Gebären, adoptieren, besserer Mensch sein
Gebären
Viele Menschen, insbesondere die Gebärfähigen, kennen einen ganz bestimmten Druck, der auf ihren Körper ausgeübt wird. Es ist der Druck zu gebären.
Von unserer Kindheit an hören wir aus allen Seiten, dass wir früher oder später gebären würden. Dass Kinderkriegen fest zum Leben gehöre. Wir werden nicht gefragt, ob wir Kinder erzeugen möchten, sondern wie viele, und welches Geschlecht wir uns am ehesten wünschen. Weil es scheinbar feststeht, dass wir gebären.
Je fortgeschrittener das Alter, desto öfter und selbstverständlicher hört die gebärfähige Person, doch endlich mal ein Kind erzeugen zu sollen. Das sei das größte Glück im Leben. Das mag ja auch so sein. Aber das gleichzeitig auch die größte Schwierigkeit im Leben sein kann, verschweigen sie.
Vorletzten Sommer fragte mich eine sehr alte Verwandte im Dorf, ob ich Kinder hätte. Ich verneinte. Sie sagte ich solle doch eins machen. “Hast du Kinder, Tante?” fragte ich sie. Sie bejahte. “Wie hast du denn die Mutterschaft erlebt?” fragte ich sie. Sie brach in Tränen zusammen und sagte: “Sehr schmerzhaft.” Vielleicht ist es kein unbedingt guter Ratschlag, dann, doch unbedingt ein Kind zu erzeugen?
Von meiner Cousine erfuhr ich später, dass die Tante sehr früh sehr viele Kinder bekam, ich glaube zu erinnern, dass sie sechs oder sieben sagte, und dann ihr Mann plötzlich starb. Diese Geschichte spielt im Kurdistan der 1970er Jahre. Eine junge Mutter, aussichtslos, mittellos, ohne Arbeit, steht plötzlich als Witwe da, mit mehreren Kindern. Es ist tatsächlich ein Albtraum. Viele ihrer Kinder sollen ohne ihr Einverständnis in Einrichtungen gelandet sein, eins sogar gestorben.
Es mag unwahrscheinlich sein, dass ich ebenso einen so schweren Schicksalsschlag erleben würde wie diese Tante. Dennoch halte ich Kinder auch mit höherer Bildung und besseren Startbedingungen für eine Zumutung. Wegen der großen Verantwortung, der mentalen und emotionalen Belastung, und wegen der fehlenden Unterstützungsangebote seitens des Staates, wegen der Kosten. Ein Kind zu haben ist ein Risiko, in die Armut zu stürzen, bei mehreren Kindern steht es fest, vor allem für Alleinerziehende.
Eine Gesellschaft, die keine gute Zukunft für Kinder ermöglicht, ist eine Gesellschaft, die sich ein Scheißdreck für Kinder interessiert. Eine Gesellschaft, die sich ein Scheißdreck für das Kindeswohl interessiert, darf sich bei einem Demografieproblem wie das in Deutschland nicht wundern. Was geschehen muss ist eine gerechte Kinderpolitik anstatt Gebärzwang mit Gesetzen wie §218 StGB und sozial erzeugtem Druck durch permanente Ratschläge, um Schwanger zu werden.
Adoptieren
Instagram zeigt mir immer mehr animal rescue videos, also Videos, die zeigen, wie ausgesetzte Tiere gerettet werden. Es sind schöne, emotionale Videos, die das Vertrauen an die Menschen wiederherstellen. Ich habe wenig Träume, aber einer davon lautet so: Eines Tages möchte ich mir ein Haus mit Garten leisten können, um darin sehr sehr viele kranke und ausgesetzte Tiere aufzunehmen, ihnen das gute Leben zu ermöglichen und sie zu verwöhnen.
Und dann gibt es leider immer wieder vorwurfsvolle trojanische Pferde unter den Tierrettungsvideos, die sich zwar als Videos im Sinne von Tierschutz verkleiden, aber in Wahrheit für sich eine moralische Überlegenheit beanspruchen und emotional erpressen wollen. Darin werden Tiere gezeigt, die oft “Rassenhund” oder “Rassenkatze”, sprich normschön sind. Emotionale Erpressung geht nämlich nicht so gut mit einem schwarzen blinden Straßenköter aus der rumänischen Autobahn, dem der halbe Schwanz und ein Ohr fehlen, abgemagert und alles. Das Tier muss gut und gesund aussehen, schön genug für eine Futterwerbung.
Und der Mensch, der für das Video dieses normschöne Tier ganz bewusst ausgesucht hat, weil er damit besser manipulieren kann, sagt dann so etwas wie: “Warum würde ein Mensch dieses Kind nicht adoptieren wollen? Warum will ein Mensch ein so schönes Kind nicht bei sich zuhause haben? Ich verstehe nicht, wie Sie ein so liebes Tier nicht adoptieren möchten. Verdient dieses Wesen etwa, hier zu leben? Bitte, adoptieren sie dieses Tier, es ist so arm dran.”
Ich weiß, warum ein Mensch kein Tier bei sich zuhause haben möchte oder kann, ganz unabhängig davon, wie normschön die Tiere in dem lokalen Tierheim sind. Es liegt in der Regel daran, dass das Leben nicht gut dafür geeignet ist, ein Tier zu adoptieren. Weil man beispielsweise wenig Geld hat. Weil man nicht weiß, wie lange man an einem Ort bleibt. Weil man beispielsweise keinen Führerschein hat und nicht mobil ist und es sich noch schlechter bewegen lässt, wenn man dazu noch ein Tier oder sogar mehrere hat. Weil wir im Neoliberalismus einsam und isoliert sind und viele Menschen nicht wüssten, wer sich um diese Tiere kümmern könnte, wenn sie mal irgendwohin reisen müssten oder plötzlich so krank werden, dass sie es nicht länger können.
Wenn man kein Tier aus der Straße oder dem Tierheim aufnimmt, liegt es nur in seltensten Fällen daran, dass man ein tierhassendes, egoistisches Arschloch ist. Diese emotionale Erpressung und die Unterstellung, dass man ein egoistisches Arschloch sei, wenn man sich bewusst für ein tierfreies Leben entscheidet, unterscheidet sich kein Millimeter von dem Gebärzwang durch die emotionale Erpressung, dass man ein egoistisches Arschloch sei, wenn man sich bewusst für ein kinderfreies Leben entschieden hat.
Ich sehne mich nach einer Welt, in der es Menschen klar ist, dass manche Entscheidungen leichter sind als andere, und das Leben sehr komplex. Ich sehne mich nach einer Welt, in der es Menschen klar ist, dass wir uns ganz oft mehr wünschen – mehr Liebe, mehr Menschen, mehr Tiere, mehr Geld, mehr Platz – es uns aber politisch und strukturell nicht gegönnt wird. Ich sehne mich nach einer Welt, in der es Menschen klar ist, dass wir strukturelle Probleme mit persönlichen Entscheidungen nicht durchbrechen können, und am Ende uns selbst schaden könnten. Wir verdienen ein Leben, das so frei von Sorgen und Ängsten ist wie möglich. Und wir dürfen unser Leben so gestalten, dass es uns, unseren Bedürfnissen und Wünschen einigermaßen passt. Und wenn das für manche ein Leben ohne Kinder und Tiere bedeutet, dann verdienen sie es, ohne dass ihnen permanent ein schlechtes Gewissen gemacht wird.
Mit ganz lieben Grüßen
Sibel Schick
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