Für sie: ein Wunder.
Anna Franken designt mit Wundersee adaptive Mode für Rollstuhlfahrerinnen
Anna Franken weiß, dass die Leute sich gerne zu ihr umdrehen. Sie gibt den Hinguckern echte Hingucker: Die 27-Jährige trägt ihre selbst designte Mode, verspielt, farbenfroh, praktisch, nachhaltig. Und geeignet für besondere Bedürfnisse, um die sie aus Erfahrung weiß. Anna Franken sitzt wegen einer neurodegenerativen Muskelerkrankung seit fast zwanzig Jahren im Rollstuhl, und über unpraktische Mäntel, Knöpfe und Reißverschlüsse an unerreichbaren Stellen hat sie sich schon oft geärgert. Mit ihrem adaptiven Modelabel Wundersee Fashion designt die Bitburgerin deshalb barrierefreie Mode für Rollstuhlfahrerinnen, die selbstbestimmtes An- und Ausziehen selbstverständlich macht – eine Lücke auf dem Modemarkt. Im November 2022 hat sie ihren Onlineshop eröffnet.
Foto: Wundersee
„Kleidung für Rollstuhlfahrerinnen muss anders geschnitten sein, damit sie auch im Sitzen schön fällt und ausreichend Bewegungsfreiheit bietet. Die Verschlüsse müssen an erreichbaren Stellen angebracht sein. Magnet- und Reißverschlüsse sind einfacher zu bedienen als Knöpfe. Die Stoffe müssen dehnbar sein und ein Mantel, auf dem man als Rollstuhlfahrerin draufsitzt, ist unpraktisch“, erläutert Anna Franken die Ansprüche, die barrierefreie Mode erfüllen muss. „Und Oberteile sollte man über den Kopf an- und ausziehen können.“
Für ihre Geschäftsidee hat die Modedesign-Studentin im vergangenen Jahr den mit 1000 Euro dotierten Sonderpreis des Wettbewerbs Pioniergeist gewonnen. „Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass meine viele Arbeit wahrgenommen und gewürdigt wird“, sagt Anna Franken, die nach dem Bachelor in Modedesign für dieses Jahr ihre Masterarbeit plant. Nach dem Abitur „wollten mir die Leute das Modedesign-Studium natürlich erstmal ausreden. Das ist nicht das Richtige für Dich, das geht doch gar nicht, sagten sie. Ich war aber der Meinung, dass das sehr wohl geht, und dass ich das sehr wohl lernen kann.“
Die Bedenkenträger hatten vor allem ihre HMSN Typ 1-Erkrankung im Blick, nicht Anna Frankens eisernen Willen. HMSN steht für Hereditäre Motorisch-Sensible Neuropathie. „HMSN 1 – man nennt es auch Charcot-Marie-Tooth-Syndrom – ist eine Erkrankung der Nervenleitbahnen, sie degenerieren an bestimmten Stellen allmählich, dadurch werden Reize nicht mehr an die Muskeln weitergeleitet, vor allem im Bereich der Arme und Beine, dadurch kommt es zu Muskelabbau“, erläutert Anna Franken.
Die nicht heilbare, fortschreitende Erkrankung beginnt an den Füßen, geht dann auf die Unterschenkel über, die Hände und Unterarme, gelegentlich sind auch die Oberschenkel betroffen. Schon sehr früh hatten Anna Frankens Eltern bemerkt, dass die Tochter Probleme mit dem Laufen hatte, weil sie häufig umknickte; bis zur endgültigen Diagnose dauert es jedoch Jahre. Seit der Grundschulzeit gehört der Rollstuhl zu Anna Frankens Leben, ihre Hände kann sie eingeschränkt nutzen. Ihre Stücke lässt sie deshalb von Tilda Organic Clothing aus Trier schneidern; die Inhaberin des Labels kennt sie von der Hochschule Trier.
Was bedeutet HMSN 1 für Anna Frankens Alltag? „Es kommt vieles zusammen: Ich bin nicht ganz so belastungsfähig, erschöpfe schneller, habe eine Skoliose, also eine Wirbelsäulenverkrümmung, öfters Rückenschmerzen, und natürlich ist da das Gesellschaftliche: Die Leute gucken, es ist nicht alles möglich durch den Rollstuhl und meine Erkrankung, ich bin in meiner Feinmotorik eingeschränkt.“
Eingeschränkte Feinmotorik und Nähen – wie geht das zusammen? „Mit meinen Tricks“, sagt Anna Franken, „so wie ich für viele Alltagstätigkeiten Tricks entwickelt habe.“ Für das Studium darf Anna Franken zudem die Unterstützung einer Assistentin in Anspruch nehmen. Während des Bachelor-Studiums designt sie fantasievolle, üppige Haute Couture, jetzt konzentriert sie sich auf adaptive Mode. Dafür hat sie ihr eigenes Label gegründet. Wundersee – „weil es für mich ein kleines Wunder ist, dass ich Kleidung alleine an- und ausziehen kann, weil es mir darum geht, Wunder zu sehen. In dem Namen steckt viel Bedeutung.“
In 2023 will Anna Franken Wundersee voranbringen. Adaptive Mode ist immer noch eine Nische auf dem Modemarkt, und das, obwohl laut Weltgesundheitsorganisation WHO allein in Europa jede*r Fünfte mit einer Behinderung lebt und barrierefreie, auf besondere Bedürfnisse zugeschnittene Mode bräuchte. Nur langsam werden diese auch von großen Labels gesehen. Vor wenigen Wochen, im Oktober 2022, hat die online-Mode-Plattform Zalando adaptive, barrierefreie Mode ins Programm genommen und arbeitet dafür vor allem mit Eigenmarken sowie Tommy Hilfiger Adaptive zusammen, das im Jahr 2017 gestartet ist.
Anna Franken träumt von Wundersee-Stücken für Rolli-Männer und Kinder. „Eins nach dem anderen. Ich habe Zeit.“
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