Rotkäppchen und die drei Wahlzettel
Ein absurdes Märchen.
„Großmutter, warum hast du so rote Augen?“
„Das kommt vom Zählen der Wahlzettel, immer und immer wieder … Ich bin schon ziemlich müde.“
Plötzlich drehte sich die Großmutter im Bett um und schnarchte sofort munter drauflos.
Rotkäppchen blieb ratlos zurück. Jetzt hatte sie immer noch nicht erfahren, wem sie in Zukunft ihr Vertrauen, ihre Liebe und ihre treue Gefolgschaft schenken sollte!
Die Wahl war nicht einfach gewesen. Auf der einen Seite die liebe Großmutter, eh total nett und auch gescheit und so, aber irgendwie dings … die Sache mit dem Charisma etwa, die hatte von Anfang an nicht gut hingehaut. Man hörte ihr zwar gerne zu, vor allem wenn sie von ihren Fachgebieten wie der Krankenpflege mit Tee und Kräuterwickeln berichtete – aber sonst? Zu den meisten Themen hatte sie nicht viel zu sagen und oft auch nichts, das Rotkäppchen so richtig gefiel.
Dann war da der Wolf. Verführerisch, ein bisschen bedrohlich, auf Randale gebürstet, mit tiefer rauchiger Stimme, wenn er nicht gerade Kreide gefressen hatte. Irgendwie glaubte Rotkäppchen ihm schon, dass er im Grunde seines Herzens das Richtige wollte und ihre rot(käppch)en Interessen vertreten würde. Und vielleicht könnte er sogar einige Tiere des Waldes oder einige Dorfbewohner dazu bewegen, ein Stück des Weges mit ihm zu gehen? Wie gesagt, verlockend. Doch hinter dem Wolf steckte auch so manches Fragezeichen. Ab und zu schien er vom geraden, linken Weg abzuweichen und ein bisschen populistisch nach rechts zu schwanken. Klar, das gefiel vielen Tieren des Waldes und auch vielen Dorfbewohnern, aber ganz glücklich war Rotkäppchen nicht damit.
Und dann der Jäger. Eigentlich wusste niemand besonders viel über ihn. Irgendwie war er plötzlich im Märchen aufgetaucht. Ja, er war offenbar gut gerüstet, neigte dabei aber dazu, gelegentlich aus der Hüfte zu schießen. In seinem Bereich des Waldes schien er alles geordnet unter Kontrolle zu haben. Aber ihm völliges Vertrauen zu schenken und somit das Sagen in der kleinen roten Hütte im Wald zu übertragen, konnte, sollte man das wagen?
Rotkäppchen entschloss sich zu einer freien und fairen Wahl. Da es sich um drei Kandidaten handelte, riss sie aus einem alten, ziemlich kapitalen Buch drei Seiten heraus und faltete sie zu Wahlzetteln. Auf einen schrieb sie „Oma“, auf einen „Wolf“ und auf einen „Jäger“. Dafür brauchte sie einige Wochen, denn sie war nicht so gut im Schreiben, da sie dauernd mit einer Flasche Wein im Gepäck im Wald zwischen ihrem Elternhaus und der kleinen roten Hütte pauschal pendelte. Doch schließlich war das mit dem Schreiben geschafft.
Danach nahm sie ihr rotes Käppchen ab, warf die drei Wahlzettel hinein, schüttelte sie gut durch, entnahm sie, öffnete sie und zählte sie aus. Zu ihrer Enttäuschung war das Ergebnis gedrittelt – je eine Stimme fiel auf eine/n der 3 Kandidat*innen. Was nun? Rotkäppchen entschloss sich zu einer Stichwahl. Und da sie während des Nachdenkens unbewusst an dem Wahlzettel mit der Aufschrift „Oma“ herumgekaut hatte, war klar, zwischen wem gestochen werden sollte.
Mit frohem Herzen und neuem Mut warf Rotkäppchen die beiden Stimmzettel in ihr Käppchen. Dann übergab sie diese der Großmutter. Die entnahm die beiden Zettel und betrachtete sie lange und sorgfältig durch ihre dicke Brille. „Der Wolf hat gewonnen!“, rief die Großmutter schließlich. Rotkäppchen war zwar nicht ganz zufrieden, auch weil die Großmutter in der letzten Zeit so viel an struppigen Haaren am ganzen Körper zugelegt hatte, was Rotkäppchen an ihrer Unparteilichkeit zweifeln ließ, aber sie war froh, dass die langwierige Angelegenheit endlich vorbei war.
Als sie sich schon zum Feiern mit Kuchen und Wein niedergelassen hatte, hörte sie plötzlich eine Stimme aus dem Schlafzimmer. „Meine alten Augen sind so schlecht!“, rief die Großmutter, „Ich glaube, ich habe mich verzählt!“ Rotkäppchen hätte sich beinahe an einem Kuchenstück verschluckt! „Echt jetzt?“, rief sie und lief zu ihrer Großmutter. Die starrte angestrengt in das Käppchen und hob abwechselnd den einen und dann wieder den anderen Stimmzettel prüfend dicht vor ihre Augen. „Ja, der Jäger hat gewonnen!“, sagte sie schließlich. Rotkäppchen fand das ganze zwar unfassbar, aber okay, dann eben der Jäger, warum nicht. Eh schon wurscht.
Doch kaum wollte sie sich abwenden, da vernahm sie erneut die Großmutter: „Oder, Moment, lass mich das noch einmal überprüfen … vielleicht doch der Wolf?“ Rotkäppchen floh ins Wohnzimmer und leerte frustriert die gesamte Flasche Wein, Jugendschutz hin oder her, schließlich ist das nur ein Märchen.
Ab und zu sah sie zu ihrer Großmutter, die mit immer röter und röter werdenden Augen unentschlossen auf die beiden Zettel starrte.
Und so wartete Rotkäppchen und wartet noch immer.
Denn wenn sie nicht gestorben sind, dann zählen sie noch heute.