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Was die Europawahl für eine Reform von §218 StGB zeigt

Die Älteren unter uns erinnern sich: Die Ampel-Koalition wollte antreten als „Fortschrittskoalition“ und schrieb sich 2021 markige Sätze in den Koalitionsvertrag (Öffnet in neuem Fenster) wie:

  •  „Die Gleichstellung von Frauen und Männern muss in diesem Jahrzehnt erreicht werden.“

  • „Die gleichberechtigte politische, wirtschaftliche und soziale Teilhabe, die Stärkung sexueller und reproduktiver Gesundheit und Rechte von Frauen und Mädchen sowie der uneingeschränkte Zugang zu gleichwertiger Bildung und Gesundheitsversorgung sind für uns zentral.“

  • „Die Möglichkeit zu kostenfreien Schwangerschaftsabbrüchen gehören zu einer verlässlichen Gesundheitsversorgung.“

Vertrauen in andere Menschen entsteht, wenn wir sie beim Wort nehmen können. Wenn das, was sie tun, das oder zumindest nah ist an dem, was sie vorher erzählten. Wenn wir erleben, dass sie sich ernsthaft bemühen, ihre Versprechen einzulösen. Und wenn dies nicht gelingt, sie darüber das Gespräch mit uns suchen, sich anhören wollen, was es für uns bedeutet, dass sie sich anders verhalten und die Rückmeldung dazu für sie ein echtes Gewicht hat, das merklich etwas in ihnen bewegt. Das gilt für persönliche Beziehungen sowie für das Vertrauen in Politik.

Im April hatte die von der Ampel-Regierung eingesetzte Sachverständigenkommission zur reproduktiven Selbstbestimmung ihren Abschlussbericht (Öffnet in neuem Fenster) vorgelegt. Darin kommt sie zu ähnlichen Empfehlungen, die bereits von anderen internationalen Expert_innen vertreten werden wie beispielsweise der Weltgesundheitsorganisation. Der WHO-Richtlinie von 2022 (Öffnet in neuem Fenster) zufolge müssen für eine gute und evidenz-basierte reproduktive Gesundheitsversorgung politische Barrieren, die den Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen erschweren, abgebaut werden. Zentral dafür sind die Entkriminalisierung von gewünschten Schwangerschaftsabbrüchen sowie der Verzicht auf Wartezeiten und Fristen. Denn zum einen leidet unter unnötigen rechtlichen Hürden die medizinische Qualität der Versorgung, zum anderen sind diese nicht im Einklang mit menschenrechtlichen Standards. Die WHO fordert, Schwangerschaftsabbrüche sicher, respektvoll und nicht-diskriminierend (Öffnet in neuem Fenster) zugänglich zu machen, um die Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals) der UN zu erfüllen, darunter auch das Ziel der Geschlechtergleichheit.

Die Kommission der Bundesregierung empfiehlt als konkrete gesetzliche Neuerung, Abbrüche in der Frühphase der Schwangerschaft zu legalisieren und sie bei einer Rechtmäßigkeit außerdem „barrierefrei“ zugänglich zu gestalten, was die Abschaffung der bisherigen dreitätigen Wartezeit zwischen Beratung und Abbruch sowie den Verzicht auf eine Zwangsberatung umfassen könnte.

Die Bundesregierung hält sich seitdem bedeckt. Keine_r der beteiligten Bundesministerinnen – der Justizminister, der Gesundheitsminister sowie die Frauenminsterin – nahmen den Abschlussbericht der Expertinnen zum Anlass, eine Gesetzesreform noch in dieser Legislatur in Angriff zu nehmen. Die Zeit für ein neues Gesetz wäre noch da. Bundeskanzler Olaf Scholz gab über eine Sprecherin ebenso eine ausweichende Antwort darauf, ob die Empfehlung der Expert_innen als Arbeitsauftrag verstanden werde und ließ mitteilen, das Thema müssen „mit der nötigen Sensibilität und dem nötigen Respekt diskutiert“ werden.

Da drängt sich die Frage auf: Wem gegenüber sollen Sensibilität und Respekt aufgebracht werden? Denjenigen, denen als Patient_innen bislang eine gute und evidenz-basierte medizinische Versorgung verwehrt wird sowie denen, die als Ärzt_innen und Berater_innen auf eine Weise praktizieren müssen, die qua Gesetz mit paternalistischer Willkür aufgeladen wurde und auch für das medizinische Fachpersonal mit Hürden versehen ist, die eine bestmögliche und breite Versorgung erschweren?

Ist es respektvoll gegenüber der seit Jahrzehnten andauernden Aufklärungsarbeit von Mediziner_innen, Feminist_innen, Menschenrechtsexpert_innen, nahezulegen, die Debatte über die Notwendigkeit der Entkriminalisierung müsse erneut geführt werden?

Auf diese Frage habe ich in Richtung der Regierungspolitiker_innen, die statt selbst zu handeln nun auf eine weitere Runde der gesellschaftlichen Debatte sowie Druck von der Straße verweisen, eine klare Antwort: Diese Verzögerungstaktik ist respektlos, da sie jahrelanges Engagement, Forschung und Erfahrungswissen für nichtig erklärt. Die Argumente sind tausendfach wiederholt, die Gängelung von ungewollt Schwangeren durch einen unnötig aufwendigen und stigmatisierenden Weg zur gewünschten Behandlung findet jeden Tag statt. Stattdessen müsste jetzt als eine Aufgabe von guter Regierungskommunikation verstanden werden, die Empfehlungen der Kommission sowie die Ergebnisse der ELSA-Studie (Öffnet in neuem Fenster) (Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer – Angebote der Beratung und Versorgung) auf eine leicht verständliche Weise zu vermitteln, um das Wissen um die rechtlichen Erwägungen und Möglichkeiten weiter zu stärken – auch aus Respekt gegenüber der Kommission.

Repräsentativen Umfragen gibt es längst eine gesellschaftliche Mehrheit (Öffnet in neuem Fenster) für eine Entkriminalisierung von Abbrüchen, sodass kaum von einem gesellschaftlichen Großkonflikt gesprochen werden kann.

Als Bundesregierung eine gesellschaftliche Debatte zu fordern, statt eine Gesetzesreform anzugehen, verweigert die Verantwortung für das zu übernehmen, was sich die Ampel-Parteien selbst in den Koalitionsvertrag geschrieben haben sowie für das, was die Aufgabe von demokratischer Politik sein muss: Sich kontinuierlich darum zu bemühen, dass die Werte, auf die sich eine Gesellschaft verständigt hat, in der realen Welt zum Ausdruck kommen und dort Gesetze zu korrigieren, wo sie politische Ziele wie Gleichberechtigung, Nicht-Diskriminierung und Freiheit unterlaufen.

Dazu passt ein Zitat der italienischen Philosophin Luisa Muraro:

„Friedliches Zusammenleben beginnt dort, wo in Machtverhältnissen die Fähigkeit Raum bekommt und verfügbar wird, mit anderen in Beziehung zu treten und nach Vermittlung zu suchen, die in der Lage sind, die auftretenden Konflikte zu lösen und Regeln zu finden, die genau dafür taugen.“

Hervorheben möchte ich dabei den Hinweis auf das Eintreten in die Beziehungsebene, die von politischer Seite aus im Kontext von §218 aktuell nicht gesucht wird.

Selbstverständlich greifen gesellschaftliche Diskurse, zivilgesellschaftliches Engagement und konkrete politischen Entscheidungen ineinander. Dennoch ist es wichtig, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass nur für manche Anliegen Politiker_innen erneuten aus Druck aus der Zivilgesellschaft oder den eigenen Parteien voraussetzen und diese Vorhaben zurückgestellt werden, wenn dies nicht geschieht. Denn ein Koalitionsvertrag bildet in seinen Gesetzesvorhaben bereits einen Teil der demokratischen Willensbildung und gesellschaftlicher Debatten ab und etliche Vorhaben wurden und werden in dieser Legislatur umgesetzt, ohne sie erneut zur Disposition zu stellen und zu behaupten, ihre Akzeptanz bräuchte eine weitere grundlegende Debatte. Aus welchen Bereichen die Anliegen häufig stammen, deren Umsetzung verzögert wird oder an die am Ende einer Legislatur kein Haken gesetzt werden kann, ist eine rhetorische Frage. Viele gleichstellungspolitische Versprechen aus dem Koalitionsvertrag sind rund ein Jahr vor den nächsten Wahlen noch immer nicht umgesetzt oder auch nicht in Planung.

Zur Verbesserung der reproduktiven Gesundheitsversorgung zählt außerdem noch dieser Satz aus dem Papier namens „Mehr Fortschritt wagen“:

  • „Wir wollen Krankenkassen ermöglichen, Verhütungsmittel als Satzungsleistung zu erstatten. Bei Geringverdienenden werden die Kosten übernommen. Wir wollen die Forschungsförderung für Verhütungsmittel für alle Geschlechter anheben.“

Verhütungsmittel ohne Altersgrenzen von Krankenkassen erstattungsfähig zu machen und sie kostenfrei an erwerbslose und geringverdienende Menschen abzugeben, gehört zur Vermeidung ungewollter Schwangerschaften entscheidend dazu und ist das Mindeste, das die Ampel zur Stärkung reproduktiver Gesundheitsversorgung umsetzen müsste.

Die Berufung einer Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung durch die Ampel war bereits eine Reaktion auf die anhaltende gesellschaftliche Diskussion über Schwangerschaftsabbrüche sowie die Verschlechterung der Versorgungslage. Als Zweck der Arbeit der Kommission kann dementsprechend verstanden werden, eine fundierte Antwort darauf zu bekommen, ob und wie eine Neuregelung von Abbrüchen in Deutschland gesetzlich umzusetzen wäre, um der langen Debatte über Abtreibungen auch endlich wieder politisch zu begegnen. Der primäre Zweck der Kommission war nicht eine auf ihren Bericht folgende ergebnisoffene Debatte, die bei null beginnt.

Wie kompetent wirkt Politik, wenn sie nicht in der Lage ist, eine jahrzehntelange Debatte plus den Abschlussbericht einer Expert_innen-Kommission zu übersetzen in eine neue gesetzliche Regelung, sondern als politische Lösung nach einer weiteren gesellschaftlichen Diskussion ruft? Sie wirkt dann wie eine zottelige Katze, die sich im eigenen Schwanz verbissen hat und ziellos im Kreis herumschwankt. Die Bundesregierung verspielt Vertrauen und Unterstützung der Zivilgesellschaft, wenn klar nachvollziehbare, lang dargelegte Problemlagen, wie Versorgungslücken oder die schädliche Wirkung von Stigmatisierung, wieder und wieder vorgetanzt werden sollen, als ginge es um Unterhaltung, für die man nach jeder Aufführung Luftküsse kriegt, aber keine Politik.

Sowohl SPD als auch Grüne haben sich in ihren Wahlprogrammen klar dazu bekannt, dass die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ein politischer Schritt ist, von dessen Notwendigkeit sie überzeugt sind. Doch diese Klarheit scheint mit der Veröffentlichung des Kommissionsberichts vergessen. Olaf Scholz hätte jede Legitimation in seiner Rolle als SPD-Politiker und Kanzler zu sagen: ,Eine Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ist in dieser Legislatur der richtige Schritt, denn er ist notwendig für echte Geschlechtergerechtigkeit und die höchsten medizinischen Standards, die wir im deutschen Gesundheitssystem allen garantieren wollen.‘

Tweet von Olaf Scholz vom 8. März 2021: „Allein die Tatsache, dass ich ein Mann bin, hat mir häufig im Leben geholfen. Das ist mir bewusst. Und gerade deshalb bin ich Feminist. Für mich war immer klar: Frauen gehört die Hälfte der Macht.“

Als Bundeskanzler, der ein Dokument mitverantwortet, in dem die drei eingangs zitierten Sätze zur Stärkung von reproduktiver Gesundheit und Gleichberechtigung stehen und der sich selbst zu mehr als einer Gelegenheit als Feminist bezeichnet hat, wäre es seine Aufgabe, in der mächtigsten Position seines bisherigen Lebens den Ehrgeiz und die Selbstachtung zu haben, als Feminist zu handeln und substanziellen feministischen Fortschritt zu erreichen. Denn was nützt ein Feminist im Kanzleramt, wenn er geschlechterpolitisch nichts erreicht und sich nicht einmal traut, eine klare Position an der Seite von Frauen zu beziehen?

Vermutlich liegt hier der Knackpunkt: Der Bundeskanzler müsste die Gruppe der Menschen hervorheben, die schwanger werden können, ein historisches Unrecht einräumen sowie benennen, dass noch immer ein Gesetz existiert, das der Freiheit von Frauen eine andere, eine engere Grenze setzt als der Freiheit von Männern. Er müsste die Größe haben, sich erkennbar zu zeigen als jemand, der von dem Unrecht, was seit jeher von §218 ausgeht, nicht betroffen ist. Er müsste zudem klar auf den säkularen Staat bestehen und zurückweisen, dass die Weltanschauung einiger Katholik_innen ein starkes Gewicht darin haben darf, wie die reproduktive Gesundheitsversorgung einer heterogenen, unterschiedlich oder gar nicht gläubigen Bevölkerung geregelt ist. Der „Schutz des ungeborenen Lebens“, so wie er in Deutschland gesetzlich sowohl über §218 als auch im Embryonenschutzgesetz verstanden wird, ist kein weltanschaulich neutrales Konzept, sondern von religiösen Überzeugungen geprägt, was sich zudem deutlich darin zeigt, welche Gruppen als Abtreibungsgegner_innen organisiert sind.

Mich verblüfft immer wieder, dass gebildete Menschen die intellektuelle Verrenkung akzeptieren, dass in der Debatte über neue gesetzliche Regelungen das moralische oder religiöse Empfinden Dritter gegenüber dem Schwangerschaftsabbruch einer ihnen fremden Person auf die gleiche Ebene gezogen wird wie die konkrete, körperliche Betroffenheit einer Schwangeren. Eine Person, die, sofern sie die Schwangerschaft austrägt, zugunsten eines neuen Lebens immense gesundheitliche Risiken in Kauf nimmt und über Jahre und Jahrzehnte Verantwortung für einen anderen Menschen übernehmen wird. Nicht logisch ist auch hier, wie erfolgreich unsichtbar gemacht worden ist und es zu keiner generellen Kompetenzzuschreibung wird, wie viele Frauen und gebärfähige Menschen die weitreichende Entscheidung für ein Baby treffen, während ihnen nicht zugetraut wird, eine Entscheidung mit deutlich weniger Konsequenzen – den Abbruch – verantwortungsvoll zu treffen.

Die vermeintlich moralisch Verletzten, auf die Rücksicht genommen wird in der politischen Regelung von Abtreibungen, als ginge es auch um ihr Leben, kosten die frühen Schwangerschaftskonflikte anderer Menschen nichts; ihr Lebensweg wird weder berührt, noch verändert. Sie haben darüber hinaus andere Möglichkeiten, mit ihren Haltungen und Gefühlen umzugehen, als sie auszutragen über eine Herabwürdigung und Rechtebeschneidung anderer Menschen.

Mir bleibt die Anmaßung unverständlich, die vom Anspruch ausgeht, sich in die körperliche Integrität und Lebenswege schwangerer Menschen einmischen zu dürfen. Warum es in der individuellen Haltung zu Abtreibungen offenbar einigen Menschen keine ausreichende moralische Sicherheit gibt zu wissen, ein Abbruch würde für sie selbst nicht in Frage kommen. Sie brauchen die Kontrolle anderer, um sich der eigenen Haltung sicher zu sein. Dabei heißt es in den zehn Geboten: „Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren.“ Ist der eigene Körper nicht das erste Haus, das wir haben? Der eigene Wohnraum wird auf Einladung hin und freiwillig geteilt. Aus eigenem Begehren.

Dürfen Frauen sich selbst besitzen?

An diesem Punkt berühren sich die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und Femizide. §218 StGB normalisiert den patriarchalen Besitzanspruch auf die Körper und Leben der Menschen, die Kinder in die Welt bringen können. Daher gehört ein neuer politischer Blick auf das Recht, eine Schwangerschaft abbrechen zu können, auch zur Gewalt- und Femizid-Prävention.

Zurück zu Olaf Scholz: Es ist schon lange nicht mehr provokant und mutig, sich als Feminist zu bezeichnen. Mut und Provokation beginnen dort, wo feministisch gesprochen und gehandelt wird. Es wäre nicht einmal außerordentlich mutig und es müsste nicht als überraschend deklariert werden, spräche Scholz sich für eine Reform von §218 aus, schließlich geschähe dies auf Basis bestehender sozialdemokratischer Positionen. „Schwangerschaftskonflikte gehören nicht ins Strafrecht“, heißt es im Wahlprogramm der SPD zur vergangenen Bundestagswahl. Schade, dass in den vergangenen Wochen niemand Scholz vor einer Kamera fragte, ob er hinter diesem Satz steht. Sollte dieser Satz für ihn von verzichtbarer Wichtigkeit sein, müsste er dies gut begründen können – gerade als Feminist.

Hier also noch drei Interviewfragen für diejenigen, die in den kommenden Monaten Olaf Scholz oder Robert Habeck (bei den Grünen sind alle Männer Feministen, richtig?) interviewen dürfen:

  • Wie erklären Sie als Feminist, warum das europaweite Erstarken von Rechtsextremen für sie kein akuter Handlungsanlass ist, die reproduktive Selbstbestimmung so gut wie möglich rechtlich abzusichern?

  • Wie sichern Sie den Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen auf eine Weise ab, dass er in der politischen Entwicklung der kommenden Jahre nicht gefährdet ist?

  • Sehen Sie für sich eine politische Verantwortung für reproduktive Rechte über diese Legislatur hinaus?

Marco Buschmann kann man diese Fragen freilich auch stellen.

Nach der Bundestagswahl 2025 wird es sehr wahrscheinlich die Chance, die Versorgungslage bei Abbrüchen zu verbessern und die Möglichkeit eines Abbruches rechtlich stärker abzusichern, auf längere Zeit nicht mehr geben. Mit der FDP zu verhandeln (und es ist ohnehin ein Witz, dass „die Liberalen“ sich gegen eine Liberalisierung des Abbruchs stellen) ist aussichtsreicher und muss versucht werden, denn in einer Koalition mit der Union wird eine Reform von §218 auf keinen Fall machbar sein.

Vielleicht muss man insbesondere mächtigen Männern noch einmal erklären, dass ein kluger feministischer Blick Weitsicht erfordert, der aktuell unbedingt die wachsende Zustimmung zum Rechtsextremismus mit bedenken muss. Feminismus ist zudem keine politische Haltung ist, die man selektiv anwenden kann, wenn man sie leben will, statt sie zu instrumentalisieren, nach dem Motto: ,Die berufliche und wirtschaftliche Stellung von Frauen stärken, ja. Aber eine gute reproduktive Gesundheitsversorgung und sexuelle Autonomie, das ist mir zu heikel, da sag ich lieber nix.‘

Die gestiegene Erwerbsquote der Frauen dient nicht nur ihrer eigenen Emanzipation und finanziellen Unabhängigkeit. Hübsche Wirtschaftskennzahlen – „unser Wohlstand“ – brauchen die Frauen, die mehr wollen und mehr dürfen als in der heimeligen Erinnerung an Westdeutschland. Auch wenn einige Männer beleidigt sind, weil ihre Chancen auf Beförderungen seitdem das AGG gilt etwas fairer verteilt sind, profitieren sie von feministischer Politik, die das BIP füttert sowie von der neuen Normalität, dass eine Chirurgin ihr Kniegelenk austauscht.

Der Text könnte an dieser Stelle noch eine Abzweigung nehmen und zeigen, weshalb es auch im Interesse von cis Männer ist, wenn Schwangerschaftsabbrüche legal und barrierefrei zugänglich sind. Doch diese Weise der feministischen Argumentation stellt sich selbst ein Bein. Feminismus will zwar ein gutes und freies Leben für alle, doch bedeutet dies nicht, dass von einzelnen feministischen Ideen oder Gesetzesreformen auch cis Männer direkt oder indirekt profitieren müssen. Erst recht darf dies keine Voraussetzung für ihre Unterstützung dieser Anliegen sein, da sie ihre Solidarität dann mit der Rechnung „Was habe ich davon?“ verknüpfen. Echte Solidarität kommt ohne den Blick auf die eigenen Interessen aus, sie muss bedingungslos sein.

Dazu, realistisch Feministin zu sein, gehört aktuell leider, linke Männer nicht beim Wort zu nehmen, wenn sie sich Feminist nennen. Weder Olaf Scholz noch dein nächstes Bumble-Date. Der Großteil der cis Männer, die glauben progressiv zu sein, sind nicht einmal T-Shirt-Feministen, weil sie bei der erstbesten Abwägung in einem Interessenskonflikt das feministische Anliegen erschrocken über Bord schubsen. Dass es für sie unbequem wird – gegenüber dem eigenen Chef oder den Buddys – dass sie andere überzeugen müssen, oder auch, dass es ein sehr guter Weg, um den Gehaltsabstand in Partnerschaften klein zu haben ist, sich in gleich alte Frauen zu verlieben, besser noch in ältere, statt in deutlich jüngere, das haben sie mit „Feminist“ nicht gemeint.

Eine gute Reflexion, um sich als cis Mann zu fragen, wie ernst man die Selbstbezeichnung Feminist denn meint, ist Bilanz zu ziehen, inwiefern man das eigene Leben und die Beziehung zu anderen seither umgestaltet hat und als wie mühevoll man das empfand.

Feministische cis Männer würden dafür auf die Straße gehen, wahlweise in ihren Bundestagsreden in das Mikrophon sagen, dass erst die Kostenübernahme von Schwangerschaftsabbrüchen von Krankenkassen – wofür die Entkriminalisierung notwendig ist – das finanzielle Risiko von heterosexuellem Sex gerecht verteilt und sie von dieser Verantwortung nicht länger ausgenommen werden wollen. Sie könnten einen Fonds gründen, in den sie freiwillig einzahlen und der für alle ungewollt Schwangeren die Kosten der Wege, des Arbeitsausfalls, der Kinderbetreuung und des Eingriffs übernimmt, damit ihre Solidarität erfahrbar wird.

Denke ich an feministische Männer, deren Handeln den Wortsinn erfüllt, fällt mir zuerst Friedrich Stapf (Öffnet in neuem Fenster) ein, der als Gynäkologe in Bayern in einem Alter von 78 Jahren noch immer praktiziert, weil er weiß, was die Schließung seiner Praxis für die Versorgungslage im Freistaat bedeuten würde.

Die Antwort auf den immer stärker werdenden Drift ins Autoritäre ist es nicht, vor rechtspopulistischen Lügen und Märchen einzuknicken. Stattdessen muss eine klare progressive Haltung die entsprechende Politik selbstbewusst dagegensetzen. Und das auch, um innerhalb von Europa klar zu machen, dass Deutschland eine moderne Demokratie sein will und autokratische Entwicklungen zurückweist.

Bei der Europawahl haben laut Analysen zur Wähler_innenwanderung (Öffnet in neuem Fenster) insbesondere die SPD und die Grünen Stimmen in die Gruppe der Nichtwählenden verloren. Infratest dimap bezifferte diese Werte bei 540.000 Wahlberechtigten, die zuvor die Grünen gewählt hatten und bei 2.490.000 Menschen, die zuletzt SPD gewählt hatten und bei der Europawahl keine Stimme abgaben. Die Wahlbeteiligung insgesamt stieg hingegen.

Die Gründe für die Entscheidung, sich der Europawahl zu enthalten, dürften vielfältig und höchst unterschiedlich sein. In Gesprächen begegnet mir unter progressiv eingestellten Menschen in den vergangenen Jahren immer wieder, sich von keiner der links verorteten Parteien ausreichend vertreten zu sehen. Zwar halte ich den Verzicht auf die Stimmabgabe für keinen geeigneten Umgang mit diesem Dilemma, kann die Wahrnehmung, politisch aktuell nicht adressiert zu werden, jedoch nachvollziehen. Parteien sollten sich daher mit dem Risiko auseinandersetzen, mehr Menschen ins Lager der Nichtwähler_innen zu verlieren, weil ein Teil der eher progressiv eingestellten Menschen nicht mehr weiß, welche Partei sie substanziell und verlässlich vertritt.

Der politische Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen steht als ein exemplarisches Thema für das Empfinden, dass die progressiven Parteien sich von Rechts vor sich hertreiben lassen und Mut verlieren, statt sich abzugrenzen und die eigenen Werte offensiver zu setzen. Schwangerschaftsabbrüche sind zudem – um das noch einmal zu betonen – keine Frage, die nur eine kleine Gruppe junger Menschen betrifft. Das Bewusstsein für die politische Signifikanz legaler Abbrüche ist in der Generation derer, die die Frauenbewegung der 70er mit erlebt haben, zudem größer als in den jüngeren Altersgruppen. Ein Großteil der Schwangeren, die einen Abbruch wählt, hat bereits Kinder. Mütter haben, so hat das WSI der Hans-Böckler-Stiftung empirisch gezeigt, seit der Pandemie erheblich Vertrauen in Politik verloren (Öffnet in neuem Fenster), was sich bislang nicht wieder erholt hat. Darauf ist von Seiten der progressiven Parteien bislang nichts gefolgt.

Mütter sind keine Nischenzielgruppe. Elternschaft ist eine über Jahre dauernde, persönliche sowie politische Erfahrung, die mit dem Auszug der eigenen Kinder als Prägung nicht plötzlich endet. Eltern können potenziell wie kaum eine andere Gruppe Interesse und Teilhabe an Politik junger Menschen fördern, die hoffentlich bei jeder Wahl, bei der sie mitwählen können, von ihren Stimmen Gebrauch machen und sich zuvor umfassend informieren. Im besten Fall lernen junge Menschen, dass Politik Menschen in all ihren unterschiedlichen Lebenslagen ernstnimmt und adressiert sowie eine Stimmabgabe nicht an erster Stelle Ventil für Frust oder Ausdruck von Ängsten sein muss. Daher sollte das Verstehen der Wahlentscheidung von jungen Menschen auch einbeziehen, wie sie das Vertrauen in Politik ihrer Bezugspersonen erleben.

Bis bald
Teresa

Drei aktuelle Links zu Schwangerschaftsabbrüchen:

Recht auf Abtreibung aus G7-Abschlussdokument gestrichen. Weiterlesen (Öffnet in neuem Fenster)

Legalisierung von Abtreibungen: Drei Bundesländer machen Druck. Weiterlesen (Öffnet in neuem Fenster)

42 Verbände und Organisationen fordern eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs nach gesundheitsförderlichen, verfassungsrechtlichen und menschenrechtlichen Gesichtspunkten. Weiterlesen (Öffnet in neuem Fenster)

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Lesungen und Gespräche mit mir 2024

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Gespräch mit Teresa Bücker und Verena Hubertz 19.00 Uhr
Amplifier im Amperium am Humboldthain
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26. Juni 2024 – Passau, Lesung
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29. Juni 2024 – Berlin, Festival „Philosophie Live!“ (Öffnet in neuem Fenster)
20.30 Uhr
gemeinsames Gespräch mit Axel Honneth

08. Juli – Hannover, gemeinsames Gespräch mit Eva von Redecker
https://www.literarischersalon.de/ (Öffnet in neuem Fenster)

16. Juli – Berlin, Moderation der Buchpremiere von Rita Bullwinkel
mit Übersetzerin Christiane Neudecker
English Theatre Berlin
Mehr Infos auf https://picadorprof.de/ (Öffnet in neuem Fenster)
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25. September – Gütersloh
»Wie feministisch ist Europa?«
Vortrag und Gespräch mit Teresa Bücker
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