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Ein Tag in Europa

Der vergangene Donnerstag war nichts für schwache Nerven. Am Nachmittag wurden im Bundestag in einer ungewohnt deutlichen und heftigen Debatte die verräterischen Umtriebe der AfD diskutiert, da konnte einem ganz anders werden. Ich sollte zu der Zeit längst im schönen Gießen an der Universität über den Umgang der französischen Medien mit dem Front National allgemein und der Familie Le Pen im speziellen reden - aber kurz vor meiner Abfahrt rief unser Sohn aus seiner Schule an: Krank, elend und musste nach Hause. Nun war der ganze Mann gefragt. Pflege statt Lehre, so ist das eben an solchen Tagen.

In Gedanken war ich in Paris, bei der Rede von Emmanuel Macron zur Zukunft Europas an der Sorbonne. Er begann mit geringer Verspätung, begrüßte auf altertümliche Art den gesamten anwesenden Staat - und dann, würden junge Leute sagen, lieferte er. Lieferte und lieferte. Diese Rede schien wie von Umberto Eco verfasst: Ein Monument an Gelehrsamkeit mit viel Raum für Gegenwart und Zukunft. Man findet dort die präzise Aufzählung aller europäischen Probleme, eine schonungslose Beschreibung der Lage und auch noch den Vorschlag, wie man aus dem Schlamassel rausfinden könnte.

Meine Sorge ist schon länger, dass Europa 2024 einfach abwartet, zumindest bis zur US-Wahl und sich die Zeit so lange mit Sport vertreibt. Die Koalition in Berlin ist derzeit ohnehin bedingt kommunikationsbereit. Macron hat wieder Schwung in alle Themen gebracht. Wären unsere Talkshows nicht so hoffnungslos national, wäre seine Rede auch bei uns das wichtigste Thema.

Besonders gut gefiel mit die Verankerung der europäischen Zukunft in den Werten des Humanismus, in einem philosophisch begründeten Menschenbild. In den letzten Jahren herrschte eine postmoderne Scheu vor der Formulierung von Werten wie Menschenrechten, sozialer und ökologischer Fairness und Rechtsstaatlichkeit. In der Globalisierung kann man so Geld verdienen, nicht genau hinsehen, was die Partner so für Werte vertreten und welchen Umgang sie pflegen. Was durch wegsehen verdient wurde, geht heute für Notrüsten drauf.

Die Pointe an Macrons Europarede ist die Rede selbst. Wir haben uns an eine Pluralität der Stimmen und Meinungen gewöhnt, alles ist ein Murmeln oder Flüstern oder Brüllen. Die herkömmliche Politik spricht für den Nationalstaat, die Verbände für ihre Interessen und auf social media wirken opake kommunikative Kräfte. In Deutschland erwartet man nicht viel von großen Reden, es gibt sogar eine gewisse Überheblichkeit gegenüber Viel- und Schönrednern. Aber die öffentliche Rede ist nunmal das demokratische und republikanische Medium par excellence. Diktatoren und Fürsten brauchen keine Reden, sie können einfach lügen und tun es auch ausgiebig. Nur die allen zugängliche, allen verständliche Rede bietet auch eine überprüfbare Verständigungsbasis darüber, wie es weiter geht mit der res publica. Und bei Macron lernt man: Auf allen Feldern muss es wieder rasant zugehen! Der miesen Stimmung wegen des bevorstehenden Untergang des Abendlandes setzt er ein freches Das wollen wir doch mal sehen! entgegen.

Macron traut sich etwas: Für alle zu sprechen und über alles. In seiner Rede hat er etwas simples, aber unersetzliches getan: Er hat uns gesagt, wer wir sind.

Und der Bundeskanzler? Der war an jenem Donnerstag sogar in unserer Stadt. Am Nachmittag hielt er eine Rede auf den Familienunternehmer-Tagen, wenige hundert Meter von mir entfernt. Wusste aber niemand. Schade, wir hätten zusammen Macron schauen können.

Beim Ausräumen des Hauses ihrer verstorbenen Mutter findet die Autorin Polly Morland ein Exemplar des Buchs von John Berger, A Fortunate Man. Es ist ein heute vergessenes, seinerzeit als wegweisend anerkanntes Porträt eines englischen Landarztes. Vorland macht sich dann auf die Suche nach der Frau, die heute genau diese von Berger beschriebene Praxis auf dem Land weiterführt. So entsteht ein Buch von eigener Gattung: Ein Gesellschaftsportrait im ländlichen Raum, eine Kritik des Gesundheitssystems und eine Reflexion über den Sinn des Lebens ist es auch.

In der Zeitung könnte ich dieses schöne Buch aus guten Gründen nicht rezensieren: der Übersetzer ist mein Freund Hans Jürgen Balmes. Er war auch mein Lektor bei “Montaignes Katze” und bleibt es noch für weitere Projekte. In meinen Augen ist es das perfekte Geschenk in diesem Jahr: politisch, poetisch und macht gute Laune.

https://www.fischerverlage.de/buch/polly-morland-ein-glueckliches-tal-9783103976229 (Öffnet in neuem Fenster)

Manchmal bin ich auf der Suche nach guten Serien, werde aber auf den üblichen Kanälen nicht fündig. Dann greife ich zu einer Abfrage, die so doof ist, dass es quietscht, aber überraschend gut funktioniert. Ich google beste neue Serie 2024. Oder, passt zum Wetter: beste neue englische Serie. Da habe ich schon die unglaublichsten Sachen entdeckt, etwa seinerzeit die Miniserie Olive Kitteridge – und nun eben die britische Krimiserie Criminal Record. Ich war direkt überzeugt, denn gleich zwei meiner LieblingsschauspielerInnen wirken an vorderster Front mit: Peter Capaldi, den ich aus The Thick of it als Darsteller von Alastair Campbell kenne und die großartige Cush Jumbo, die man in The Good Fight bewundern konnte. Es beginnt wie ein Krimi, nur ein Fall, ein Faden - und wenn daran gezogen wird, löst sich langsam aber sicher alles auf. Ganz organisch führt die Geschichte von einem Thema zum nächsten, von häuslicher Gewalt zum Rassismus, von der Armut zum Drogenproblem, aber nie wirkt es aufgesetzt. Capaldi gibt den existentialistischen Helden in bester Sartrescher Manier: Verzweifelt, hoffnungslos und postmoralisch, während Cush Jumbo im Gewühle von Rassismus und Misogynie vorankommen muss. Hochpolitisches Fernsehen!

https://tv.apple.com/de/show/criminal-record/umc.cmc.1sbjeoma6tvxgda6l0h4bb0x3 (Öffnet in neuem Fenster)

Heute habe ich eine spezielle Bitte: Wenn Ihnen dieser Newsletter zusagt, geben Sie doch eine Stimme ab beim Goldenen Blogger. Ich bin tollerweise nominiert und sogar auf der Shortlist für den Blogger des Jahres. Auf der stehen außer mir noch Tupoka Ogette und ein gewisser Robert Habeck. Beste Gesellschaft. Ich freue mich auf die Preisverleihung am Montag in Neuss. Abstimmen können Sie hier:

https://jetztabstimmen.com/ (Öffnet in neuem Fenster)

Zu den zehn beliebtesten Persönlichkeiten Frankreichs zählt der Meisterkoch Philippe Etchebest. Er betreibt zwei Restaurants in Bordeaux und moderiert zwei erfolgreiche Kochformate: die Entsprechung zum Restauranttester, seligen Angedenkens und Top Chef. Doch er ruht nicht auf seinem Lorbeer, sondern findet, jede und jeder sollte so circa hundert Standardgerichte draufhaben – und hat seinen Youtube Kanal dementsprechend in den Dienst der kulinarischen Pädagogik gestellt. Heute zum Trainieren und Lernen sein legendäres Zitronenhuhn:

https://www.youtube.com/watch?v=WNL3B_TJ-BU (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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