„Das Wichtigste am Rhythmus sind die Pausen“
Ein Gespräch mit Martin Schleske, Geigenbauer und Autor, über Stille, Verausgabung und Kraftquellen
Den Geigenbauer Martin Schleske „kenne“ ich schon eine Weile. Mit Begeisterung las ich sein erstes Buch „Der Klang – vom unerhörten Sinn des Lebens“ (2010, Kösel-Verlag). Für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung sprach ich mit Schleske vor vielen Jahren über seine Suche nach dem perfekten Klang und die Bedeutung des Geigenlacks dabei. Bei meinem Gespräch für RiffReporter unterhielten wir uns über seinen Tagesrhythmus und die Notwendigkeit von Schaffenspausen.
Mögen Sie mir ein wenig von Ihrem Alltag erzählen? Leben Sie beziehungsweise praktizieren Sie einen regelmäßigen Tagesrhythmus, gibt es wiederkehrende Rituale in Ihrem Leben, Herr Schleske?
Das Wichtigste an meinem Tagesrhythmus ist sicher, wie ich den Tag beginne. Nach dem Frühstück gehe ich mit unserem Hund. Tiere sind starke Gewohnheitswesen und ein Hund zwingt einem quasi einen gewissen Rhythmus auf. Und auch ich liebe es, immer wieder die gleichen Wege zu gehen.
Wir leben in der Nähe des Lech. Ich gehe die Waldwege am Hochufer entlang, die Flussbäume dort haben eine gewaltige Lebenskraft. Man merkt einfach, ob ein Baum am Fluss gewachsen ist oder nicht. Die Wege, die ich morgens gehe, und die Plätze, an denen ich mich dort hin und wieder niederlasse, brauche ich, um die Seele aufzuwecken, um ganz präsent zu sein für den Tag.
Wenn ich dann zurückkomme, gehe ich nicht gleich in die Werkstatt, sondern zunächst auf den Spitzboden unseres Werkstatthauses. In einem kleinen Raum, den man nur mit einer Leiter erreichen kann, habe ich mir zwischen den uralten Balken (aus dem 18. Jahrhundert) eine Dachkapelle eingerichtet. Durch ein Fenster in der Dachschräge fällt Licht auf einen kleinen Holzstuhl. Außerdem gibt es dort oben eine kleine Liege und eine Kniebank, sowie einige Bücher, vor allem verschiedene Bibeln.
Martin Schleske (Foto: Astrid Purkert)
Die Dachkapelle ist für meinen Lebensrhythmus wohl einer der wichtigsten Orte. Hier lasse ich mich nieder, nehme die Bibel in meine Hände, die ich wie eine Schale halte. Mit diesem Ritual mache ich mir bewusst, dass ich lebendiges Wasser trinke, wenn ich in der Bibel oder anderen Weisheitsschriften wie dem „Tao Te King" von Laotse lese. Ich tauche ein in die Gebetsgegenwart und erst danach gehe ich an die Werkbank.
Wenn ich tagsüber irgendwie nervös werde durch Sorgen, Überforderung, Ängste oder Stress, ist es das Allerwichtigste für mich, mich zu unterbrechen. Für fünf oder zehn Minuten gehe ich dann wieder in die Dachkapelle, an diesen Platz der Stille; das wirkt Wunder und es ist kaum zu glauben, wie wenig Zeit an diesem Ort ausreicht.
Wichtig bei all dem ist, dass ich mich unterbreche. Würde ich ohne Unterbrechung an der Werkbank weiterarbeiten, würde ich, das zeigt mir die Erfahrung, die Dinge, die ich mache, nicht gut machen. Wenn die Seele signalisiert, dass es nicht mehr geht, ist es wichtig, dem nachzugeben und mich zu unterbrechen. Beim Tagesrhythmus ist es wie in der Musik. Die Unterbrechungen, die Pausen, sind das Wichtigste.
Wie meinen Sie das mit den Pausen genau?
In den Pausen atmet die Musik. Die Musik lebt von diesem Luftholen. Jede Art von Musik, ob nun klassische Musik, Blues oder auch improvisierte Musik, will etwas erzählen. So eine Erzählung braucht Betonungen, Akzente und Pausen. In den Pausen wird Luft geholt, der Zuhörer kann das Gehörte aufnehmen, bevor das nächste gesagt wird.
Wenn die Musik pausenlos wäre, dann wäre sie nichts als ein Quasseln und Plappern. Wenn wir in unserem Leben keinen Rhythmus haben, keine Pausen, kein Luftholen, dann ist unser Leben ein nichtsagendes Quasseln und Plappern. Man merkt einem Leben (wie auch der Musik) an, ob es aus der Stille, aus dem Atmen, aus dem Luftholen kommt.
Wie sieht das Luftholen ganz praktisch bei Ihnen aus?
Vor einer Weile bin ich in der Bibel in den Sprüchen Salomos (5,15) auf ein wichtiges Wort gestoßen. „Trinke Wasser aus deiner Quelle und was quillt aus deinem Brunnen.“ Das ist eine Mahnung, die eigenen Quellen zu kennen, aus denen ich schöpfe. Ich muss wissen, wo ich mich stärken kann.
Es gibt wohl mindestens sieben solcher Quellen (*), die jeweils wieder ihre „Unterquellen“ haben. Ich persönlich kenne meine Quellen, aus denen ich Kraft schöpfen kann. Die Quellen, die mich Luft holen lassen, sind die Natur, das Gebet und die Weisheitsliteratur.
Martin Schleske (Foto: Astrid Purkert)
Wenn ich im Tagesverlauf merke: Jetzt brauche ich körperliche Bewegung, dann gehe ich raus, das ist dann wichtiger als alles andere. Die Dinge, die ich tue, bekommen eine andere Qualität, wenn ich acht gebe, wie es mir geht. Ich lebe dann im Rhythmus zwischen Innenraum, der Werkstatt, und Außenraum, dem Gang in die Natur. Ich brauche dieses Atmen im Wald. Der Duft des Waldes, das ist eine Urkraft.
Vor einer Weile war ich wegen einer Konzertlesung drei Tage in Dortmund, in einem Hotel in der Innenstadt. Danach war ich am Ende. Mich kann man mit einer Woche Stadt an den Rand meiner seelischen Kraft bringen. Ich brauche einfach Bäume.
Um im Rhythmus zu leben, muss ich wissen: Wo (oder wann) erneuere ich mich und wo (oder wann) verausgabe ich mich? Neben dem Verausgaben, sich einer Aufgabe mit Herzblut hinzugeben, muss es Zeiten der Erneuerung geben. Beides ist wichtig, der Rhythmus zwischen beidem ist wichtig. Es muss nicht heißen: „Sei immer entspannt!“, das finde ich ein ziemlich blödes Motto, dieses Diktat, ständig entspannt zu sein. Wir dürfen uns verausgaben, hingeben, aber wir sollen auch wissen, wann es Zeit ist, zu unterbrechen und aus unseren Kraftquellen zu schöpfen.
(*) Die sieben Kraftquellen, von denen Martin Schleske spricht, sind:
1.) Gebetsquellen (Kontemplation, Lobpreis, hörendes Beten, Stille);
2.) Weisheitsquellen (zum Beispiel die Vertiefung in die Weisheit der Bibel);
3.) Kreativität (zum Beispiel Musik, Tanz, Malerei);
4.) Gemeinschaft (Dialog, Austausch, Freundschaft)
5.) Körperlichkeit (Bewegung, Zärtlichkeit)
6.) Schöpfung (Natur, Begegnung mit der Lebenskraft, die uns umgibt)
7.) Ritus (Rituale, Regelmäßigkeit, Rhythmus, Balance zwischen Arbeit und Feiern, Berufung und Sammlung, Aufgabe und Ruhe etc.)
Dies ist die leicht veränderte Version eines Artikels von mir, der bereits bei RiffReporter erschienen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) ist.