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Dear Daniel,

vor etwa zwei Monaten spürte ich einen leichten Druck am Bauch, immer wenn ich lag oder saß. Es fühlte sich an, als sei da etwas, was da nicht hingehört. Besorgt begann ich, mich jeden morgen abzutasten, in der festen Annahme, etwas Schlimmes zu finden. Mein Hypochonder-Gehirn malte mir in den buntesten Farben schlimme Diagnosen aus. Schließlich ging ich zu meinem Hausarzt. Er unterzog mich einem umfangreichen Check-up. Nichts, alle Werte super.

Wenig später stellte ein befreundeter Osteopath fest, dass sich ein Bauchmuskel verhärtet hatte und das über lange Zeit hinweg. Er fragte mich, ob ich den Bauch häufig einzöge. Als ich darüber nachdachte und anfing, mich selbst zu beobachten, fiel mir auf, dass ich das eigentlich immer tue: Seit ich ein Teenager bin ziehe ich meinen Bauch ein, obwohl ich eigentlich schlank bin und nur einen kleinen Bauchansatz habe. Ständig unter Spannung.

Ich bin ein schwuler Mann Mitte 30, weiß um den internalisierten male gaze, die Toxizität überhöhter Körperbilder. Dennoch habe ich nicht gemerkt, wie sehr sich das in meinen Körper eingeschrieben hat. Loslassen fällt mir sprichwörtlich schwer. Wie kann man gut zu seinem Körper sein? Jenseits von Body-Positivity-Trends und Werbeversprechen einen freundlichen Blick auf sich selbst aufbauen?

Alles Liebe, T. (ein Mann unter Spannung)

Lieber spannungsgeladener T.,

Dein Brief hat mich sehr berührt, extrem berührt. Vielleicht, weil er Dinge in mir anspricht, die ich selbst weitgehend vor mir versteckt halte. Dinge, die, glaube ich, viele von uns versteckt halten. In unsere Körper sind die Spuren unseres Fühlens und Denkens eingeschrieben, unserer Schmerzen und unserer psychischen Verdrängung – und oftmals zeigen sie uns etwas, das wir unter keinen Umständen wissen wollen.

Zunächst einmal möchte ich dir sagen, wie leid es mir tut, dass du mit dem Schmerz der von dir beschriebenen Anspannung leben musst, der körperlichen und seelischen Anspannung, die dich wahrscheinlich schon so lange begleitet, dass er dir gar nicht mehr bewusst ist. Zumindest geht es mir so. Ich werde mir dieser Anspannung nur bewusst, wenn ich in Situationen gerate, in denen ich den Blicken anderer Menschen nicht ausweichen kann, wenn ich für Auftritte oder Fototermine die Kompressionskleidung aus dem Schrank oder dem Koffer hole, wenn ich mit Männern flirte oder so berührende Briefe wie deine lese.

Genauso wenig wie wir unsere Körper nicht von unseren Psychen trennen können, können wir ihn von der Gesellschaft, in der wir leben, trennen. Einen Körper zu haben, den man nicht nach den Vorstellungen eines gesellschaftlichen Blicks formen und verändern musst, ist ein Privileg, dass in unserer Kultur lange nur älteren, weißen heterosexuellen Männern vorbehalten war. Das mag zunächst einmal komisch klingen, aber das ist eine gesellschaftliche Realität und eine der wenig beachteten Seiten des patriarchalen Systems, in dem wir leben. Daran ändert sich nur langsam etwas, und wie du andeutest, hat daran auch die eigentlich so wichtige Body-Positivity-Bewegung nicht viel geändert. Für alle anderen von uns heißt das, dass wir unsere unperfekten Körper nicht stolz zur Schau stellen können, sobald die Temperaturen sommerlich werden. Es heißt, dass wir mit internalisierten Ansprüchen und Blicken auf unsere Körper leben lernen müssen, die nicht unsere eigenen sind. Dass wir entweder permanent damit beschäftigt sind, unsere Körper nach Maßgabe fremder Blicke zu formen, oder mit der Scham leben lernen müssen, die wir für das Äußere unserer Körper empfinden oder - und eigentlich meistens - beides. Das alles sind Prozesse, die uns meistens nicht bewusst sind. Sie führen ein Eigenleben in unserem Inneren, das sich nur manchmal zeigt, etwa in einer Situation, wie du sie beschreibst. Wir können noch so sehr versuchen, uns glauben zu machen, dass wir unsere Körper akzeptieren, sie so lieben, wie sie sind. Es ist schwer, gegen diese unbewussten Prozesse anzukommen. Einigen von uns gelingt das besser, anderen weniger gut.

Was ich damit sagen will: Dein verhärteter Bauchmuskel stellt eine adäquate Reaktion auf die Gesellschaft dar, in der wir leben. Er ist nicht die Einbildung eines überstrapazierten Geistes, nicht das Ergebnis einer im psychoanalytischen Sinn hysterischen Fantasie oder einer angestrengten, krankhaften Psyche. Ich hoffe sehr, dass du dich dafür nicht verurteilst und dich dafür nicht auch noch schämst. Sehr wahrscheinlich tust du das, doch das musst und darfst du nicht. Es gehört zur Logik des patriarchalen Systems, dass wir, wenn wir seinen unmenschlichen Ansprüchen nicht genügen, auch seine Urteile über uns verinnerlichen.

Ich finde es sehr beeindruckend, dass du deine Sorgen ernst genommen und dich mit dem Gang zum Arzt und dem Gespräch mit dem befreundeten Osteopathen und dem Schreiben dieses Briefes um dich gekümmert hast. Schon das gelingt vielen von uns nicht, schon das ist eine Leistung. Es ist eine Art erkämpfter Selbstfürsorge, die ich zwischen den Zeilen deines Briefes lese. Und ich habe den Eindruck, dass diese Selbstfürsorge eine gute Grundlage für den Weg und die innere Arbeit, die vor dir liegen, darstellt. Ich glaube, dass das Pflänzchen in dir ist, dass du pflegen solltest.

Doch wie kann man dieses Pflänzchen pflegen? Du hast danach gefragt, wie man gut zu seinem Körper sein kann. Und ich muss dir sagen, dass ich das nicht weiß oder dass ich zumindest keine befriedigende Antwort darauf kenne. Es ist etwas, an dem ich selbst seit vielen Jahren arbeite, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Die offensichtlichste und wahrscheinlich auch schwerste Aufgabe, die dir vor dir liegt, besteht natürlich darin, zu lernen, deinen Bauch nicht mehr einzuziehen. Auch wenn das vielleicht erst einmal lustig klingt. Deiner Beschreibung nach hast du dieses Einziehen schon so lange habitualisiert, dass das eine großen Herausforderung darstellen dürfte. Ich persönlich würde dir raten, dich deswegen einer verhaltenstherapeutischen Behandlung zu unterziehen. Für solche „konkreten“ Probleme und für die Änderung lang gehegter Gewohnheiten ist das oft eine sehr gute Behandlungsmöglichkeit.

Doch natürlich ist das nicht alles. Meinem Eindruck nach sind unsere inneren Körperbilder - und die sind es natürlich, die dein Verhalten prägen - eine so komplexe und psychisch überdeterminierte Angelegenheit, dass sie sich nicht einfach ablegen lassen, auch in Therapien nicht. Ich persönlich glaube, dass bei der Veränderung von Körperbildern auch und vor allem eine Arbeit am Körper hilft. Allerdings keine Arbeit, die nach außen gerichtet ist oder der gar die Fantasie einer Formung des Körpers zugrunde liegt, sondern eine Arbeit am Körper, die sich nach innen richtet. Eine Arbeit, die in den Fokus rückt, wie es sich anfühlt, in und mit unserem Körper zu leben, wie es sich anfühlt, seinem Körper den Terror jener überhöhten Körperbilder anzutun, mit denen wie tagtäglich konfrontiert sind, und wie sich das Wohnen in unseren Körpern anfühlt, wenn wir uns selbst mit Mitgefühl begegnen.

Das kann etwa in körperbasierten Therapieformen passieren, dem Qigong etwa, das Atem-, Meditations- und Bewegungsübungen vereint, der Gestalttherapie oder der tiefenpsychologisch orientierten Funktionellen Entspannung. Ein Freund von mir, der seit Jahren an chronischen Schmerzen leidet, hat sehr gute Erfahrungen mit der Grinberg-Methode gemacht, die auf der Basis von Berührungs- und Wahrnehmungsübungen funktioniert. Aber auch eine regelmäßige Yoga-Praxis kann dabei helfen. Letzteres ist mein Weg durch dieses steinige, herausfordernde Gelände. All das sind Möglichkeiten, den inneren Blick darauf zu lenken, worauf es ankommt - nicht darauf, wie unsere Körper beim Blick im Spiegel oder im fantasierten Blick anderer Menschen aussehen, sondern darauf, wie es ist, unsere Körper zu bewohnen. Und zu verstehen, dass unsere Körper, genauso wie unsere Psychen, immer unperfekt sind, immer versehrt - weil es unsere Körper sind, Körper, in und mit denen wir leben. Und dass in ihrer fehlenden Perfektion häufig die größte Schönheit liegt.

Ich wünsche dir von ganzem Herzen alles Gute auf deinem Weg. Du bist nicht allein.

Alles Liebe, Daniel

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