Buchbesprechung: #soists
von Rainer Langhans u. Christa Ritter
Selfies von der Kommune bis Trump, Pb., München 2017, 190 S., 9,90 €

Es ist schon lange her, dass ich ein so interessantes Buch gelesen habe. Bereits im Jahr 2020 hatten wir im Rahmen unseres Online-Kongresses »Gesellschaft und Spiritualität« Rainer Langhans interviewt, und er erzählte mir damals auch von seinem Buch. Jetzt nach der Lektüre wird mir vieles klarer, was Rainer damals mit uns besprach. Sein Standort in Bezug auf die gegenwärtige Situation der Gesellschaft und des Individuums ist sehr ungewöhnlich, um es zurückhaltend zu formulieren. Deshalb ist es nicht einfach, seinen Standpunkt zu verstehen und seine Analysen nachzuvollziehen. Sein Blick ist aber vom ideologischen Schleier befreit, und das ist eine wichtige Qualität, die so gut wie niemand hat.
Was heißt das: vom ideologischen Schleier befreit? Der philosophische Ort der Wahrheit ist der Ort jenseits von gut und schlecht. Es ist der transzendente Blick auf die Wirklichkeit, der nicht mehr parteiisch oder von einer Ideologie geprägt ist. Man sieht einfach das, was ist. Man sieht die realen Energien und die wirkenden Kräfte, lügt sich nichts in die Tasche und verschleiert keine Wahrheiten.
Langhans spricht davon, dass das Private politisch wird. Das bedeutet für ihn, unsere innersten, privaten Geheimnisse zu offenbaren. Er spricht von einer Mördergrube. Damit meint er, dass wir gerade unsere schlechten Eigenschaften und unsere Bosheiten (unseren inneren Faschisten) vor den anderen verstecken und nach außen einen Schein der politischen Korrektheit zur Schau stellen. Solange wir in diesen Verlogenheiten sind, können wir aber nicht wachsen und auch nicht befreit werden. Im Grunde suchen alle Menschen nach Liebe. Wir sind aber aufgrund unserer materialistischen Einstellung dazu verurteilt, im Krieg zu leben. Wir sind im Krieg mit anderen Nationen, mit unseren Mitmenschen und mit uns selbst.
Seine Erkenntnis 50 Jahre nach dem 68er-Ereignis ist, dass diese Erfahrung von 1968 eine spirituelle Revolution war. Deshalb brauchen wir jetzt keine Revolution, sondern wir sollten diese neuen Errungenschaften, diese neue Welt kreativ umsetzen. Eine besondere Rolle spielt hierbei für ihn das Internet. Das Internet ist die Fortsetzung der Kommune auf der virtuellen Ebene. Heute sprechen wir von Communities. Nicht nur geht damit diese kapitalistische Grundidee des Privatbesitzes und des Wettbewerbs zurück – alle verbinden sich mit allen –, wir werden gleichzeitig feinstofflicher, weil es um Daten und Informationen geht und nicht um grobstoffliche, physische Dinge. Das ist ein Weg zum spirituellen Bewusstsein.
Dabei macht Langhans eine wesentliche Unterscheidung, die er seinem indischen spirituellen Lehrer verdankt. Diese Unterscheidung existiert nämlich im Westen nicht. Die indische Spiritualität unterscheidet nicht nur zwischen materiell und spirituell, sondern zwischen grobstofflich, feinstofflich und spirituell. Es gibt also drei Ebenen. Der Verstand und das Denken sind feinstofflich, aber immer noch stofflich, und damit Teil der materiellen Realität. Aus dieser Unterscheidung entstehen für Langhans unendlich viele klare Erkenntnisse. Diese können hier nicht im Detail dargestellt werden, doch sie führen zu diesem völlig ungewöhnlichen und anderen Standort, von dem aus er die heutige Gesellschaft in einer originellen und erleuchtenden Weise interpretieren kann. So spricht er sehr erhellend über Nazis, Donald Trump, das Internet, das Älterwerden, Neoliberale, AfD, Künstliche Intelligenz und über die »Ekstase-Techniken« Sex, Drugs, Rock 'n' Roll sowie die RAF, die der Versuch waren, diese disruptive Erfahrung der liebenden Einheit von 1968 wieder herzustellen, aber nur ein provisorisches, materielles Abziehbild davon sind.
Allzu viel wäre über dieses wichtige und wertvolle Buch zu sagen. Lassen wir es selbst sprechen:
»68 war das plötzlich umgekehrt: da war plötzlich alles da und alles richtig. Und es war alles zeitlos. Die Erfahrung, die wir alle machten, war eine zeitlose, eine Ewigkeits-Erfahrung.« (82)
»Denn wir hatten ja einmal diese Nahtoderfahrung.« (96)
»Es war eine spirituelle Revolution. 68 war eine spirituelle und globalere Revolution als die vielen Ansätze, die so vorgegeben hat.« (106)
»Der alte Körper, die alten Muster des Körpers, im Wesentlichen der Verstand, das Gemüt, müssen sterben …« (110)
»Damals war unser wesentliches Gefühl: Was wir erlebten, war wirklicher als alles, was wir bis dahin als Wirklichkeit kannten. Das war gleichzeitig so selbstverständlich wie nichts zuvor. Selbst und verständlich.« (115)
»Denn das, was an 68 links war, tauchte erst nach diesem großartigen Anfang, dem ersten Jahr der Kommune, auf. Dieser Geist gehört nicht in die Welt, geschweige, dass man ihn links oder rechts einordnen konnte.« (120)
»Dieses richtige Sehen war uns nur einen kurzen Augenblick gegeben. Da wurde uns der Graue Star abgenommen, und wir konnten klar sehen, klarer denn je. So ist's. So ist's. So ist's.« (135)
»So konnten wir nicht sehen, was Wirklichkeit war, nämlich dass wir seit diesem Urknall eines merkwürdigen, unerklärlichen Ereignisses neue Wesen waren. Wir sahen nicht, dass wir in einem gewissen Maße erleuchtet sind.« (135)
Ronald Engert
(Erschienen in Tattva Viveka 100 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre))
Das Buch kann hier auf der Webseite von Christa Ritter bestellt werden:
https://www.nach-innen.com/buchladen/ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)