Bau dir deinen Gedächtnispalast!
Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: Wie du dir Dinge besser merkst – und was dabei im Gehirn passiert.
In der aktuellen Serie dreht sich alles um eine Erkenntnis: Denken findet nicht nur im Gehirn statt. Wer besser lernen, arbeiten und kommunizieren will, sollte wissen, wo noch. Hier findet ihr alle bisherigen Ausgaben dieses Newsletters (Opens in a new window).
In der achten Klasse las uns meine Biologie-Lehrerin Frau Fischer eine Reihe von 30 bis 40 Begriffen vor, die nichts miteinander zu tun hatten. Die Aufgabe war simpel: Wir sollten sie uns merken. Als sie fertig war, sollten wir uns einen Zettel nehmen und so viele der Begriffe aufschreiben, wie wir konnten. Manche waren darin besser als andere, aber niemand schaffte es, alle Wörter zu notieren. Es blieben große Lücken.
Dann wiederholten wir das Spiel mit neuen Begriffen. Aber dieses Mal gab sie uns vorher einen Tipp. Wir sollten uns einen Ort vorstellen, beispielsweise unser Zuhause. Und dann sollten wir uns bei jedem Begriff vorstellen, dass er an dort auftaucht. Wenn Frau Fischer beispielsweise das Wort „Ente“ vorlas, sollten wir uns die Ente im Flur vorstellen. Wenn sie das Wort „Blume“ vorlas, sollten wir uns vorstellen, wie eine Blume neben der Ente auf einer Kommode steht. So sollten wir die gesamte Wohnung mit den Gegenständen füllen, die Frau Fischer uns vorlas. Und wenn wir die Begriffe notieren sollten, sollten wir einen imaginären Rundgang durch unser Zuhause machen.
Das Ergebnis: Wir erinnerten uns an deutlich mehr Begriffe als zuvor. Und das war kein Zufall. Wenn Begriffe oder Informationen mit einem uns gut bekannten physischen Ort verknüpft werden, können die Informationen dauerhaft in das Gedächtnis integriert werden. Die größten Gedächtniskünstler:innen der Welt arbeiten mit dieser Methode. Selbst Sherlock Holmes, und der muss es ja wissen. Wahrscheinlich kennt ihr sie selbst auch, sie wird oft als „Gedächtnispalast“-Strategie (oder Loci-Methode) bezeichnet. Heute geht es darum, warum diese Methode so effektiv ist, was dabei im Gehirn passiert (im Gegensatz zum „normalen“ Erinnerung ohne diese Hilfestellung) und wie sie dir im Alltag helfen kann.
Wir denken räumlich – und zwar ständig
Fangen wir mit einer guten Nachricht an: Die besten Gedächtniskünstler:innen der Welt haben nicht etwa einfach ein besseres Gehirn als wir Normalos. Das hat Eleanor Maguire herausgefunden. Sie ist Professorin für kognitive Neurowissenschaften am University College London und hat die Gehirne von Gedächtnis-Expert:innen mit denen verglichen (Opens in a new window), die keine sind. Sie sagt: „Wir fanden heraus, dass überlegene Gedächtniskünstler eine räumliche Lernstrategie anwenden, die Gehirnregionen wie den Hippocampus anspricht, die für das Gedächtnis und insbesondere für das räumliche Gedächtnis entscheidend sind.“ In den Gehirnen der Gedächtnis-Champions waren Regionen, die mit dem räumlichen Gedächtnis und der Navigation in Verbindung gebracht werden, sehr aktiv, während diese Bereiche bei normalen Menschen viel weniger aktiv waren.
Dahinter steckt eine Fähigkeit, die wir alle haben: sich zurechtfinden an Orten, an denen wir schon einmal waren. In unserem Gehirn gibt es regelrecht Karten (Opens in a new window), die unsere Umgebung abbilden. Bei Ratten, die durch ein Labyrinth liefen, konnte man nur anhand der Aktivität im Gehirn voraussagen, wo sie sich gerade befinden. Das allein ist schon beeindruckend, finde ich.
Die Forschung hat aber herausgefunden (Opens in a new window), dass wir alle das eingebaute Navigationssystem des Gehirns nutzen, um mentale Karten zu erstellen. Also nicht nur von physischen Orten, sondern auch von dem Raum der Ideen. Damit widmen wir die Navigations-Funktion unseres Gehirns um. Das zeigt sich sogar in der Sprache, die wir verwenden (Opens in a new window):
Die Vergangenheit liegt „hinter“ uns, die Zukunft „vor“ uns. „Die da oben“ sind Menschen, die uns „über“-legen sind. Wir müssen langsam mal „voran“ kommen. Oder wir machen kleine Schritte in die richtige Richtung.
Wir erinnern uns besser an konkrete Orte als an Abstraktes
Dies sind keine bloßen Redewendungen, sondern Hinweise darauf, wie wir die Welt um uns herum verstehen und mit ihr umgehen. Warum machen wir das? Wir sind schlichtweg viel besser (Opens in a new window) im räumlichen konkreten Denken als im abstrakten Denken. Abstraktes Denken kann an sich schon schwierig sein, aber glücklicherweise kann es oft auf räumliches Denken übertragen werden. So kann das räumliche Denken das abstrakte Denken ersetzen – oder zumindest unterstützen.
Wissenschaftler:innen wissen schon länger (Opens in a new window), dass der Hippocampus eine zentrale Rolle bei unserer Fähigkeit spielt, uns im physischen Raum zurechtzufinden. In jüngerer Zeit haben Forscher:innen gezeigt, dass diese Region ganz allgemein an der Organisation unserer Gedanken und Erinnerungen beteiligt ist: Sie bildet sowohl abstrakte als auch konkrete Räume ab. Als ich mir also in der achten Klasse die Begriffe von Frau Fischer merken sollte und mir mein Zuhause vorgestellt habe, wurden in meinem Gehirn beim Aufschreiben der Begriffe diejenigen Regionen mit aktiviert, mit denen mein Gehirn mein Zuhause abbildet. Und darin ist mein Gehirn (und eures) ziemlich gut.
Unsere Erinnerungen sind oftmals mit einem Gefühl für den physischen Ort verbunden, an dem die ursprüngliche Erfahrung stattfand. Wenn wir uns zum Beispiel einen Podcast nochmal anhören, fällt uns wahrscheinlich spontan der Ort ein, an dem wir die Worte zum ersten Mal gehört haben. Studien zeigen: Wenn wir für eine Klausur lernen, schneiden wir bei der Klausur besser ab, wenn wir sie am gleichen Ort absolvieren, an dem wir für sie gelernt haben. (Auch, wenn das in der Praxis eher selten vorkommt.)
Können wir alle Gedächtnisprofis werden? Durchaus.
Dass unser Gehirn sich so oft auf das räumliche Denken verlässt, wenn wir uns erinnern wollen, könnte ein Phänomen erklären, dass Forscher:innen schon lange untersuchen: kindliche Amnesie. Wir können uns an die ersten Jahre unseres Lebens kaum erinnern (auch, wenn Manche das immer wieder behaupten). Die These (Opens in a new window): Sehr kleine Kinder sind noch nicht in der Lage, sich aktiv durch den Raum zu bewegen. Deshalb fehle ihnen ein geistiges Gerüst, auf dem sie ihre Erinnerungen aufbauen können. Erst, wenn sie anfangen zu krabbeln, die ersten Schritte machen, können sie ihre Erlebnisse ordentlich zu strukturieren.
Wobei können uns diese Erkenntnisse helfen? Bei so ziemlich allem, was wir uns merken wollen: Wenn Schüler:innen sich Vokabeln merken sollen, wenn wir als Trauzeuge eine Rede halten sollen, wenn wir als Arzt Symptome für Krankheiten kennen sollen oder wenn wir uns einfach nur merken wollen, was wir noch einkaufen müssen (und gerade keinen Zettel parat haben). Und wie sehr kann uns die Gedächtnis-Palast-Methode dabei helfen? Sehr. Wir brauchen aber etwas Zeit. Das zeigt eine Studie von der Radboud-Universität in den Niederlanden.
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