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Gespensterbrief #37 - Morgen

Die Nacht war kurz und unruhig, immer wieder prasselte Regen gegen die Rollläden und der Busch, der schon im letzten Frühjahr hätte zurückgeschnitten werden müssen, schrabte gegen die Außenwand. Inzwischen trug er Blüten, die gelb und schwer herabhingen und bei dem mildesten Wind hereingeweht kamen und sich auf die Bücher legten, wo man sie nur einzeln und mit spitzem Pinzettengriff absammeln konnte.

Der Boden neben ihrem Bett war kalt. Auf Zehenspitzen ging sie zum Fenster, ließ Licht in das Zimmer und lüftete. Davor machten sich die Blüten bereit. Sie deutete eine Verbeugung an und ließ sie durch.

Aus der Kommode nahm sie ein mittellanges schwarzes Kleid ohne Ärmel. Sie glaubte an den Frühling, auch wenn er sie enttäuschte. Dieser Mai war kalt und trocken gewesen; nicht einmal ging sie schwimmen. Darum zog sie auch noch eine Strumpfhose an, dünn und hell, Socken und eine Strickjacke.

Während sie die Treppen hinaufging, denn sie schlief unten in der Vampirgruft, band sie sich die Haare zusammen. Im Bad wusch sie sich das Gesicht und trug Sonnencreme auf. Sie glaubte an die Sonne und die zerstörerische Kraft, mit der sie sich durch ihre Epidermis schob.

Dann kochte sie dem Gespenst, das im Gästezimmer hauste, einen Kaffee und sich einen Tee. Sie flüsterte, wiederholte immer wieder 'Ich finde dich' und meinte damit den Text, der noch hinter ihrer Stirn lag und schlief. Ihm schälte sie einen Apfel und ließ die Schnitze in eine Schüssel fallen, über die sie Haferflocken rieseln ließ und Milch goss. Die Milch kam diesmal aus Finnland. Immer fand der Hafer aus anderen Ecken der Welt den Weg in ihre Küche. Alles wuchs irgendwann mal zu ihr.

Sie nahm die Treppe nach oben, unterwegs öffnete sie eine Luke und ließ sich von einer Wolke anschreien, die grau und behäbig über dem Haus hing und reinwollte. Das Zimmer hinter der rechten Tür stand heute leer, hier lebten nur Spinnen; man konnte hören, wie sie sich hinter den Bilderrahmen bewegten. Sie ging links herum und öffnete vorsichtig die schmale Holztür.

Bevor sie sich an ihren Tisch setzen konnte, schob sie die Bäume zurück, die über Nacht in ihr Schreibzimmer gewachsen waren. Dann schloss sie: Die Tür, die Fenster, ihre Ohren, Augen und den Mund. Der Text war jetzt mit ihr im Raum. Niemand sonst kam mehr zu ihr hindurch. Sie schrieb und schrieb und dachte an nichts anderes, auf Nebenschauplätzen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) hieß es ‘Die Autorin flüstert, die Autorin schreibt’, sie konnte nicht weiter hinhören. Es war zu dringend. Es verging eine Stunde, die sich wie zehn Minuten anfühlte. Aber ihr Körper sagte die Wahrheit. Und das Gespenst im Gästezimmer heulte. Huuuh. Der Regen hatte wieder eingesetzt; im Kalender stand ein Termin: Dort stand ‘Netzwerktreffen’ und darüber in hastiger Schrift ‘abschicken’.

xoxo
Jae

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