Rettet die Utopie vor der Langeweile!

Warum niemand über funktionierende Gesellschaften lesen will
Dystopien boomen. Spätestens seit 2020 dominieren Krisen und Apokalypse-Szenarien die öffentlichen Debatten, Serienformate und Romane. Dabei wären es doch eigentlich Utopien, die wir jetzt brauchen. Warum haben sie es trotzdem so schwer, Aufmerksamkeit zu gewinnen? Und was folgt daraus?
Utopie hat ein Imageproblem
Das utopische Genre – gerade in literarischer Form – scheint im Mainstream an eine gläserne Decke zu stoßen. Es will nicht so recht zünden. Liegt das daran, könnte man fragen, dass der Mensch zu negativ gestrickt ist? (Pessimistisch in Bezug auf den Menschen zu sein gehörte, so mein Eindruck, sogar jahrzehntelang zum guten Ton, wenn man ernst genommen werden wollte.)
Wahrscheinlicher ist: Utopien wirken auf viele Menschen schlichtweg langweilig.
Denn sie kommen oft als harmonische Zustände daher, in denen alles bereits erreicht scheint. Und wer möchte schon einen Film sehen, der nur aus den letzten zehn Minuten besteht – wenn alle Fragen sich in Antworten auflösen?

Warum Spannung die Frage braucht
Gute Geschichten leben vom Konflikt. Vom Ringen, vom Bruch, von der Krise. Fast jede:r kennt inzwischen das berühmte Muster der Heldenreise: Eine Figur verlässt ihre vertraute Welt, erlebt Herausforderungen, durchquert eine Dunkelheit, um am Ende verwandelt, weiser und reifer zurückzukehren.
Utopien hingegen werden oft nur als Endpunkt erzählt – als die friedliche, vollendete Welt nach der letzten großen Wandlung. Doch dieser Zustand ist eben aus dramaturgischer Sicht der Moment, in dem normalerweise der Abspann läuft: Erfüllend, aber nicht (mehr) unbedingt fesselnd.
Der evolutionäre Zyklus des Erzählens
Aber was, wenn wir Heldenreise-Muster nicht als einmalige lineare Erzählkurve betrachten, sondern als kreisförmigen Prozess?
Denn jeder Entwicklungsprozess, betont der Forscher M. de Stefano, folgt einem natürlichen Kreislauf folgender Stadien: Ausdruck – Experiment – Integration – Transzendenz.
Ausdruck: Wir leben (unbewusst), was uns geprägt hat, was uns vertraut ist, der Matrix, in die wir hineingeboren wurden.
Experiment: Wir stoßen an unsere Grenzen und probieren Neues.
Integration: Wir nehmen alles an und entwickeln etwas Eigenes daraus.
Transzendenz: Damit werden wir wieder zu einer Matrix für andere.
Eine gelungene Utopie müsste also nicht nur die transzendierende Phase, das „Ende der Reise“ inszenieren, sondern zugleich den Anfang eines neuen Zyklus zeigen. Sie wäre zwar ein „fertiges Paradies“, aber zugleich der fruchtbare Boden für das nächste Experiment – mit neuen Spannungen, neuen Fragen und neuen Wachstumsprozessen.

Wie erzählen wir glaubhafte Utopien?
Um eine Utopie der Zukunft spannend zu erzählen, genügt es also nicht, sie als ideales Zielbild zu malen. Entscheidend ist: Was ist in dieser Zukunft der Stoff für neue Herausforderungen?
Was ist dort der nächste Entwicklungsschritt? Was ist das neue Spannungsfeld, mit dem zukünftige Generationen experimentieren – und das wiederum überwunden werden will?
Wenn wir das glaubwürdig erzählen, so wird die Utopie lebendig. Dann zeigt sie nicht nur ein leuchtendes Ideal, sondern öffnet den Horizont für echten Wandel. Dann inspiriert sie zum Handeln, statt nur Wissen anzubieten.
Die Fragen unserer Gegenwart
Aber was, fragst du dich jetzt vielleicht, wäre denn das erfüllende “Transzendenz-Stadium” für die heutigen gesellschaftlichen Konflikte – geprägt von Polarisierungen zwischen links und rechts, zwischen Freiheits- und Solidaritätsidealen, zwischen Individuum und Kollektiv?
Eine zukunftsfähige Gesellschaft wird eben diese Spannungen integrieren und in einer größeren Ordnung aufgehen lassen müssen, in der alle Werte ausbalanciert sind. In der es völlig selbstverständlich ist, dass sich persönliche Freiheit und fürsorgliches Miteinander nicht ausschließen und in der nicht Staats- oder Marktmacht, sondern die Zivilgesellschaft selbst die Hauptrolle spielt. Das ist leichter gesagt als getan! Doch wenn dies tatsächlich eines Tages gelingen sollte: Was wäre danach das neue Entwicklungsfeld?
Vielleicht ist es die Balance selbst, die dann zur neuen Herausforderung wird – wenn sie starr wird, dogmatisch, ideologisch. Vielleicht beginnt dann ein neuer Zyklus, in dem unsere Kinder mit dem Erbe dieser „ausbalancierten Gesellschaft“ ringen – und sich neue Formen schöpferischen Ausdrucks suchen.

Utopien: Immer erst der Anfang
Wirksame Utopien stellen also nie nur das Ende dar. Sie sind zugleich der Anfang einer neuen Geschichte.
Wenn wir sie so erzählen – voller innerer Reibung, Entwicklung, Neugier –, dann können sie mehr sein als statische Gegenmodelle zur Krise. Sie werden zu Erzählungen, die Lust auf Gestaltung wecken und zeigen: Es lohnt sich ja wirklich, weiterzudenken. Sie sind die besten Antworten auf Dystopien, wenn sie eben keine langweilige Flucht ins Ideal darstellen – sondern eine Einladung zur nächsten, lebendigen Stufe unseres Menschseins.