Noltes Notizen | 21. Juli 2023
Liebe KLup-Freund:innen,
die Volkskirche lebt! Zumindest gibt es immer wieder Anlässe, die uns in der Redaktion auf eine gewisse Wehmut und Sehnsucht schließen lassen, es möge so sein. Als wir Anfang des Monats davon berichtet haben, dass - einmal mehr - Ordensfrauen ihre Tätigkeit in einem Krankenhaus (diesmal in Hamm (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)) aufgaben und es verließen, sorgte das über Tage für Spitzenwerte bei den Klicks; rund 4.000 mal wurde der Beitrag aufgerufen! Nochmal 500 mehr waren es, als wir vor einem Monat meldeten, dass andere Ordensfrauen nach 80 Jahren ihren Dienst als gute Geister im Haus des Erzbischofs von Paderborn (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)beendeten.
In beiden Fällen haben wir uns vor Veröffentlichung kurz gefragt, ob wir die Geschichten überhaupt bringen: Ist das noch etwas Neues, wenn - mit Verlaub - altgewordene Ordensschwestern einmal mehr ihre Tätigkeit aufgeben? Gerade unter den karitativ tätigen Gemeinschaften ist es ja inzwischen eher das (neue) Ordenscharisma, den eigenen Niedergang auf eine gute Weise zu gestalten. Und das ja nicht erst seit letzten Monat. Warum sollten wir immer wieder darüber berichten? - Nun, wir haben es getan, und offenbar zu Recht.
Gute, heile Kirchenwelt
Ganz offensichtlich rührt es weiterhin und immer wieder viele Leser:innen sehr an, wenn dieses vertraute Stück "guter, heiler Kirchenwelt" vorbeigeht. Was waren das für gute Seelen, die Schwestern in den Krankenhäusern! Welche Dienstbarkeit und Treue ist da zu spüren, wenn sie im Haus eines Bischofs dafür sorgten, dass er nicht allein ist, dass sie in Gemeinschaft beten, essen und sie ihm alltägliches Allerlei aus seinem Tagesplan heraushalten!
Aber klar: Das kann sich heute keine Schwesterngemeinschaft mehr leisten, es kann sich wohl auch kein Bischof mehr leisten, gleich mehrere Ordensfrauen um ihn zu scharen - die, zumal sie immer weniger werden, an anderen Stellen und bei anderen Menschen sicherlich mindestens so hilfreich wirken könnten. Diese Vorstellung von guter, heiler Kirchenwelt geht zugrunde. Man kann das betrauern, wie man vieles betrauern kann, das an Vertrautem nicht mehr ist. Aber womöglich ginge vieles so auch heute schlichtweg nicht mehr.
Was ganz offensichtlich geht, und zwar mit Pauken und Trompeten, das ist Libori! Ich komme nunmal aus dem Erzbistum Paderborn, bin sogar in der Stadt geboren und habe dort nach dem Studium drei Jahre als stellvertretender Pressesprecher des Erzbischöflichen Generalvikariats unter Erzbischof Johannes Joachim Degenhardt gearbeitet, bevor ich nach Münster zu "Kirche+Leben" kam. Also weiß ich sehr genau, wie begeisternd und faszinierend dieses gewaltige Kirchen- und Kirmesfest ist, das ab morgen (22. Juli) eine gute Woche lang bis zu einer Million Menschen anzieht. Ich habe beruflich darüber berichtet, ich habe früher als Kind und Jugendlicher mächtig mitgefeiert, ich war auch später immer wieder gern da - nicht zuletzt der Freunde und Bekannten wegen, die ich dort traf.
Ein Pfau, ein Tusch, Liborius
Das ist tatsächlich noch Volkskirche pur - mit Pauken und Trompeten, festlichen Gewändern, dem goldenen Liborius-Schrein und einem gewaltigen Pfauenwedel, der ihm vorangetragen wird - in Erinnerung an den legendären Pfauenvogel, der einst der Prozession zur Überführung der Gebeine des heiligen Bischofs von Le Mans nach Paderborn vorangeflogen sei.
Selbstredend hat er auch einen Namen - nicht der Pfau, sondern der Pfauenwedelträger: "Pavonicaudafer" ist der lateinische Titel dieses Dienstes, den ursprünglich nur ein Diakon aus dem Hochstift Paderborn - so heißt, flapsig formuliert, die Gegend drumherum - zu tragen die Ehre haben durfte. Auch das ist längst passé, weil es nicht mehr verlässlich einen Diakon aus dem Hochstift gibt. Aber den Pfauenwedelträger, den Pavonicaudafer, den gibt es selbstredend nach wie vor, wie auch die in mittelalterliche Mützen und Mäntel gewandete und entsprechend im Hochsommer schrecklich schwitzende Liboriusgilde, die den Schrein schultert.
Und den Tusch gibt es! Dreimal zur Erhebung des Schreins am morgigen Nachmittag und zur Zurückführung am folgenden Dienstag stößt ein gutes Dutzend Bläser kräftig eine reichlich auseinandergezogene Tonfolge aus Felix Mendelssohn-Bartholdys "Paulus"-Oratorium in die Trompeten, Hörner und Posaunen, jeweils umspielt von pompös-dramatisch sich steigernder Orgelimprovisation. Das jagt jedem und jeder einen Schauer über den Rücken, lässt die Haare auf den Unterarmen aufrecht stehen und macht noch so nüchternen Ostwestfalen eine stattliche römisch-katholische Gänsehaut.
Und gesungen wird! Laut und kräftig, diverse Liborilieder und "Großer Gott" und "Ein Haus voll Glorie schauet" und "Maria, breit den Mantel aus". Und anschließend steht man vor dem Dom in schweißverklebten Hemden beisammen und trinkt Bier mit Menschen, die man mitunter nur einmal im Jahr an eben dieser Stelle und zu eben diesem Anlass wiedersieht. Heerscharen von Priestern vor allem, Stola, Rochett und Talar überm einen Arm, ein kühles Helles in der anderen Hand, ein klerikales Happening, Lachen und Hastenichtgesehen - und alle Krisen, alles Gerede, alles Schlechte und Dramatische ist für ein paar Tage ganz weit weg.
Merkwürdige Melancholie
Ich war lange nicht mehr da. Ich nehme diese merkwürdige Melancholie darüber, wie es mal war, zwar immer noch ein wenig wahr - aber ich gestehe auch, dass das für mich so nicht mehr geht. Für mich. Für mich persönlich. Natürlich ist das alles erhebend und bewegend, es macht schlichtweg Spaß, mit tausenden Menschen aus vollem Herzen fromme Lieder zu singen, den Herrgott zu lobpreisen und sich als Teil einer jahrhundertealten Tradition zu erleben, die Kriege überstanden hat und manche Kirchenkrise sowieso.
Aber für mich ist dieses Highlight zunehmend schwierig, gerade weil es den Anschein macht, als könne es so manches Dunkle, Schwere, einfach überstrahlen, übertrompeten, übersingen - überwinden, als trete hier endlich mal wieder das eigentlich Wahre, Gute, Schöne und Heilige hervor. Natürlich soll jeder und jede nach Paderborn fahren (und ein Rest stolzer Empfehlung schwingt ja auch in diesem Newsletter mit) - ich kann es nicht mehr.
Gebrochener Schein
Dieser merkwürdig gebrochene Schein, der merkwürdig fade Glanz ließ sich in den letzten Tagen ganz besonders spüren, als es um die Bischofsgruft im Paderborner Dom ging. Gerade erst, pünktlich zum Liborifest, ist die Krypta - Grablege des heiligen Liborius - nach großen Umbaumaßnahmen wiedereröffnet und ein Hinweisschild auf die massiven Verfehlungen der dort noch ein paar Stufen tiefer ehrenhalber beigesetzten Erzbischöfe Lorenz Jaeger und Johannes Joachim Degenhardt aufgestellt worden - da sind es ausgerechnet zwei Ordensschwestern aus dem Erzbistum Paderborn, die durch dieses von Betroffenen und Domkapitel beschlossene Hinweisschild die hehre Ehre dieser Kardinäle gekränkt sehen: zum einen die aus Werl stammende heutige Generalsekretärin der Nordischen Bischofskonferenz, Schwester Anna Mirijam Kaschner; zum anderen die Generaloberin der Paderborner Vincentinerinnen, Schwester Katharina Mock, deren Mutterhaus nur wenige hundert Meter vom Paderborner Dom liegt.
Die eine spricht von einem "Zeichen tiefen Unglaubens (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)", aus dem heraus die früheren Erzbischöfe nachträglich bestraft werden sollten (obwohl man das doch lieber Gott beim Jüngsten Gericht überlassen soll), die andere hält diese Hinweistafel für einen unerträglichen Tribut an den "Zeitgeist" (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Ganz offensichtlich können beide nicht ertragen, dass das sicherlich auch Gute, das beide Erzbischöfe in ihrem Leben und Dienst gewirkt haben, massiv von dem Leid überschattet wird, das sie durch ihr Fehlverhalten, ihre Vertuschung, Missbrauchs-Betroffenen angetan haben. Anders gesagt: Das Gute ist für sie mehr und wichtiger, bedeutender und heller, was soll da der Hinweis auf das bisschen Dunkel in der Biographie, auf die Lebensdramen von als Kindern missbrauchten Menschen?
Dabei merken die beiden Schwestern offenkundig nicht, dass es ausnahmsweise nicht um die Erzbischöfe geht in der Ehrengruft der Erzbischöfe, sondern um die Menschen, deren Leben durch die Taten von Priestern und das Vertuschen von deren Vorgesetzten gebrochen, wenn nicht zerstört wurde. Auch diese Wahrheit gehört zur Wahrheit der Volkskirche, deren Geschichte dann wahrlich nicht mehr so glänzend ist, wie manche sie gern hätten und wieder aufscheinen lassen wollen angesichts all der Abbrüche und Umbrüche.
Ich persönlich bin einmal mehr erschrocken darüber, dass der Erkenntnis- und Umdenkprozess, den viele Bischöfe in Deutschland seit Bekanntwerden des Missbrauchsskandals vor 13 Jahren gottdank bewältigt haben, - dass dieser Prozess ganz offensichtlich bei manchen Führungskräften dieser Kirche noch nicht im Ansatz angekommen ist: dass die Perspektive der Kirche keine andere sein kann als die der Betroffenen. Dass auch Erzbischöfe nicht einfach Ehrenmänner sind, nur weil sie Erzbischöfe sind oder waren. Dieser Perspektivwechsel ist erschreckenderweise nicht überall angekommen. Nicht bei Führungskräften in Orden. Nicht bei weiblichen Führungskräften. Das ist dramatisch. Und das ist nicht zu akzeptieren.
Starke Schwestern, starkes Projekt
Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch: Ordensleben, Ordensmenschen, Ordensfrauen - sie sind keineswegs Gewähr für und Hersteller von "guter, heiler Kirchenwelt" und unbeschwerter Volkskirchenzeit. Gerade heute haben wir auch darüber berichtet, dass zwei andere Ordensfrauen sich für mehr und für rechtlich abgesicherte Gleichberechtigung von Ordensfrauen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)in der katholischen Kirche - und nicht zuletzt gegenüber ihren Ordensbrüdern und dem Vatikan - einsetzen wollen. Die Benediktinerinnen der Abtei Dinklage im Norden des Bistums Münster haben dazu ein "Institut für Ordensrecht - von Frauen für Frauen" gegründet.
Mit ausgewiesener kirchenrechtlicher Expertise wollen sie dafür sorgen, dass der männlich-klerikal geprägte Blick aufs Kirchenrecht geweitet wird, dass Ordensfrauen heute adäquat ihr Charisma leben können, dass Schwestern ihren Brüdern gleichgestellt werden. Was da alles zu tun ist, beschreiben Schwester Scholastika und Schwester Lydia sehr eindrucksvoll. Starke Schwestern, starke Gemeinschaft, starkes Projekt - bei allem Ab- und Umbuch bricht doch auch Neues, Wegweisendes, Ermutigendes auf.
Die Volkskirche mag nicht nur vorbei sein, sie ist es. Die Melancholie darüber darf sein, auch mitunter überdosiert (und immerhin konzentriert) in einer katholischen Festwoche. Aber das darf kein Blendwerk sein aus purer Angst, den (eigenen) Schatten nicht auszuhalten. Im Gegenteil: Wo die Angst ist, da geht's lang. Offenbar ist das noch ein weiter Weg.
Ich danke herzlich für eure Aufermamkeit, eure Unterstützung. Bleibt uns gewogen - und empfehlt uns weiter!
Guet goahn
Markus Nolte (Chefredakteur Online)