8Morgenseite vom 23. Dezember 21 - Zeitreise nach Blankenese...
Gestern bin ich weit gereist. Nicht an Kilometern, eher zeitlich als räumlich weit weg von dem, was ich heute bin: nach Blankenese. Genauer an den Falkenstein. Da wo die wohnen, die vom normalen Reichtum sich noch abgrenzen müssen, steht an der Einfahrt zum Golfclub und gegenüber der Buskehre ein kleines Ausflugslokal. Hierhin bin ich gereist, mit der S-Bahn Hamburg nur ein paar Stationen; in Wirklichkeit ganz weit weg, tief und weit zurück in meine Vergangenheit.
Winter ist hier Fleisch. Und immer mit Wintergemüse. Grünkohl, mit Kochwurst und Kassler. Himmel und Erde, mit Grützwurst und Rotkohl, nur echt mit einer halben Ente.
Ein Plastikweihnachtsmann winkt Neuankömmlingen am Eingang und drinnen weht einem der Geruch von kaltgewordenen Raucharomen in die Nase. Draußen ist's kalt, für Hamburger Verhältnisse sehr kalt. So nah am Meer ist das selten.
Graue Schwaden, vom Nordatlantik tragen sonst viel Feuchte und Plusgrade mit sich, normalerweise. Heute gefriert der feuchte Atlantik-Hauch zu Reif an den Bäumen. Uwes Heck ragt aus dem Dunkel der Ebbe als wir vom Falkensteiner Ufer uns hochwinden, dorthin wo jetzt Oligarchen bauen; oder eine paranoide Ex-Kanzlerin, da sind M. und W. nicht ganz einer Meinung.
Eine vierstöckige Bunkeranlage schichten Arbeiter aus Polen am teuersten Hang Hamburgs in den Geestrücken. Unangreifbar, nur von Süden aus einsehbar und videoüberwacht.
Ob ich die Grützwurst mit oder ohne Rosinen möchte, fragt mich die Blondine mit dem grossen schwarzen Portemonnaie vor dem Bauch. Da muss ich erstmal drüber nachdenken: wie hab ich das bei Omi immer gegessen? Ich glaube ohne.
Bestelle aber doch die Grützwurst mit Rosinen. Nostalgie darf man nicht zu verbissen sehen. Ausser mir weiss das ja eh keiner mehr. Mein Bruder mochte als Kind keine Grützwurst. Der erinnert das sicher nicht, ob da Rosinen drin waren; in den Würsten vom Schlachter Meinert, der damals noch selbst schlachtete. Alle anderen, die mir diese Frage beantworten könnten, sind inzwischen tot. Ich sagte doch, es war eine weiter Reise, die ich unternahm.
Die Wurst kommt schon ausgepellt, als Fladen auf dem Teller serviert. Das macht mich ein wenig traurig, denn hier wollte ich genau sein in meiner Erinnerung. Um die Situation zu retten, bestelle ich ein wenig Zucker, um ihn über die Wurst zu streuen. Wie Omi das immer gemacht hat. Blut ist bitter.
Gegenüber sitzt die örtliche FDP. Das erkennt man an den Pullundern, die wie eine Uniform getragen werden. Immer noch. Es gibt Orte, da ändert sich eben nichts schnell. Ob das auch den Oligarchen klar ist, die hierher ziehen? Und den Fernsehstars die Immobilienblasen im Hang füttern?
///
Ein Text in der Entstehung. Dem Du beim Entstehen zuschauen kannst. Als Abonnent bei Blogfrei. Abonniere mich jetzt: https://steadyhq.com/en/sign_up?publication=blogfrei (Opens in a new window)
Teile den Link zu diesem Dokument gerne: https://bit.ly/Morgenseiten (Opens in a new window)
Kommentare sind herzlich willkommen! Euch ein schönes Fest.