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Der Angriff der Replikanten und andere venezianische Merkwürdigkeiten.

Neulich hat mich ein Schweizer Radiojournalist interviewt, der für eine Sendung über das Hochwassersperrwerk Mose (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) recherchierte. Ich legte sofort den vierten Gang meines Erklärmodus ein und hörte überhaupt nicht mehr auf zu reden über das, was in der Lagune alles angerichtet wurde, durch den Bau von Mose, also dass sich die Strömungsverhältnisse verändert haben, was mir einst Alberto, mein Freund der Fischer, anhand einer Boje erklärt hat, die praktisch horizontal im Wasser lag, gezogen von der Strömung, und dass die zentrale Lagune infolge des Baus des Kanals für Erdöltanker zerstört wurde, durch den jetzt vor allem Container- und Kreuzfahrtschiffe fahren, die bei jeder Durchfahrt einen Tsunami auslösen, ganz zu schweigen von dieser schauerlichen Betoninsel, die mitten in die Lagunenöffnung zwischen Lido und Punta Sabbioni fallengelassen wurde, diese Trutzburg, die man schon aus der Ferne aus dem Wasser ragen sieht und zu der ich fahre, wenn ich mich gruseln will, dieses Mausoleum auf dem Wasser, das aussieht wie ein Szenenbild aus Blade Runner nach dem Angriff der Replikanten, als wimmelte es hier von künstlichen, dem Menschen völlig identischen und doch feindseligen Wesen.

Der Journalist aber wollte das alles gar nicht so genau wissen, wenigstens nicht von mir. Er sagte: Aber hat sich das Leben in Venedig nicht dank Mose verbessert?

Ich fand diese Sicht kurios. Genauer gesagt: So eine Frage kann man nur stellen, wenn man, pardon, ein Landei ist. Natürlich sind wir erleichtert, nicht ständig bis zu den Knien im Hochwasser zu stehen, was uns aber nicht daran hindert, uns der prekären Situation bewusst zu sein, in der sich Venedig befindet: Wir bekommen nahezu täglich Sms und Mails vom Zivilschutzamt mit dem Gezeitenstand - der uns darüber informiert, ob uns Hochwasser erwartet und ob Mose eingesetzt wird oder nicht. (Zur Zeit - ! - wird das Flutsperrwerk ab einem erwarteten Hochwasserstand von 1,10 Meter eingesetzt. Wir wissen nicht, wie lange.) Und in diesem Jahr wurde Mose wahnsinnig oft eingesetzt - was auch bedeutet, dass der Hafen dann geschlossen ist. Und darüber regen sich natürlich die Reeder auf.

Der Hydraulikingenieur Luigi D’Alpaos redet sich seit Jahrzehnten den Mund darüber fusselig, dass der Hafen nicht mit Venedig kompatibel ist. Es geht nur eins: Entweder überlebt der Hafen - oder Venedig. Wir müssen uns entscheiden. (Sage ich, haha. Als würde sich dieser Bürgermeister darüber Gedanken machen.)

Natürlich sind wir froh, dass uns allein in diesem Jahr etliche Hochwasser erspart wurden. Gleichzeitig beunruhigt es uns: Gedacht war, dass Mose uns hundert (!) Jahre lang vor dem Hochwasser schützen sollte. Wer sehen will, wie sehr die Hochwasser in Venedig zugenommen haben, mag einen Blick auf diese Grafik werfen

https://www.comune.venezia.it/it/content/distribuzione-decennale-delle-alte-maree-110-cm (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Da muss man nicht viel erklären. Es zeigt die Entwicklung des Hochwassers von 1872 bis 2022. Seit Dezember 2020 ist Mose in Betrieb. Aber es ist keine Lösung: Schon bei einem optimistisch gerechneten Meeresspiegelanstieg von 50 Zentimetern müsste Mose 350 Mal im Jahr geschlossen werden (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) (und wir reden hier nicht von dem eher wahrscheinlichen Szenario, das den Meeresspiegelanstieg bei 70–80 cm sieht, die pessimistischste Prognose geht von bis zu einem Meter aus). Und wenn die Lagune sich nicht mit dem Meer austauschen kann, verwandelt sie sich in eine Kloake.

Ja, für uns in Venedig ist das Wasser, das uns umgibt, nicht einfach eine spezielle Form von Infrastruktur. Es ist venezianische Geschichte und Kultur, es bedingt unsere Existenz.

Natürlich interessiert sich der Bürgermeister nicht dafür, er hat sein ganzes Leben auf dem Festland verbracht, wie alle anderen Mitglieder seines Stadtrats auch. Im Jahr 2019, als gerade die zweitgrößte Flutwelle der Geschichte über Venedig hinweggerollt war und die Stadt noch unter Schock stand, gestand Luigi Brugnaro zur besten Sendezeit, unter den Säulenreihen des Dogenpalasts dem Sturmwind trotzend, nichts über Mose zu wissen, aber daran zu glauben. Was für einen Bürgermeister, der zu dem Zeitpunkt seit fast fünf Jahren im Amt war, eine einigermaßen erstaunliche Aussage ist.

Er wird uns übrigens noch bis zum Frühjahr 2026 erhalten bleiben. Eigentlich läuft seine Amtszeit im September 2025 ab, aber weil die Lockdowns zu Zeiten von Corona sein Wirken beeinträchtigten - ein Wirken, das sich im Wesentlichen auf ein Video (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) beschränkte, bei dem er in angeheitertem Zustand mit seiner Frau den Schlachtruf seiner Basketballmannschaft sang, während das Militär die Särge aus Bergamo abtransportierte - wurde er damit belohnt, sechs Monate länger die Stadt verwalten zu können.

Gestern kam es in Venedig übrigens zu einem Unfall zwischen einem Vaporetto

und einem Ausflugsschiff, bei dem sieben Menschen verletzt wurden. Es geschah bei exzellenter Sicht auf der Höhe von Sant’Elena. Das Ausflugsschiff rammte das Vaporetto - und fuhr danach erst seelenruhig Richtung Punta Sabbioni weiter, bis es sich anders überlegte.

Wer in Venedig Boot fährt, wundert sich darüber nicht, eher wundern wir uns darüber, dass hier nicht noch mehr Unfälle passieren. Die Ausflugsschiffe sind für Venedig eine wahre Plage, nicht nur wegen des unfassbar hohen Wellengangs, den sie auslösen, sondern auch, weil sie die Stadt mit Tagestouristen fluten und ihre Methoden, vorsichtig ausgedrückt, nicht die feinsten sind: Die lokale venezianische Mafia (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) hat das Geschäft mit den Ausflugsschiffen seit Jahrzehnten in der Hand, sowohl auf Tronchetto, der Parkinsel, als auch in Punta Sabbioni. Vor drei Jahren kam es zu einer Verhaftungswelle.

In dem mafiosen Ambiente der Ausflugsschiffe von Tronchetto arbeitete übrigens auch Vito Galatolo, Sohn einer alten palermitanischen Mafia-Familie. Nachdem er verhaftet und zum Kronzeugen geworden war, wollte er sein Gewissen erleichtern und erzählte dem Antimafia-Staatsanwalt Nino Di Matteo von dem Hinrichtungsplan: Di Matteo sollte "wie ein Thunfisch" abgeschlachtet werden soll. Die Vorbereitungen für das Attentat gegen ihn seien bereits fortgeschritten: Die Bosse hätten 600 000 Euro gesammelt, um 150 Kilo Sprengstoff zu kaufen.

Aber heute spricht ja in Italien niemand mehr über die Mafia. Dafür hat Justizminister Nordio mit seiner Justizreform gesorgt: die zur Folge hat, dass die Abhörpraxis – unerlässlich im Kampf gegen Mafia und korrupte Politiker – eingeschränkt wird, und dass Journalisten, die aus Haftbefehlen zitieren, hohe Haftstrafen drohen.

Und außerdem ist ja bald Weihnachten, da macht man sich Gedanken um Geschenke und nicht über die Mafia.

Und ich bin auch sehr dafür, an Geschenke zu denken, etwa an eine Mitgliedschaft als Ehrenvenezianer (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)!

In diesem Sinne grüßt Sie aus Venedig, Ihre Petra Reski

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