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14:03

Musti stellt Erwin sein Bier hin und macht ihm zweite Liga an, wie immer. Normalerweise hat er Samstags dann eine halbe Stunde, bis die ersten Gäst*innen aufschlagen; die Fußballjungs vor allem, die sich die Vorberichterstattung nicht entgehen lassen wollen, weil es zu ihrem Fan-Selbstverständnis  gehört, über jedes Detail jeder Entwciklung innerhalb der Bundesliga Bescheid zu wissen; oder aber junge Eltern, die nach einem Spaziergang mit den Kindern noch ein Getränk auf der Terrasse trinken, bevor sie – ja was eigentlich. Musti hat zwar eine Tochter, die ist vierzehn inzwischen, aber er weiß trotzdem nicht, wie so ein Tagesablauf aussehen könnte – Elisa wuchs bei der Mutter auf.  Der Kontakt hat sich erst seit zwei Jahren wieder intensiviert, das ist schon schön, auch wenn Musti nicht immer genau weiß, was da eigentlich vor sich geht – was er eigentlich ist oder sein soll.

Die halbe Stunde, die Musti hat, bevor es richtig los geht, verbringt er hinterm Tresen: er trinkt Kaffee, er raucht, beides eher aus einer Notwendigkeit heraus und nicht aus Lust. Der neue Rauch vertreibt den alten, hängengebliebenen von der Nacht zuvor; der Geruch des Kaffees übertüncht das Bier, das gestern in die Ritzen lief, in die zu wischen und zu bohnern er weder Kraft noch Materialien hat, und jetzt vor sich hindünstet. Es ist wie eine Geisteraustreibung, die Geister der vergangenen Nacht, all die Worte, die gesprochen wurden und im Moment der Formulierung schon wieder vergessen wurden; all die Vorläufigkeiten, die als ewige Wahrheiten verkündet wurden. Eine Kneipe ist ein Spielplatz für Erwachsene, die für einen Moment genug davon haben, erwachsen zu sein, davon ist Musti überzeugt. Im Grunde ist er vor allem anderen ein Kindergärtner.

In dieser Zeit, in dieser halben Stunde, lässt er Musik laufen, die für andere nicht bestimmt ist. Gut, Erwin hört mit, aber das zählt nicht: Erwin ist so mit sich selbst beschäftigt die ganze Zeit, dass er keine Muße hat, ein Urteil über Musti zu fällen. Musti fühlt sich sicher mit Erwin im Laden, er muss nicht vorsichtig sein; er merkt dass auch an seiner Stimme, die dann dunkler ist und fester, wenn er allein mit Erwin spricht, und auch daran, dass er seine Worte nicht wägt. Er redet dann so, wie es seine Prägung für ihn vorgesehen hätte.

Das gilt auch für die Musik, die er dann hört: das ist seit mehreren Monaten meist Noir Désir, die letzte Platte, „des visages des figures“, und die par Songs, die sie nach dessen Knastzeit aufgenommen haben. Wenn Leute da sind, würde er das nie auflegen, weil Bertrand Cantat, das ist der Sänger, im Drogenrausch Marie Trintignant tötete oder ermordete oder umbrachte, spielt das überhaupt eine Rolle, das so auszudifferenzieren? Genau darüber will Musti nicht nachdenken. Als er Noir Désir kennenlernte, sprach etwas aus dieser Musik zu ihm: diese verdeckte, frustrierte, hoffnungslose Wut, die klingt wie eine klagende Trauer, die sich gegen alles richtet und die in einem letzten Aufschrei doch noch entscheidet, sich der Ungerechtigkeit der Welt entgegenzustellen. Es ist eine Zerrissenheit in diesen Stücken, die auch ihn zusammenhält; von der zu hören es ihm ermöglicht, nicht verrückt  zu werden.

Sein Französisch reicht nicht aus, um die lyrics bis ins Detail zu verstehen, aber einzelne Versatzstücke sind ihm hängen geblieben: „Il ne faut pas se faire d’illusions / mais c’est mieux debout pour l’action“, das ist so etwas, darüber hat er oft nachgedacht. Seit zwanzig Jahren hört er diesen Song schon, und ihm scheint immer wieder etwas neues in diesen zwei Zeilen wichtig zu sein: Hoffnung darf man sich keine machen, oder braucht man sich nicht zu machen, oder soll man sich nicht machen, oder es ist nicht nötig, sich selbst Hoffnung zu machen; aber es ist besser sich Hoffnung zu machen, aber warum eigentlich, das steht da nicht. Ist es heilsamer oder ist Wut etwas gutes wenn sie an eine Zukunft glaubt oder was soll das heißen? Ist das eine Einladung zum Zynismus oder eine zur Sentimentalität? Und: Warum nur fasst ihn das alles so an?

Aber Musti weiß auch, dass das seine Fragen sind, niemand wird sie ihm abnehmen können. Dass er Noir Désir so sehr liebt, wie er Bertrand Cantat verachtet, ist sein Problem; ob es einen Zusammenhang gibt zwischen der Kunst, die ihn berührt, und dem Künstler, der ihn ekelt, kann er noch nicht entscheiden. Vielleicht gibt es da auch keine Antwort darauf; oder anders: vielleicht gibt es darauf viele richtige Antworten. Und wenn eine Frage viele richtige Antworten hat, sollte es nicht der Barkeeper sein, der sie stellt; außer er weiß es wirklich nicht.

Aber darüber denkt Musti heute gar nicht nach, während er wie von selbst in die Musik versinkt, die ihn seit Jahren begleitet. Heute wäre er so weit, sich von Cantat in Trance singen zu lassen, so viel ist schon passiert (und so schlecht hat er auch geschlafen), aber das ist ihm nicht vergönnt: es ist kaum fünf nach zwei, da setzt sich draußen eine junge Frau in die Sonne, die er bis heute hier noch nie gesehen hat; Angelika heißt sie, sie hat ein Buch dabei.

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