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Neulich sah ich mal wieder eine Frau, beim Traghetto Santa Maria del Giglio, was immer noch eine Seltenheit ist. Die venezianischen Gondeln sind nach Saudi-Arabien das letzte Bollwerk des Patriarchats. Unter den 440 Gondolieri gibt es nur fünf Frauen.

https://www.youtube.com/shorts/hLR8uIuCcc4 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Diese fünf Frauen sind alle Töchter von Gondolieri. Das ist kein Zufall, es geht hier auch weniger um die Aufrechterhaltung einer kostbaren Familientradition, als um knallhartes Geschäft. Dank eines Wahlkampfgeschenks des venezianischen Bürgermeisters dürfen Gondolieri-Lizenzen seit 2020  vererbt werden. Diese Lizenzen haben einen Wert von einer halben Million Euro. Schwarz natürlich. Wer aus einer Gondoliere-Familie stammt, erbt nicht nur die Lizenz des Vaters, sondern darf auch die Abschlussprüfung unter erleichterten Umständen ablegen: Er/sie muss weder Praxis noch Sprachkenntnisse nachweisen, auch eine Kenntnis der venezianischen Geschichte ist nicht vonnöten - anders als die (200) Ersatzgondolieri, die vier Jahre lang auf Abruf arbeiten müssen und erst dann eine Lizenz erwerben können. Offiziell haben die Lizenzen natürlich keinen Preis und werden ausschließlich von der Stadt Venedig vergeben. Aber die Investition lohnt sich - bei einem jährlichen Durchschnittsverdienst von 300 000 Euro. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass sich inzwischen sogar gestandene Männer von einem Gondoliere adoptieren lassen. Kein Witz.

Anders als die Feuilletons empfinden es die Venezianer als entwürdigend, dass Anselm Kiefer seine Werke im Dogenpalast (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) ausstellen darf. Ihnen geht es dabei allerdings nicht um Kiefers Kunst, sondern um den Ort: dem Wahlsaal, der Sala dello Scrutinio, dem für Venezianer symbolträchtigen und identitätsstiftenden Ort. Kiefers Werke hängen dort bis November - und verhindern den Blick auf Gemälde von Tintoretto oder von Andrea Vicentino, wie die gigantische Schlacht von Lepanto, die hier eigentlich zu bewundern ist. Natürlich war es der Multimilliardär Larry Gagosian, der als einflussreichster Galerist weltweit diese Ausstellung dank der Unterstützung der obersten Denkmalschützer Venedigs organisiert hat - wie bereits geschehen im Palazzo Grimani mit den Werken von Baselitz: mit groben Strichen gemalte Figuren, die wie australische Aborigines aussehen oder wie Neandertaler. Auf jeden Fall hängen sie verkehrt rum, sonst wäre es ja kein Baselitz. In der Sala del Portego, hängen jetzt keine Dogenportraits mehr, sondern zwölf Baselitz-Bilder mit Schlieren. Also Schlieren in türkis, gelb, fuchsia, orange, hellblau, mit denen Baselitz Venedig „insbesondere mit dem typischen Genre des Renaissance-Porträts“ huldige: Der Titel der Ausstellung sei inspiriert von Tizians rätselhaftem Porträt des Kardinals Filippo Archinto, was ungefähr so logisch ist, wie sich vom Anblick von Giorgiones Tempesta zur Zubereitung eines Vanillepuddings inspiriert zu fühlen. Aber egal. 

Auf jeden Fall geht es um eine Menge Geld, und uns hier in Venedig frustriert es, dass sich jeder ein Stück Venedig kaufen kann - weshalb ein Journalist der Frage "Der Neoliberalismus kauft sich Venedig" (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) nachgegangen ist. 

Am 19. Juli jährt sich das Attentat auf Paolo Borsellino zum 30. Mal. Dieses Jahr in einer besonders bedrückenden Atmosphäre, weil es in Palermo jetzt einen Bürgermeister gibt, der von zwei rechtmäßig wegen Mafia-Unterstützung verurteilten Politikern unterstützt wurde. Die Kinder von Borsellino haben ihre Teilnahme an den Gedenkfeiern abgesagt und auch Salvatore Borsellino will seinem ermordeten Bruder nur still gedenken. Gerade die letzten Mafiaurteile bewiesen, die Mafia immer noch in der Lage sei, den Staat zu erpressen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), sagte er.  

Die Mafia erpresst nicht nur, sie profitiert auch von Ignoranz. Das Oberlandesgericht Frankfurt hat versucht, Schaden vom Ansehen deutscher Gerichtsbarkeit abzuwenden, indem es Giovanni Falcone jetzt im Berufungsverfahren  ein „postmortales Persönlichkeitsrecht“ zugestanden hat, womit der Frankfurter Pizzeria „Falcone&Borsellino“ verboten wurde, diesen Namen zu benutzen. Falcones Schwester hatte geklagt und war in der ersten Instanz unterlegen. „Bei der Beurteilung ist auch zu berücksichtigen, dass die Lebensleistung von Giovanni Falcone vorrangig in Italien angesiedelt ist“, hatte die zuständige Richterin 2020 geschrieben, der Schutz des Andenkens an Giovan­ni Falco­ne sei acht­und­zwan­zig Jahre nach seinem Tod prak­tisch verwirkt, und die Namen von Falco­ne und Borsel­li­no seien in Deutsch­land nur „Straf­ver­fol­gern und Krimi­no­lo­gen“ bekannt, nicht aber Perso­nen, die Restau­rants besuch­ten, lautete ihre Begründung. In Italien hatte das zu einem Sturm der Entrüstung geführt. Ich habe darüber in der FAZ geschrieben, nachzulesen hier (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).

Und dann gibt es hier noch eine der bizarren sommerlichen Regierungskrisen, die sich im Wesentlichen in den Medien abspielt. Weil Draghi auch ohne die Fünfsterne die Mehrheit hat, lehnte Staatspräsident Mattarella sein Rücktrittsgesuch ab - was ungefähr so ist, wie ein Lehrer, der einen lustlosen Schüler wieder zurückpfeift. Draghi würde ein Misstrauensvotum - falls es dazu kommt - ohne Weiteres überstehen. Leider hat er noch nicht verstanden, dass es etwas anderes ist, ein Land zu führen als eine Bank. Und wenn ich Kommentare wie diesen hier (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) in der Süddeutschen lese: "Das barocke Theater der Politik ist dem früheren Zentralbanker fremd, es nervt ihn, er kann das auch schlecht verstecken. Manchmal kippt Draghis Selbstbewusstsein dann ein bisschen in Arroganz. Aber einem Heiland sollte man das verzeihen", kriege ich das kalte Grausen. 

Remember: Hinter dem wahnwitzigen italienischen Regierungsbündnis (in dem alle italienischen Parteien drin sind, bis auf die rechten Fratelli D'Italia - die sich seitdem im Aufwind befinden) steht weniger der hehre gemeinsame Kampf gegen die Pandemie als das Interesse an den über 200 Milliarden Euro des europäischen Aufbauplans. 

Beim Treffen mit der Auslandspresse erzählte Draghi einen Witz: 

https://www.youtube.com/watch?v=OlnViBB4yA8 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Der Witz geht so: Ein Patient, der auf eine Herztransplantation wartet, wird gefragt, ob er lieber das Herz eines jungen 25-Jährigen in hervorragender körperlicher Verfassung oder das eines 86 Jahre alten Bankiers haben möchte. Bevor der Patient den Operationssaal betritt, entscheidet er sich für Letzteres. Warum? Weil es noch nie benutzt wurde.

Aus dem Mund eines "Mister BCE", der dafür bekannt ist, kein Herz zu haben, klingt das allerdings nicht lustig, sondern zynisch, stellte ein Journalist im Fatto Quotidiano (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) fest: "Um Politik zu machen und ein Land zu führen, braucht man jedoch Herz. Man braucht Leidenschaft, ideellen Schwung, menschliche Wärme. Kommunikation und Einfühlungsvermögen. Aber allein dieser unglückliche Scherz zeigt, dass Draghi kein Herz hat und auch keines haben will. Oder zumindest will er es nicht benutzen."

Gestern Abend wurde in Venedig mit Redentore (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) wieder das Ende (?) der Pest gefeiert. Es ist - oder besser war - das beliebteste Volksfest in Venedig,  weil es vor allem auf dem Wasser im Boot gefeiert wird. Leider ist es inzwischen völlig seiner eigentlichen Natur beraubt, das Markusbecken wurde erobert von den riesigen Touristen-Motorbooten aus Jesolo und Punta Sabbioni, die Stadt wird  niedergerannt. Ich bewundere die wenigen letzten Venezianer, die noch den Mut hatten, gestern auf dem Wasser ihre Existenz zu beweisen. 

Für Venezianer ist der gestrige Tag eher ein Bericht von der Front: eine Stadt im Belagerungszustand, die die größte Improvisation und Desorganisation erlebt hat, mit einem Reservierungssystem, das an allen Fronten versagt hat.

Wir sind zu Hause geblien - und  hätten im Übrigen das Haus auch gar nicht verlassen und einen Spaziergang machen dürfen, weil wir Venezianer (!) unsere Wege zuvor hätten buchen müssen. 

Das Feuerwerk war sehr schön. Wenngleich auch - wie die Venezianer stets zu sagen pflegen: Letztes Jahr war es schöner.

In diesem Sinne grüßt Sie aus Venedig, Ihre Petra Reski

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