"Man muss nur wollen!" Märchen mit Erniedrigungspotential oder Wahrheit? ...
Viele von den Menschen, denen im Leben (fast) alles gelingt, sehen diesen Satz meist als wahr an. Und so haben wir es auch alle gelernt! Aber ist er deswegen auch wahr? Nimmt man ihn vielleicht als wahr an, weil er für einen selbst zutrifft? Und kann man dann darauf kommen ihn zu hinterfragen? Kann die Frage erst in einem aufkommen, wenn man trotz intensivsten Wollen sein Ziel nicht erreichen kann? Wollen allein ist keine Garantie! Es braucht auch Glück in Form von helfenden Umständen oder Händen UND vor allem ein System, in dem dieses Wollen überhaupt zum Erfolg kommen kann!
Hallo an Alle!
Eine Antwort auf diese Steady-Aktion und eine gestern gelesene Anklage haben mich zu diesem Update bewogen.
Eine Antwort auf unsere Armutssensibilisierungsaktion mit dieser Plattform lautete: "Habe selbst erlebt, dass es schön ist wenn man Unterstützung von Leuten bekommt!? Jedoch bin ich auch der Meinung dass alles was man möchte sich selbst schaffen sollte, kleine Dinge bei denen man nicht so tief Bescheid weiß kann man sich helfen lassen. Nun ja den Schritt den man vorhat sollte man nicht auf andere umlegen und sagen: Die werden' schon machen, dass es was wird!"
Ich weiß wie es gemeint war und verstehe es auch. Diejenigen von uns, die zu den Leistungsträgern des Landes gehören, sind zum einen selten auf Hilfe angewiesen und zum anderen auch darauf geeicht worden, dass Hilfe annehmen ein Zeichen von Schwäche ist, das passt nicht zu einem Leistungsträger.
Als ich 12 Jahre alt war, hatte ich mich oft mit Obdachlosen, die an der gleichen Bushaltestelle warteten, unterhalten. Sie warteten dort, dass der Tag rum ging und ich auf den nächsten Bus. Einer aus der Gruppe schien anders zu sein. Albert hieß er. Er erzählte mir wie er dort hingekommen war. Job weg, Frau weg, Wohnung weg, dann kam das Leben auf der Straße ... und dort kam und kam er nicht mehr raus, er konnte machen was er wollte, was dazu führte, dass er immer mehr trank ... und eines Tages hörte ich, dass er über Nacht am Erbrochenen erstickt war. Ich habe mich damals unwahrscheinlich über ihn geärgert. In meinen Augen hatte er sein Leben weg geschmissen. Ich glaubte ernsthaft, man müsste doch "nur" dies oder das machen und dann würde doch schon wieder alles gut. So nach dem Motto man muss sich "nur" anstrengen und wollen.
Wirklich losgelassen hatte sein Tod mich nie (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Er war ein gebildeter Mann, er war nicht faul, aber keiner gab ihm eine Chance. Er hätte eine oder mehrere helfende Hände gebraucht, die geholfen hätten ohne eine Gegenleistung zu verlangen, die bekam er aber nicht!
Ich mag den Spruch von Charles Swindoll sehr, dass das Leben zu 10 % aus dem besteht, was uns passiert und zu 90 % daraus wie wir darauf reagieren. Und doch muss ich dazu sagen, dass ich im Laufe meines Lebens so vielen Menschen begegnet bin, dass genau diese 10 % so schwer wiegen können, dass es die Hilfe anderer braucht, um überhaupt in die Situation zu kommen diese 90 % zu sehen und dann in Folge auch nutzen zu können. Es macht einen großen Unterschied, ob man von außen auf eine ausweglose Situation blickt oder ob man gerade in ihr lebt, da liegen Welten zwischen!
Oftmals braucht es ja gar nicht so viel, aber wenn man selbst das wenige, was es braucht nicht bekommen kann, das ist wirklich schlimm! Wenn ich an Albert und so viele andere zurück denke, dann vergleiche ich sie mit Ertrinkenden. Man muss sie erstmal an einen Punkt holen an dem sie in der Lage sind verschnaufend von außen auf die Situation zu blicken, während jemand wild fuchtelnd versucht das Ertrinken zu verhindern, geht das nicht. Hat man sie an dem Ort, an dem sie verschnaufen können, haben sie erst die Chance, dass sie selbst wieder sehen, dass sie vieles können und davon auch nichts eingebüßt haben, sondern in der Situation halt "nur" einen Rettungsring brauchten. Das kann eine Hand sein, eine Mahlzeit, verständnisvolle Worte oder halt auch Geld. Das kann man als Almosen sehen oder als Investment. Ein Investment mit einer Rendite, die sich anders zeigen wird als eine finanzielle Rendite, obwohl jedes Investment in dieser Form am Ende auch immer eine finanzielle Rendite bieten wird, wenn man dem Wirkungsstrang bis zum Ende folgt.
Manchmal verstehen wir einander nicht, weil es uns nicht gelingt in die Perspektive des anderen zu kommen und nicht weil wir es nicht wollten (da haben wir wieder das Wollen), es ist halt tatsächlich schwer. Es braucht dazu kreativer Einfälle, dass es uns leichter fällt. In diesen Tage habe ich ein humorvoll aufbereitetes Video (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) von Menschen mit Downsyndrom angeschaut, was eine Problematik von Menschen mit Behinderung mit einem Augenzwinkern auf den Punkt bringt. Schaut mal rein, es lohnt sich! Davon bräuchten wir mehr!
Last but not least habe ich nun noch einen wichtigen Aspket, warum ich eher dazu tendiere "Man muss nur wollen!" als Märchen mit Erniedrigungspotential zu sehen: Es ist die Anklage einer jungen Frau mit infantil Cerebralparese, die keinen Praktikumsplatz findet. Gestern las ich auf Raul Krauthausens Fanpage einen Artikel (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) über die verzweifelte Suche dieser Frau.
Raul Krauthausen pickte einen Absatz raus, der mich zum Lesen des Artikels brachte: "Weitere Absagen habe ich von einem inklusiven Hotel und von einem der großen Wohlfahrtsträger erhalten – letzterer kann mir zum jetzigen Zeitpunkt aufgrund der nicht vorhandenen Barrierefreiheit kein Praktikum zusichern. Welch´ Ironie, dass gerade solche Betriebe für Menschen mit Behinderung nicht als Praktikumsplatz dienen können!"
Es macht mich immer wieder wütend, wenn ich sehe, dass die großen Wohlfahrtsverbände, Gelder von allen Ebenen abziehen, aus der Wirtschaft, vom Staat, von Lotterien, vom Bürger (ausführliche Darstellung findet man hier: http://bit.ly/2n9gedx (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)) und dann die Öffentlichkeit anlügen, was sie alles für tolle Sachen für Benachteiligte machen! Wenn man wirklich Inklusion wollte, was man nach außen hin sehr glaubhaft "verkauft", dann sollte es doch wohl möglich sein einen Praktikumsplatz für einen Menschen mit Behinderung anbieten zu können.
Am fehlenden Geld kann es nicht liegen! Es ist eine Frage des Wollens (womit sich dann hier der Kreis des Wollens schließt) und der Haltung, die man TATSÄCHLICH zu dem Thema hat, die so eine Möglichkeit verhindert.
Ich mag es nicht, wenn sich Menschen gegen Inklusion aussprechen. Aber letztlich sind mir diese Menschen dann noch lieber wie diejenigen, die von Inklusion reden und dann genau das Gegenteil unterstützen! Das finde ich geradezu pervers! Man belügt die, die sich im Hamsterrad bewegen, um den ganzen Staatsapparat aufrecht zu erhalten, in dem man ihnen vorgaukelt, dass man sich optimal um Benachteiligte kümmert. Was wunderbar funktioniert, bis auf den ein oder anderen, der es doch bemerkt, aber dem glaubt keiner, weil ja nicht sein kann, was nicht sein darf. Und den Benachteiligten gaukelt man vor, dass ihnen doch alle Wege offen stehen, man tue doch alles, sie müssten sich halt nur mehr anstrengen. Man muss halt wollen ... was für ein böses Spiel!
Wie der "interne" Plan zum Thema Inklusion bei Wohlfahrtsverbänden und der UN aussieht, das würde ich mal ganz gerne wissen! ... Und auch wie so mancher interne Plan der Bundesregierung aussieht! ...
Glück auf!
Bettina