie, die bereits seit 1938 die mentale und körperliche Gesundheit von einigen hundert Harvard-Absolventen und deren Kindern verfolgt, lässt etwa keinen Zweifel daran, dass innige zwischenmenschliche Beziehungen einer der Hauptindikatoren für ein gutes Leben sind. Menschen ohne solche Beziehungen werden häufiger krank und sterben in der Regel früher als Menschen mit einem erfüllten Sozialleben. Und wie gesagt, ich will damit auch nicht sagen, dass es nicht wichtig sei, über Einsamkeit zu sprechen. Das müssen wir unbedingt. Das Reden darüber kann dem Thema die Scham nehmen, die mit ihm verbunden ist, es kann Schmerzen lindern und Menschen, die sich einsam fühlen, zeigen, dass sie damit keineswegs allein sind.
Doch häufig verbirgt sich hinter dem Reden über die »Einsamkeitsepidemie« eben nichts weiter als die wehmütige Sehnsucht nach einer guten alten Zeit, nach traditionellen sozialen Modellen von Ehe und Familie, die sich überlebt haben. Oft steht hinter diesen Diskussionen eine politische Agenda, die unsere gesellschaftlichen Realitäten verkennt. Bezeichnenderweise schlägt keiner der wiederkehrenden Propheten des sozialen Niedergangs vor, den Kampf gegen Einsamkeit mit dem Kampf gegen Rassismus, Misogynie, Ableismus, Antisemitismus, Homo-, Trans- und Islamophobie zu beginnen, gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung von Menschen, die in Armut leben, gegen all die strukturellen Phänomene der Ausgrenzung, die jeden Tag und in großem Maßstab soziale Isolation produzieren. Das sind die wirklichen Einsamkeitsmaschinen in unserer Gesellschaft. Das sind die Mittel, mit denen wir im Namen jener imaginierten Mehrheit unfassbar vielen Menschen sagen, ihr gehört nicht dazu, euer Leben ist nicht so viel wert wie unseres. Doch die Antwort der mit großer Geste Warnenden liegt fast immer in der Beschwörung der Magie der Kernfamilie. Für sie ist Einsamkeit immer nur eine pathologische Folge des gesellschaftlichen Wandels.
Es ist so simpel, das nostalgische Potential in uns anzusprechen, so simpel an unsere heimlichen und nicht ganz so heimlichen inneren Mauern zu appellieren. So simpel, jenes Gefühl der Sicherheit hervorzurufen - ein Gefühl, und daran möchte ich Sie an dieser Stelle erinnern, das ein trügerisches Gefühl ist und nicht für Sicherheit, sondern ihr Gegenteil sorgt - für Unsicherheit, soziale Ausgrenzung und gesellschaftliche Spaltung.
Wie Sie vielleicht bemerkt haben, sind wir über den Umweg der Einsamkeitsepidemie wieder bei der Eingangsfrage des Miteinanders angekommen, bei der Frage, wie wir miteinander leben wollen - und bei einem zentralen Reizthema derzeitiger politischer Debatten. Vielleicht hatten einige von Ihnen schon Angst davor, dass die Sprache genau darauf kommen würde – und das tut es jetzt auch. Lassen Sie uns über die sogenannte „Identitätspolitik“ reden. In der jüngeren Vergangenheit haben verschiedene Gruppen unserer Gesellschaft Diskussionen angestoßen, die gesellschaftlich den Blick auf genau die von mir genannten Einsamkeitsmaschinen lenken. Meistens sind es jüngere Menschen, die das mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, namentlich den sozialen Medien, tun. Dabei sind extrem wichtige soziale Bewegungen in Gang gebracht worden. Neuere feministische Diskurse gehen stärker denn je gegen Misogynie an, junge Menschen, die wiederholt zu Opfern rassistischer Anfeindungen und Übergriffe werden, kämpfen mit einer neuen Selbstverständlichkeit gegen Rassismus, Menschen mit Behinderungen gegen Ableismus, queere Menschen gegen Homo- und Transphobie.
Diese Bewegungen haben einen überraschenden gesellschaftlichen Gegenwind erfahren, häufig sogar einen regelrechten Hass - und zwar nicht von jenen rechten Randgruppen, von denen es man erwarten würde, sondern gerade von der Mitte der Gesellschaft. Es wurde ihnen vorgeworfen, dass sie zu wütend seien und sich nicht an die gesellschaftlichen Spielregeln hielten. Dass es ihnen nicht um politische Sachargumente gehe, sondern nur um moralische Zugehörigkeit. Dass sie keine konkreten Lösungsangebote machen würden. Dass sie in Wahrheit keine Gleichheit herstellen, sondern letztlich nur Unterschiede festigen wollten. Dass sie andere Leute aus Diskursen ausschlössen und Separatismus betreiben. Und - und das ist mein liebstes in dieser Reihe offensichtlich ziemlich absurden Argumente - dass vor allem ihnen der politische Aufstieg des rechten Rands zu verdanken sei, denen wir in Westeuropa und den Vereinigten erlebt haben, dass sie das Gleichgewicht der politischen Mitte gestört und so als quasi berechtigte „Gegenreaktion“ Menschen mit faschistoidem Gedankengut auf den Plan gerufen hätten. Augenscheinlich gab es diese vorher nicht.
Ich möchte und kann an dieser Stelle nicht auf alle diese Argument gegen die sogenannte „Identitätspolitik“ eingehen. Ich möchte vor allem betonen, dass all diese Gruppen, von denen hier die Sprache ist, sich nicht aus Selbstzweck als Minderheiten definieren - sondern weil sie in einer Gesellschaft leben, in der sie bereits als solche definiert werden und zwar als zweitrangige Minderheiten. Dass sie tagtäglich mit jenen Labyrinthen innerer Mauern einer imaginierten Mehrheit konfrontiert werden. Dass sie tagtäglich aus dem gesellschaftlichen Spiel, an dessen Regeln sie sich halten sollen, ausgegrenzt werden. Dass sie tagtäglich jener Menschlichkeit beraubt werden, die der imaginierten Mehrheit zugestanden wird. Zu behaupten, dass sie letztlich nur moralisieren und Separatismus betreiben würden, ist geradezu grotesk. Denn, wie all die von mir genannten Argumente gegen das Aufbegehren dieser Gruppen zeigen, ist es jene imaginierte Mehrheit, die seit jeher diesen moralisierenden Separatismus betreibt – und nun darum zu kämpfen scheint, ihn ohne Widerstand auch weiterhin betreiben zu dürfen.
In den Worten der amerikanischen Lyrikerin und Essayistin Audre Lorde gründe sich unser zukünftiges Überleben als Gesellschaft darauf, dass es uns gelinge, gleichberechtigt miteinander umzugehen.
Es gibt politische und ökonomische Gruppen, die ein ganz konkretes Interesse an einer gesellschaftlichen Spaltung haben, die entlang der Grenzlinien dieses Separatismus verläuft. Wir leben in einer Zeit, in der eine Pandemie die neoliberale Umverteilungsmaschine, die für viele unserer sozialen und ökologischen Notlagen verantwortlich ist, noch weiter vorangetrieben hat. Während die Mehrheit der Menschen ärmer geworden ist, gelang es den Reichsten der Welt, von den Ereignissen zu profitieren und ihre Vermögen in einst unvorstellbare Höhen zu treiben. Wir ignorieren, dass aufgrund der Politik dieser Umverteilungsmaschine immer mehr Menschen in andere Teile der Welt flüchten müssen, dass überall auf der Welt die Wälder brennen, dass der Regenwald weiter in Rekordgeschwindigkeit dezimiert wird und der Ansicht der meisten Klima-Forschenden nach jene gefürchteten Kippmechanismen eingesetzt haben, die dazu führen, dass die Erderwärmung mit ihren Extremwetterlagen nicht mehr aufzuhalten ist.
Wie gut diese Strategie der ablenkenden Spaltung funktioniert, zeigen zwei Beispiele aus anderen Ländern. Eine Gruppe der ältesten und reichsten Männer der Vereinigten Staaten sorgt gerade dafür, dass Frauen nicht mehr frei über ihren Körper verfügen können - um mit rechtsnationaler Klientelpolitik vermeintliche Volksnähe zu signalisieren und weiterhin freie Bahn für den Raubbau an der Umwelt und der Demokratie ihres Landes zu bekommen und ihre Superreichen-Buddies auch weiterhin mit Steuerentlastungen und Dumpinglöhnen zu beschenken. In Moskau beklaut ein rechtsnationaler Kleptokrat das Land seit vielen Jahren, verteilt die Milliarden unter sich und seinen Vasallen und lenkt die Bevölkerung erfolgreich mit Hass auf queere Menschen und einen angeblich „verweichlichten“ Westen. Dann zieht er unter anderem im Namen eines grotesken Männlichkeitskults in den Krieg und überfällt ein europäisches Land. Eigentlich sollte klar sein, wo die Demarkationslinien unseres Miteinanders und unseres Protests verlaufen sollten.
In den Worten der amerikanischen Lyrikerin und Essayistin Audre Lorde gründe sich unser zukünftiges Überleben als Gesellschaft darauf, dass es uns gelinge, gleichberechtigt miteinander umzugehen. Ich bin mir sicher, dass sie recht hat. Es seien nicht die Unterschiede, die uns lähmen, so Lorde, sondern unser Schweigen.
Ich glaube, dass Sie alle diese inneren Mauern kennen, von denen heute die Rede war. Wir alle sind mit alten Strukturen der Unterdrückung sozialisiert worden und haben diese verinnerlicht. Diese Strukturen sind erstaunlich resistent gegen den sozialen Wandel, den wir glücklicherweise erleben durften. Es sind Strukturen, von denen letztlich nur einige wenige in unserer Gesellschaft profitieren. Gesellschaftlicher Wandel müsse sich nicht nur gegen die repressiven Situationen, richten, sondern gegen jene Anteile der Geschichte gesellschaftlicher Unterdrückung, die tief in jedem von uns eingepflanzt seien, meinte Lorde. Wenn wir, mit anderen Worten, zusammenleben wollen, müssen wir auch jene inneren Mauern, die wir bewusst oder unbewusst durch den Alltag tragen, einreißen. Und in diesem Sinne möchte ich Sie bitten: Reißen Sie Ihre inneren Mauern ein! Sie werden ein zufriedeneres Leben führen - und vielleicht werden Sie feststellen, dass es viel mehr Miteinander gibt, als Sie denken - überall.