Ist deine Lieblingsmusik angeboren – oder anerzogen?
Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute geht es darum, ob alle Menschen bestimmte Tonfolgen mögen – oder ob das eine Frage der Kultur ist.

Es gibt wenige Videos, die ich mir so oft angeschaut habe. Beim Event „Notes & Neurons: In Search of the Common Chorus“ trafen Wissenschaftler auf Musiker, unter anderem auf Bobby McFerrin. Du kennst ihn wahrscheinlich: Don´t worry, be happy! Während der Diskussion steht McFerrin auf und fängt an, mit dem Publikum zu musizieren. Er springt auf der Stelle und singt dazu den Ton, den diese Stelle machen soll. Das Publikum steigt ein. Dann macht er einen Schritt nach links, springt wieder auf der Stelle und macht einen höheren Ton. Wieder machen die Zuschauer:innen mit. Er beginnt, zwischen diesen beiden Stellen hin und her zu springen. Das Publikum singt die beiden Töne im Wechsel. Dann springt er plötzlich noch einen Schritt weiter nach links zu einer Stelle, der er noch keinen Ton zugeordnet hatte. Und das Publikum? Singt gemeinsam exakt den gleichen – und richtigen! – Ton. Wie von Geisterhand.
Sein kleines Experiment geht noch weiter. Er springt die komplette Bühne entlang und die Zuschauer:innen wissen immer genau, welche Töne sie singen sollen. McFerrin zeigte mit ganz simplen Mitteln, wie tief die pentagonische Skala in unserem Gehirn verankert ist. Hier kannst du dir das Video anschauen, ich empfehle es sehr (und noch mehr, danach hier zu lesen, was dahintersteckt):
https://youtu.be/ne6tB2KiZuk?si=dghinwwNti1G7iza&t=13 (Opens in a new window)Die pentatonische Skala ist so etwas wie das Chamäleon der Musikgeschichte: Sie taucht in unabhängig voneinander entstandenen Kulturen auf – von China über Westafrika bis Schottland. Das hat viele dazu verleitet zu sagen: „Aha! Das ist der genetische Kern! Der musikalische Ur-Code!“ Nach der letzten Ausgabe darüber, wie Musik Emotionen auslöst, hat Anna mir geschrieben. Sie fragt: „Warum empfinden wir Klänge emotional? Welche Frequenzen erzeugen Fröhlichkeit oder Trauer? Ist das eine kulturelle Lernerfahrung oder sprechen alle Menschen auf bestimmte Töne/Harmonien/Dissonanzen gleich an?“ Das schauen wir uns heute mal genauer an.
Alles nur Biologie?
Wie fast immer, wenn es um Gene geht, gibt es zwei Lager: Eines, das davon ausgeht, das Musik tief in der menschlichen Natur verankert ist und die Emotionen, die mit bestimmten Tonfolgen einhergehen, in unseren Genen festgeschrieben sind. Und eines, das davon überzeugt ist, dass all das eher eine Frage der Kultur und des Lernens ist. Starten wir mit der biologischen bzw. nativistische Sicht.
Stell dir dafür kurz vor, du spielst einem Baby einen Akkord vor. Kein Mozart, nichts Dramatisches. Nur ein einfacher, reiner Klang – sagen wir, eine wohlklingende Terz. Und dann das Gegenteil: schrille Dissonanz, zwei Töne, die sich aneinander reiben wie zwei rostige Türen. Was macht das Baby? Es wendet sich ab – und das messbar. Dieses kleine Experiment (Opens in a new window) stammt aus dem Jahr 1998. Die Wissenschaftler haben damals herausgefunden: Schon mit vier Monaten zeigen Kinder eine klare Präferenz für konsonante Klänge. Und das ist kein Einzelfall.
Wer dieses Lager vertritt, glaubt: Unser Gehirn ist von Geburt an auf bestimmte Klangmuster gepolt. Das hat nichts mit Stil oder Geschmack zu tun. Es geht um Schwingungen, um Physik, um Biologie. Um das, was passiert, wenn zwei Töne zusammen klingen und unsere Gehörschnecke – und das, was dranhängt – sich über die Einfachheit freut. Je simpler das Frequenzverhältnis, desto besser verträglich. Eine Quinte (3:2) ist einfach zu verdauen. Eine Tritonus (45:32)? Schwer verdaulich. Und das ist kein Musikgeschmack, sagen die Biologen – das ist Auditory Neuroscience.
Die kanadische Kognitionswissenschaftlerin Isabelle Peretz ist eine der zentralen Figuren auf diesem Feld. Sie argumentiert: Das menschliche Gehirn bringt ein gewisses Maß an musikalischer Grundausstattung mit. Eine neuronales Startpaket, das uns erlaubt, Rhythmus zu spüren, Tonhöhen zu unterscheiden und Konsonanz zu bevorzugen. Selbst Menschen mit Amusie – also einer neurologischen „Musikunfähigkeit“ – verarbeiten Musik anders, und zwar messbar. Das spricht dafür, dass Musikverarbeitung biologisch verdrahtet ist, wie Sprache, nur ein bisschen älter.
Noch weiter geht der schwedische Musikforscher Patrik Juslin: Für ihn ist Musik eine Art emotionale Simulation. Eine Melodie, so seine These, funktioniert wie eine Stimme. Tonhöhe, Lautstärke, Tempo: Das alles imitiert emotionale Ausdrucksformen, wie sie in Sprache und Körpersprache vorkommen. Traurige Musik klingt traurig, weil sie wie traurige Sprache klingt: langsamer, leiser, tonhöhenarm. Der Körper versteht das, auch ohne kulturelle Brille.
Tatsächlich zeigen (Opens in a new window) Zwillingsstudien konsistent, dass musikalische Fähigkeiten und musikorientiertes Verhalten zu einem beträchtlichen Teil genetisch beeinflusst sind – im Schnitt liegt die Erblichkeit bei 42 Prozent.
Oder doch eher Kultur?
So sehr sich manche über biologische Universalien freuen – Musik ist alles andere als universell verständlich. Die melancholische Molltonart zum Beispiel, die bei uns für Herbstlaub und Herzschmerz steht, bedeutet in anderen Kulturen schlicht gar nichts. In Indonesien oder arabischer Musik gibt es ganz andere Skalen, ganz andere Emotionen und trotzdem funktioniert die Musik dort ebenfalls. Hier kommt die Enkulturation ins Spiel – also die Theorie, dass wir musikalische Bedeutung nicht mitbringen, sondern lernen wie eine Sprache.
Was für einen Mitteleuropäer harmonisch klingt, kann für jemanden aus Südostasien vollkommen leer wirken. Einfach, weil die Skala nicht dem Erwartungshorizont entspricht. Wir lernen, was sich auflöst, was Spannung erzeugt, was „nach Hause“ klingt. Wenn Menschen aus den USA und der Türkei sowohl Musik aus ihrer eigenen als auch aus der jeweils fremden Kultur hören (Opens in a new window), werden unterschiedliche Regionen im Gehirn aktiviert – je nachdem ob die Musik vertraut oder fremd war. Kulturelle Prägung beeinflusst also sowohl die Verarbeitung als auch die Speicherung von Musik auf neuronaler Ebene – messbar im MRT.
Ein Highlight in dieser Debatte ist die Studie (Opens in a new window) eines deutschen Forschungsteams: Sie spielten Menschen aus der Mafa-Kultur in Kamerun, die keinerlei Kontakt zu westlicher Musik hatten, klassische westliche Musik vor. Was passierte? Sie konnten grobe Emotionen wie „fröhlich“, „traurig“, „ängstlich“ identifizieren, ja – aber nicht differenziert zwischen Moll und Dur unterscheiden. Das deutet darauf hin: Bestimmte Grundemotionen sind vielleicht biologisch zugänglich, aber die Feinheiten sind kulturell geformt.
Konsens? Vielleicht eher ein Duett
Bei der pentatonischen Skala vereinen sich diese beiden Sichtweisen und aus meiner Sicht macht das nur Sinn. Die pentatonische Skala ist weltweit verbreitet, obwohl viele Kulturen historisch nie Kontakt zueinander hatten. Man findet sie in chinesischer Volksmusik, westafrikanischer Trommelmusik, schottischen und ungarischen Volksliedern und bei Bobby McFerrin. Diese erstaunliche Häufigkeit spricht dafür, dass sie leicht zugänglich und intuitiv ist – vielleicht, weil sie mit biologisch bevorzugten Intervallen arbeitet. Die Intervalle der pentatonischen Skala basieren auf einfachen ganzzahligen Frequenzverhältnissen (z.B. 3:2, 5:4). Das Ohr – bzw. das Gehirn – verarbeitet solche Verhältnisse effizienter. Das gilt als möglicher Grund, warum wir diese Klänge als „angenehm“ empfinden.
Aaaaber … die Skala ist zwar weit verbreitet, aber nicht alle Kulturen nutzen sie. Es gibt Musikkulturen mit gänzlich anderen Skalen (Opens in a new window) (z.B. Mikrotonalität, heptatonische oder oktatonische Skalen). Die Pentatonik ist ein gemeinsamer Nenner vieler, aber nicht aller Musikkulturen. Auch wenn die pentatonische Skala leicht zugänglich ist, prägt unsere musikalische Umwelt massiv, wie wir Musik empfinden. In westlich geprägten Kulturen empfinden viele Menschen die pentatonische Skala als „asiatisch“ oder „fremd“, obwohl sie mathematisch „einfacher“ ist. Das zeigt, dass Hörgewohnheit manchmal stärker wiegt als akustische Struktur.
Die Vorliebe für pentatonische Musik ist also nicht eindeutig angeboren. Es fehlt der direkte Beleg, dass Menschen ohne jede musikalische Prägung diese Skala bevorzugen. Derzeit spricht viel dafür, dass biologische Sensibilität und kulturelles Lernen hier Hand in Hand gehen. Und das dürfte auch – wie so oft – die Antwort auf die Ursprungsfrage sein, wie groß die Rolle der Gene und wie groß die der Kultur ist.
Zwillinge, die gerne Musik hören
Das zeigt auch eine Studie, die erst vor einem Monat im rennomierten Nature-Magazin veröffentlicht wurde. Brain-Leserin Kristina hat sie mir geschickt (danke dafür!). Die Forschenden wollten hier nicht erforschen, ob bestimmte Tonfolgen so beliebt sind, weil sie einen genetischen Ursprung haben. Sie wollten wissen: Hat die Fähigkeit Musik zu genießen eine biologische Grundlage? Sprich: Wenn deine Eltern sich so gar nicht für Musik begeistern konnten, geben sie das durch ihre Gene etwa an dich weiter?
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