Mein lieber Sven,
wie schön, von Dir zu lesen. Erst recht, weil Dein Brief und die Frage nach dem Wollen und dem Brauchen bei mir in ein kleines Schatzkästchen gefallen ist, das mir während meiner Sommerwochen zugeflogen kam. Und zwar in Form eines Buches, von dem ich hoffe, dass es alle lesen, die mir lieb und teuer sind, weil ich glaube, dass es dabei helfen kann, den Blick auf das, was uns gerade umgibt, uns um- und antreibt und manchmal schier um den Verstand bringt, so auszurichten, dass man handlungs- und mehr noch fühlfähig bleibt.
Ich glaube, es gibt inzwischen keine drängendere Aufgabe mehr. Wenn in ganz Europa Flüsse und Seen austrocknen, wenn Pakistan in Fluten versinkt und in Indien die Vögel tot vom Himmel fallen, aber Minister unserer Bundesregierung auf die Notrufsignale dieses Planeten reagieren, indem sie, wie Volker Wissing, die Vertiefung der Fahrrinnen im Rhein fordern, damit der Schiffsverkehr nicht auf Grund läuft, dann weiß man einfach, dass es schlicht keinen Sinn hat, noch länger auf die kollektive Einsicht zu hoffen, am Ende eines Weges angelangt zu sein, der mit Beginn der Industrialisierung vor 200 Jahren begonnen hat.
Über Jahrhunderte hat sich bei Menschen in den Industrienationen ein Denken eingeschliffen, das davon ausgeht, dass es für jedes Problem eine naheliegende Lösung gibt, ganz im Sinne einer Logik, nach der es keine Probleme gibt, sondern nur Herausforderungen.
Dieses Denken verläuft nur dummerweise in einer Einbahnstraße. In die entgegengesetzte Richtung ist die gedankliche Durchfahrt verboten: Wir sind inzwischen konfrontiert mit einer Herausforderung, für die es keine linearen Lösungen mehr gibt. Die Erderwärmung mit all ihren sozialen, politischen und ökologischen Konsequenzen ist ein Problem, das eine grundsätzlich neue Perspektive erfordert darauf, wer wir sind, was uns wichtig ist und, am wichtigsten, welche Werte wir dem Weg in die Zukunft zugrunde zu legen bereit sind, selbst dann, wenn diese Werte einen Preis haben, der sich nicht in Geld bezahlen lässt. Geld, von dem viele Menschen in den kommenden Monaten ohnehin immer weniger zur Verfügung haben werden (Opens in a new window) angesichts einer galoppierenden Inflation, die gerade jene mit geringen Einkommen ungleich härter treffen wird, weil sie von dem wenigen, was sie haben, gerade dafür viel aufwenden müssen, was, wie Gas, so teuer wird, dass einem schwindelig wird.
So, Sven: Das Buch, das mir in die Hände fiel, heißt „Der Fortschritt und das Glück – eine schwierige Beziehung“ (Opens in a new window) und stammt von einem Mann, der, wie ein Orakel, in München-Schwabing lebt, über 80 Jahre alt ist und als Psychoanalytiker seit Jahrzehnten der Frage auf den Grund zu gehen versucht, wie Beziehungen gelingen können und was fröhlichen und zugewandten Verbindungen im Weg steht, in die sich Menschen fallen lassen können wie ein warmes, weiches Kissen.
In seinem Buch, das im April erschienen ist, gibt Wolfgang Schmidbauer seine über Jahrzehnte gereifte Antwort: Was uns im Weg steht, ist die Illusion, es gebe perfektes Glück, nach der vermeintlich einleuchtenden Wissing-Logik, dass man einen austrocknenden Fluss nur vertiefen muss, damit der Laden wieder läuft.
Schmidbauer ist gewissermaßen der Anti-Wissing, weil er sagt: Die Konsumgesellschaft, in der wir leben, hat uns ein Denken antrainiert, nach dem es möglich ist, ein vollendetes Leben zu führen – mit perfekten Liebes- und Freundschaftsbeziehungen, mit perfektem Job und perfektem Sex und perfekten Momenten an den schönsten Stränden der Welt, die umgehend auf Instagram landen. Und wer diese Vollendung noch nicht erreicht hat, hat entweder noch nicht hartnäckig genug dafür gearbeitet oder muss sich eingestehen, ständig an der besten Version seiner selbst zu scheitern.
So oder so: Der Fehler sitzt immer vor dem Computer – es ist nie das Betriebssystem selbst, das es in Frage zu stellen gilt, wenn das Unglück in der Seele so groß wird, dass einem ständig ein Kloß im Hals sitzt, der wie ein mentaler Tumor verhindert, dass das Leben in einem fließen kann.
Schmidbauer hält dem seine Version der Welt entgegen. Es gibt keine Vollendung. Das Leben ist eine ständige Abfolge von Versuchen, die mal gut gehen und mal nicht, im Beruf wie in der Liebe, im Leben mit Kindern wie mit Freunden. Die richtige Reaktion auf die eigene Unzulänglichkeit ist nicht, sie als Auftrag zu verstehen, noch härter um das eigene Glück zu ringen bzw. die Rinnen im Rhein noch tiefer zu graben, sondern Gnade zu entwickeln gegenüber sich selbst und dem Unglück, das manchmal durchs Bewusstsein zieht wie grauer Nebel und zum Leben gehört wie unsere Verdauung. Oder sich, im Falle des ausdörrenden Rheins, zu sagen: Ich habe verstanden. Wir laufen hier auf Grund. So können wir nicht mehr weitermachen. Auch wenn ich weiß, dass ich als einer von acht Milliarden die Welt allein nicht werde retten können – meine Welt werde ich nun verändern.
Noch nie zuvor hat mich ein Buch gleichermaßen emotional berührt wie intellektuell begeistert. Kauf es Dir, Sven. Oder lass uns in unserem Freundeskreis vorschlagen, dass wir uns von nun regelmäßig daraus vorlesen. Ich verspreche Dir und allen, die hier mitlesen, dass sich allein dadurch, dass wir Schmidbauers Gedanken in unser Leben lassen, ein Blick einstellen wird, der nichts an der Tristesse ändern wird, in der wir mitunter stecken, aber am Widerhall, den sie in unserem Bewusstsein verursacht. Weil, lieber Sven, und das war ja der Ausgangspunkt: Das Buch liefert eine zauberhafte Antwort auf Deine Ausgangsfrage. Was wir wollen, wird uns in unserer Gesellschaft die ganze Zeit über Werbung, Marketing und über das Versprechen perfekten Glücks eingeflüstert. Was wir brauchen, sagt uns dagegen eine Stimme tief in uns selbst. Der müssen wir nur genug Gehör verschaffen. Und dafür sorgen, dass auch ihr Lachen immer wieder zu uns durchdringt.
Liebe Grüße,
Dein Kai
(Charlotte Adigéry & Bolis Pupul: HAHA)