Lieber Kai,
Du kennst doch sicherlich den Satz "Dafür bin ich zu alt"? Es ist ein wunderbar deutscher Satz, durch den die Unlust, etwas Neues zu erlernen oder zu verstehen nicht damit begründet wird, dass mann (sic!) keine Lust oder kein Verständnis dafür hat, sondern sich gemütlich auf seinem rhetorischen Ausziehsessel zurücklehnt und sein eigenes Alter als Grund vorschiebt.
Diese Argumentation zu nutzen ist ein Anrecht, was sich ältere Menschen (häufig, aber nicht nur alte weiße Männer) verdient haben wollen, da sie schon genug mitgemacht, sich genug angepasst haben im Laufe der Jahrzehnte.
Und ja, es ist gut möglich, dass du mir zurecht mir irgendwann vorhälst, genau diesen Satz zu benutzen. Oder meine Kinder irgendwann. Oder Enkel irgendwann. Vielleicht schlägt es irgendwann um.
(Und wenn diese das hier lesen:
1. Schön, dass es euch gibt.
2. Wenn ich wirklich den Satz "Dafür bin ich zu alt" in mein Sprachvokabular aufgenommen habe mittlerweile, bitte, haut mir den Satz um die Ohren! Ihr könnt immer sagen, der 33 jährige Sven hat's euch erlaubt!)
Noch aber verbinde ich mit diesem Satz aber das Gegenteil von dem, was ich für lebenswert halt. Was mich am Leben auch immer wieder begeistert, Neues auszuprobieren, Neues erleben, auch wenn es kurzfristiges Scheitern bedeutet.
So geht es aber weiß Gott nicht allen. Manche Leute fühlen sich für manche Dinge eben zu alt. Zum Beispiel Rudi.
Gerade Freitag wieder hatte ich so einen Fall: Ich musste durch einen Arbeitskollegen, Rudi* (Mitte / Ende 50, der Name wurde von mir geändert), für ein Portal freigeschaltet werden, mit eigenem Passwort, eigener Kennung und so weiter.
Als ich diesen dazu anrief, meinte er zu mir "Ach, das ist so technisch, das macht immer die Kollegin von mir. Die ist aber jetzt für zwei Wochen im Urlaub. Ich weiß nicht, wie das geht, ich bin dafür zu alt, ich bin eher der Analoge. Frag doch Simon*, ob er dir seine Kennung schickt, dann teilt ihr euch das."
Rudi denkt: Problem solved.
Mir ist hingegen mein Gesicht in dem Moment ein bisschen entglitten. Auch auf mein Nachfragen hin sah Rudi es nicht als seinen Job an, mich dafür freizuschalten, obwohl er einer der zwei Personen ist, die u.a. genau dafür zuständig sind.
Es half mir in dem Moment, dass ich gerade das Buch "Klima im Kopf (Opens in a new window)" von Katharina van Bronswijk durch gelesen habe. Auf Seite 103 erzählt sie von der Theorie der erlernten Hilflosigkeit (Martin Seligmann, 1960er Jahren). Was die beinhaltet?
Katharina schreibt "Denkt mal an einen Reitelefanten. Es ist doch erstaunlich, dass so ein großes Tier sich nicht einfach von seinem Pflock losreißt und abhaut, oder? Das liegt an erlernter Hilflosigkeit. Wenn die Babyelefanten angebunden werden, dann versuchen sie erfolglos sich zu befreien - und verinnerlichen, dass sie zu schwach sind. Später als ausgewachsene Elefanten (...) versuchen es es garnicht mehr. Das gibt es bei uns Menschen auch. An manchen Dingen sind wir einfach irgendwann so oft gescheitert, dass wir denken, dass wir das niemals lernen werden oder es eben nicht können. Das führt dann dzu, dass wir garnicht mehr versuchen, diese Umstände zu ändern, obwohl sie uns nicht guttun."
Das Konzept der erlernten Hilflosigkeit dient übrigens als Erklärung von Depressionen. Katharina van Bronswijk zieht hier den Bogen zu Menschen gegenüber dem politischen System und der Umweltzerstörung. Ganz nach dem Motto "Können wir ja eh nichts machen, wissen wir doch, hundert Mal probiert.".
Natürlich lässt sich die Frage stellen: Handelt es sich bei Rudi wirklich um erlernte Hilflosigkeit oder einfach Ignoranz oder Faulheit? Ich kann mir aber tatsächlich bei ihm ziemlich gut vorstellen, wie er zwar damals mit Boris Becker zum ersten Mal ins Internet gegangen ist (Opens in a new window), aber seitdem irgendwann den Anschluss verloren und damit die Hilflosigkeit gegenüber allem technischen letztlich gewonnen hat. Gerne hätte ich Rudi hinter seinem Telefon hervorgeholt und mit ihm die einzelnen Schritte zur erfolgreichen Zugangsterstellung durchgegangen. In diesem Moment aber wählte ich den für mich einfacheren Weg und nahm seine Antwort am Telefon hin.
Den nötigen Zugang habe ich bis heute nicht.
Ich bleibe damit unzufrieden zurück. Rudi hat gewonnen. Oder viel eher: Die Stimme in Rudi, die sich nicht dieser Aufgabe widmen wollte, durch welche Begründung auch immer. Und so gab ich mich geschlagen auf einem kleinen Schauplatz der so vielen, wenn es darum geht, dass wir alle Schritt für Schritt noch weiter dazu lernen und ans neue Gegebenheiten passen, mit der Technik und mit der Zeit gehen.
Von diesen Schauplätzen gibt es immer mehr. Ein neuer, besonders lauter, ist vor einigen Monaten hinzugekommen. Denn Julian Reichelt ist zurück.
Dieser ehemalige Chefredakteur der BILD hat nämlich nun sein eigenes YouTube Format entwickelt und damit endlich das Format für sich gefunden, was er wohl schon immer mit BILD.TV im Kopf hatte.
Seit drei Monaten gibt es nun "Achtung, Reichelt" und hat nun knapp 200.000 Abonnenten mit ähnlich vielen Klicks pro Video. Hier mal ein gutes Beispiel, was es da so zu sehen gibt.
https://www.youtube.com/watch?v=YmgdFYMOwn0 (Opens in a new window)Alle 1-2 Tage gibt es ein neues Video auf seinem Kanal, indem sein liebstes Thema es ist, die Grünen als demagogische Partei darzustellen, allen voran natürlich Annalena Baerbock und Robert Habeck.
Julian (wie er sich auf seinem Kanal jovial nennt) folgt dabei der Tradition dees Meinungsfernsehens, wie sie in den USA auf FOX News rauf und runter läuft und jeden Abend ein Millionenpublikum fesselt. Interessant finde ich dabei, dass er nicht nur inhaltlich wie eine Kopie seiner amerikanischen Vorbildern Sean Hannity und Tucker Carlon gleich kommt. Selbst die Sprachmelodie folgt dem großen amerikanischen Vorbild.
https://www.youtube.com/watch?v=E0Abayg3k_o (Opens in a new window)Fällt es dir auf? Die Sprachmelodie ist so markant und bekannt im amerikanischen Fernsehen, dass sich die Comedians der Late Night Shows darüber lustig machen.
https://youtu.be/1EnQGIg6TU0?t=15 (Opens in a new window)Aber auch so kopiert Julian die gleichen inhaltlichen und argumentativen Mustern: Er spricht von den bekanntesten deutschen Medien wahlweise als "verlängerten Arm der Grünen Partei" (Tagesschau) oder "als einer der wichtigsten Organe der Regierung" (Spiegel).
Sein Format zeigt sich nicht einfach regierungskritisch, sondern lässt keine noch so kleine Vorlage aus, um die Politiker*innen der Regierung als abgehoben, arrogant, volksfremd, verlogen oder auch demagogisch zu portraitieren und die Welt schwarz weiß zu zeichen.
Das Credo ist klar: Alle stecken unter einer Decke, nur der Julian und sein Publikum nicht. Aufregeritis, volle Kraft voraus!
Noch ist der Kanal vergleichsweise klein, aber durch dieses Format bekommen genau die Menschen Wasser auf die Mühlen, die den alten Status Quo untermauern wollen und glauben, das alles einfach so bleiben kann (und muss!), wie es schon immer war bzw. es wieder so sein muss, wie früher.
Es ist die schrille Seite der Medaille des "Dafür bin ich zu alt". Diese Seite wird dann zu einem Gesellschaftsproblem, wenn diese Denkweise eine Gesellschaft davon abhält, notwendige Veränderungen durchzuführen. Wenn die Lösungen einfach und widerspruchslos bleiben müssen.
Ich hoffe für mich selbst, dass ich nicht immer so handel, wie ich es bei Rudi tat. Weder gegenüber Rudi noch gegenüber Julian. Und ich hoffe für uns als Gesellschaft, dass wir noch laut und aktiv genug bleiben und schwierige Antworten aushalten. Dieser Winter wird nicht nur eine Prüfung für unseren Geldbeutel und unsere Regierung, sondern auch für unsere Demokratie.
Reichelt als neue YouTube Persönlichkeit, Wagenknecht bald mit eigener Partei. Es braut sich was zusammen in diesem Herbst.
Liebe Grüße
Sven
P.S.
https://www.youtube.com/watch?v=Tq7IEc62r4A (Opens in a new window)Spaten - Ich bin Robin Alexander