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TEXTE VOM VORHANDENSEIN

TEIL 8: VOM VERÄNDERN

Im letzten Text habe ich bereits versucht ein wenig von der Schwierigkeit zu erzählen die richtige Reiselektüre bzw. den passenden Reisesoundtrack auszuwählen. Wenn Du diesen Text noch nicht gelesen hast, schau gerne mal hier: VOM ERINNERN (Öffnet in neuem Fenster) - der folgende Text ist nämlich gewissermaßen die Fortsetzung davon. Ich habe am Ende des Textes geschrieben, dass ich mich für meine letzte Reise u.a. für einen Gedichtband von Allen Ginsberg entscheiden habe und dass mir ein Gedicht besonders und aufs neue aufgefallen und beim Lesen nahe gegangen ist.

Das Gedicht heißt "The Change - Kyoto-Tokyo Express"

Das Gedicht schrieb Allen Ginsberg wohl im Juli 1963 am Ende einer längeren Reise, in deren Verlauf er in zwei Jahren durch 14 verschiedene Länder gereist war. Auf der Suche nach sich selbst, nach Spiritualität, Erleuchtung und Bestimmung verbrachte er längere Zeit in Indien und reiste von dort schließlich weiter nach Japan, wo dieses Gedicht entstand. Es gibt eine interessante Dokumentation über Teile dieser Reise, falls Du Dich ein bisschen für den Kontext interessierst:

https://www.youtube.com/watch?v=Cl0iH7xUENo (Öffnet in neuem Fenster)

Ich sitze also am Strand und lese dieses Gedicht, das ich eigentlich schon kenne und lese es mit neuen Augen und beinahe so, als ob ich es noch nie gelesen hätte. Manchmal ist das ja so, dass man etwas liest, das in dem Moment nichts mit einem macht, nur um sich dann Jahre später bei der erneuten Lektüre darüber zu wundern, wie einem das beim ersten Mal nicht auffallen, oder wichtig erscheinen konnte. Über ein Gedicht und dessen Inhalt zu schreiben und zu erzählen, ist immer ein bisschen schwierig. Fast wie der Versuch jemandem ein Gemälde zu erklären, das die andere Person aber nie gesehen hat. Ich glaube, Gedichte muss man selbst lesen. Erleben. Sie müssen einem geschehen. Widerfahren. Sich öffnen und einen hineinziehen. Oder man muss sie gesprochen hören. So oder so erfordern sie Zeit und Aufmerksamkeit. Gedichte sind eine Art Achtsamkeitsübung könnte man vielleicht sagen.

Aber ich versuche trotzdem mal zwei Aspekte dieses Gedichts herauszugreifen, über die ich beim Lesen und danach nachgedacht habe:

Veränderung ist manchmal schmerzhaft und ermüdend. Vieles Vertraute geht verloren und dass es automatisch durch Neues und Gutes, vielleicht sogar Besseres ersetzt wird, kann einem niemand versprechen. Ich jedenfalls kenne solche Momente, in denen klar wird, dass es "so" nicht weiter geht. Dass da etwas ist, dass sich Bahn brechen möchte, dem ich aber noch nicht genug vertraue, um das Alte loszulassen und vor dem ich mich vielleicht auch ein bisschen fürchte. Manchmal suggeriert ja das Gewohnte irgendwie Sicherheit, selbst wenn es nervig und sogar schmerzhaft ist, weil ich mich immerhin darauf einstellen kann und es deshalb der notwendigen Veränderung vorziehe. Oft viel zu lange. Im Rückblick erscheint mir das oft albern und unverständlich, warum dieser und jener Prozess so lange dauern musste. Aber den Fuß im Sturm auf die Wasseroberfläche zu setzen, scheint eben gefährlich und unvernünftig, solange ich noch nciht weiß, ob die Oberfläche trägt, um mal ein biblisches Bild zu bemühen.

Das Gedicht von Allen Ginsberg scheint mir auch kein Zielpunkt zu sein. Kein Ankommen. Kein "endlich gefunden, was ich auf der Reise gesucht habe." Eher so etwas wie ein neuer Startpunkt zu einer neuen Reise. Vielleicht wie eine Wegmarkierung am Rand, die zeigt, dass man hier war.

In meinem Buch "Alles wird ein bisschen anders" (Öffnet in neuem Fenster) habe ich versucht dem auch in meinem Schreiben, in meiner Möglichkeit mich auszudrücken, in meiner Sprache, Raum zu geben. Ich habe versucht mich bewusst mit Sprachverboten, mit denen ich aufgewachesen bin, auseinanderzusetzen und Worte, "die man nicht sagt" ganz selbstverständlich zu verwenden. Auch und gerade hinsichtlich der eigenen Körperlichkeit, des Vorhandenseins als menschliche Kreatur aus Fleisch und Blut und auch im Hinblick auf Sexualität im Allgemeinen und der eigenen im Besonderen. Mit meinem guten Freund Sergej Falk habe ich einige dieser Texte verfilmt und vorgelesen. Das Video findest Du hier:

https://www.youtube.com/watch?v=gYCQEKq7SFY (Öffnet in neuem Fenster)

Auch diese Themen finde ich im Gedicht "The Change". Allen Ginsberg hat in seinem Schreiben und Auftreten schon früh seine Homosexualität öffentlich gemacht und seine Sexualität und seine Körperlichkeit auch in seinen Gedichten oft thematisiert. Was in den USA der 50er und 60er Jahre vorsichtig formuliert für Irritationen sorgte. Als Beispiel könnte man da nennen, dass sein erster Gedichtband "Howl and other Poems" Gegenstand einer Gerichtsverhandlung war, wo darüber entschieden werden sollte, ob die Gedichte wegen Unmoral und Obszönität verboten werden sollten.

In "The Change" verhandelt er auch seine eigene Unsicherheit hinsichtlich seiner Sexualität und Körperlichkeit und scheint diese Scham und von außen auferlegten Betrachtungsweisen gegen eine neue Freiheit einzutauschen, oder das zumindest anzustreben. Da sind die Liebenden, die zu Gespenstern wurden und irgendwie auch der Glaube, dass diese Suchbewegung nach dem eigenen ich gar nicht zu trennen ist von der Suche nach dem Großen Geistwesen, Gott, oder wie auch immer man das nennen möchte. Damit kann ich sehr viel anfangen. Ich habe Anfang dieses Jahres ein Gedicht geschrieben, das ganz ähnliche Themen verhandelt und interessanterweise auch ähnliche Bilder verwendet. Es heißt "Als wir Geister waren" und Du kannst es hier nachlesen:

ALS WIR GEISTER WAREN

Wir wurden zu Geistern,

sobald wir durch die Tür waren

Unsere Körper abgegeben

bis wir eines Tages vergaßen

sie von der Garderobe wieder

mit zurück nach Hause zu nehmen

Als wir Geister waren

hatten wir das diffuse Gefühl

etwas verloren zu haben.

Aber nicht zu sein.

Eingesperrt in konturlosen Körperzellen

Ohne Schweben, oder Durch-Wände-Gehen

Oder hinter Gründe zu blicken

Ab Grund sind wir menschlich.

Süchtig nach sehnen und gesehnt werden

und angesehen und aufgeblickt

und gemeint sein

und erkannt endlich

Hüllenlose Höllendosis

Selbstkastration

um sich dann für Hochzeitsnächte

neue Geschlechtsteile wachsen zu lassen.

Salamander-Schwanz-Glaube ameisenvölkisch

Kollektiv-Gehirn-gesteuert.

Und eingeredete Herzhohlräume

in der Form von Gott,

der keine feste hat

Sprechen Selbstanklage in der Sprache vergangener Tage

Wir waren Geister-ruach wabernd

über den leeren Wassertropfensummen

unseres Vorhandenseins.

Vor Spiegeln stehend

sind wir nicht durchsichtig,

aber sehen unser Gesicht

nicht richtig

Körpergedächtnis intakt,

aber tanzloser Stolperrhytmus

Wer das Herz leugnet fällt

nicht einfach aus der Zeit

Als wir Geister waren

hatten wir keinen Namen,

nur eine vierstellige Zahl

verschiedener Scham-

Schattierungen

wie weird wir werden, wenn wir weinen

//

Wir sahen uns an,

als wir Gesichter bekamen

und uns Worte wuchsen

Unsere kippendunstförmigen Handflächen

verfestigten sich zaghaft beim Aufeinderlegen

und wir zu neugierig, um weiter

Angst vor dem Auflösen

und auseinander geblasen werden

zu haben.

Wir werden alle verwandelt werden

in fassbare Formen und antastbar geworden

hätte ich heute gerne hundert Hände,

um dich überall gleichzeitig zu berühren

(mir dein Herz fassen)

und mich genauso und meins.

wie weich wir werden, wenn wir weinen

Lippenlose Flüsterstimmen,

die sie für Hirngespinste halten

waren am Anfang nur ein Wort

und inkarnieren unaufhaltsam

Dieses Gedicht ist Teil von einem neuen Projekt, von dem ich an dieser Stelle demnächst mehr erzählen darf und worauf ich mich schon sehr freue.

Wenn Du das komplette Gedicht von Allen Ginsberg nachlesen magst, findest Du es hier: The Change- Allen Ginsberg (Öffnet in neuem Fenster)

Und ich kann auch den zweisprachigen Band "Lyrik/Poetry" sehr empfehlen, in dem das Gedicht ebenfalls mit deutscher Übersetzung zu finden ist: Lyrik/Poetry von Allen Ginsberg (Öffnet in neuem Fenster)

Liebe Grüße und bleib neugierig <3

Marco

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