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Über die Fähigkeit, etwas nicht verstehen zu müssen

Vor einigen Jahren, ich war irgendwo im letzten Drittel meines Studiums, hatte ich das Glück, eine Poetikvorlesung von Alois Hotschnig besuchen zu dürfen.

Ich hatte tatsächlich bis zu diesem Zeitpunkt nur ein einziges Buch von ihm in meinem Bücherregal, Die Kinder beruhigte das nicht. Gelesen hatte ich es damals nicht. Ich hatte es einige Zeit zuvor gekauft und auf einer Zugreise nach Klagenfurt eingepackt.

Ich saß also im Zug, voll positiver Gefühle und Vorfreude auf meine beste Freundin, es war Vormittag, ich hatte gefrühstückt, war bereits in Schwarzach/St.Veit umgestiegen (übrigens der kälteste Bahnhof der Welt!!), die Sonne schien und ich packte das Buch aus. Ich schlug die erste Seite auf, blätterte zum Beginn der Geschichte und BÄM – ich fand bereits die erste Seite ziemlich befremdlich. Ich las noch ein paar Seiten, fühlte mich immer unwohler und merkte, dass ich als Leserin in die Rolle eines Voyeurs, der eigentlich der Erzähler selbst auch ist, rutschte, dass ich diese Geschichte irgendwie so überhaupt nicht verstand, mich ständig fragen musste, was da eigentlich los ist und mich dieses „Warum“ nicht losließ. Der Text beginnt an einem See. Wunderbar – ich fahre gerade Richtung Wörthersee und bin voller Licht und Sonne – und dann kommt da so ein Text, der irgendwie an ebendiesem See spielen könnte und nimmt mir temporär all diese guten Gefühle.

Weg damit, war dann meine Reaktion. Als bibliophile Person hat man ja nicht nur ein Buch mit auf Reisen, sonderen mehrere und so steckte ich den Hotschnig wieder in meine Tasche, packte irgendein anderes Buch aus und vertiefte mich die Rest der Fahrt in diesen anderen Text.

Als die Poetikvorlesung mit Alois Hotschnig im Vorlesungsverzeichnis stand, meldete ich mich an, weil ich die Begegnung mit Autoren immer sehr spannend und bereichernd finde. Im Vorfeld gab ich Die Kinder beruhigte das nicht dann aber eine zweite Chance, weil es mir irgendwie unangenehm gewesen wäre, ohne ein ganzes Buch gelesen zu haben, zu der Vorlesung zu erscheinen.

Ich startete also ohne Erwartungen und Ansprüche an den Text und las das gesamte Büchlein, sehr zu meiner Überraschung, in einem Zug durch. Nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil mich der Text diesmal fesselte, nicht mehr losließ, aber auch keine negativen Gefühle hervorrief. Mehr noch – er gefiel mir sogar sehr gut.

Die Vorlesung kam, es war eine sehr angenehme, kleine Runde, Alois Hotschnig erzählte ein wenig von seinen Schreibprozessen, es war ein guter, spannender Austausch. Irgendwann warf jemand ein, dass Die Kinder beruhigte das nicht als irgendwie verstörend wahrgenommen wurde, der Text nicht verstanden wurde, es wurde nach einem „Warum“ gefragt. Und in diesem Moment wurde mir so richtig bewusst, dass es kein „Warum“ gibt. Es ist einfach so. Manchmal muss man Texte so stehen und wirken lassen, ohne Gründe für jedes Detail zu suchen, ohne alles zu interpretieren, ohne alles zu hinterfragen (gar nicht so einfach als Literaturwissenschafter*in). Der Autor hat sich bestimmt seine Worte wohl überlegt – aber nicht immer kann und will man seine Beweggründe in Worte fassen oder erklären – der Text steht für sich – und manche Texte lesen sich leichter, wenn man die Frage nach dem „Warum“ einfach nicht stellt. Ich muss nicht immer alles verstehen. Es darf auch manchmal etwas einfach so sein, wie es ist.

In letzter Zeit kam mir oft der Gedanke, dass es sich mit Hotschnigs Text (und vielen anderen, Die Kinder beruhigte das nichtist nur der Text, bei dem mir dieser Gedanke am deutlichsten in Erinnerung geblieben ist) eigentlich ähnlich wie mit Kindern verhält.

Mein Kind eskaliert (für mich!) völlig grundlos. Damit meine ich nicht, dass es keinen Grund hätte zu explodieren, sondern dass ich den Grund nicht kenne und in dem Moment nicht sehe.

Meine erste Maßnahme, wenn eines unserer Kinder emotional zusammenbricht, war lange Zeit immer nach Gründen suchen, um dann adäquat zu reagieren und zu trösten, reparieren etc.

Klappt oft ja ganz gut, vor allem bei Kleinkindern (der falsche Becher, der Ärmel hat drei Wasserspritzer abbekommen, die Mütze wollte selbst aufgesetzt werden,...). Je größer die Kinder werden, desto größer werden aber auch die Gefühlsausbrüche aufgrund unsichtbarer Faktoren (Streit in der Schule, andere Erwartungen, Sorgen,...). Da hilft dann kein andersfarbiger Becher, sondern nur reden. Wenn aber das Kind gerade so in seinen Gefühlen feststeckt, dass man gar nicht die Möglichkeit hat, durch Gespräche herauszufinden, wo genau der Schuh drückt, dann finde ich den Gedanken sehr hilfreich, den mich letztlich die Literaturwissenschaft gelehrt hat: Ich muss nicht immer alles verstehen. Genau so, wie es egal ist, warum die Personen in Hotschnigs Buch so sind, wie sie eben sind, ist es auch egal, warum mein Kind in dem Moment so vollkommen außer sich ist. Wichtig ist, es aufzufangen. Ich frage also nicht, warum es so aufgeregt ist, sondern versuche zu spüren, was das Kind braucht. Manche Kinder müssen sich die großen Gefühle aus Kopf & Herz weinen, andere brüllen sie lieber raus, wieder andere möchten einfach in Stille ihre Gedanken und Emotionen sortieren.

Was ich also mache, ist simpel – und doch muss man es als Mama, der bei seelischen Ausnahmezuständen des Kindes sowieso das Herz blutet, aushalten lernen. Ich sitze neben dem tobenden Kind (wenn es so viel Nähe zulässt) oder vor seiner Zimmertür. Ich bleibe präsent. In Stille. Ich sage nichts, ich bin einfach nur da. Und nach einiger Zeit (wobei das relativ ist, das können zwei Minuten oder zwei Stunden sein) merke ich, wie sich das Kind entspannt. Die großen Gefühle sind ausgepufft, es gibt eine Gesprächsbasis, es kommt zu mir und lässt sich trösten. Die Gründe für den Ausraster erfahre ich manchmal. Nicht immer. Und das ist auch völlig ok so, denn ich weiß, ich muss nicht alles verstehen.

PS: Lest Die Kinder beruhigte das nicht– wirklich ein tolles Buch!

PPS: Dieser Text ist für meine Teufelsbrut – in Erinnerung an all die ausgehaltenen und gemeinsam geschafften Zusammenbrüche. Und in Zuversicht, dass wir alle, die da noch kommen, genauso schaffen werden.

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