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“Die da oben machen sowieso, was sie wollen” (Gastbeitrag Marcel Lewandowsky)

Die Europawahl steht an und ein Thema bleibt ungebrochen aktuell: Rechtspopulismus. National wie international stellt der politische Populismus ein Problem dar für die demokratische Ordnung. Der Politikwissenschaftler Dr. Marcel Lewandowsky hat ein Buch zum Thema geschrieben, das ich euch ausdrücklich empfehle. Es folgt ein exklusiver Buchauszug aus “Was Populisten wollen: Wie sie die Gesellschaft herausfordern – und wie man ihnen begegnen sollte (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)” (KiWi, 2024). Unter allen, die diesen Beitrag in den sozialen Medien teilen, verlosen Marcel und ich drei signierte Exemplare (UPDATE: Exemplare verlost & verschickt, 12.6.24)!

Die da oben machen sowieso, was sie wollen

In der zweiten Jahreshälfte 2023 ist Landtagswahlkampf in Bayern. Die CSU wird, wie seit Jahrzehnten schon, haushoch gewinnen, das ist schon lange vor dem Wahlkampf klar. Markus Söder wird Ministerpräsident bleiben. Die Frage ist lediglich, wie hoch der Stimmenanteil für seine Partei genau ausfallen wird. Es werden Szenarien diskutiert, um die Spannung zu erhöhen: Fallen die Christsozialen unter die – völlig willkürlich gesetzte – 40-Prozent-Marke, habe Söder keinen Anspruch mehr auf die Kanzlerkandidatur 2025. Mit dergleichen Gedankenspielen vertreibt man sich in einem recht unspektakulären Wahlkampf die Zeit.

Dann kommt der 10. Juni. Es sind noch fast genau vier Monate bis zur Wahl. Die heiße Phase hat noch gar nicht begonnen. In Erding findet eine Demonstration gegen die Heizungspolitik der Bundesregierung statt – ein Thema, das die Gemüter erregt. Manch einer vermutet, der Unmut nütze vor allem der AfD. Vielleicht glaubt das auch Hubert Aiwanger, stellvertretender Ministerpräsident von Bayern und Spitzenkandidat der Freien Wähler. In Erding wird seine Wortwahl deftig. »Ihr in Berlin habt’s wohl den Arsch offen!«, ruft er unter dem Jubel der Menge der Regierung zu. Und: »Jetzt ist der Punkt erreicht, wo endlich die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss.«

Natürlich hagelt es von allen Seiten Kritik. Aber seine Wutrede verfängt. Was er sagt: Die Mehrheit des Volkes ist gegen die Heizungspolitik, also müsste die Ampel-Regierung, wenn dieses Land noch eine Demokratie wäre, sie sofort stoppen.

Javier Milei hantiert mit der Kettensäge, weil er das gesamte politische Establishment davonjagen will. Aiwanger bedient dieselbe Wut, aber mit einer anderen Konsequenz: Die da oben sollen endlich machen, was wir wollen.

»Man muss die Herrschaften in der schwarz-grünen Regierung immer wieder daran erinnern«, lässt sich der FPÖ-Vorsitzende Herbert Kickl zitieren. »Ihr seid nicht die Befehlshaber über die Österreicherinnen und Österreicher. Es ist umgekehrt: Das Volk ist Euer Chef!« Eigentlich, möchte man meinen, beschreibt er ja nur, was Sache ist: Bürger dürfen ihre Vertreter wählen und damit auch abwählen. Populisten aber weisen deshalb darauf hin, weil sie behaupten, dass das Volk derzeit gerade nicht »Chef« sei. Die politischen Eliten, so glauben sie, haben es seiner Herrschaft beraubt.

»Heimlicher Souverän ist eine kleine, machtvolle politische Führungsgruppe innerhalb der Parteien«, schreibt die AfD in ihrem 2016 beschlossenen Grundsatzprogramm. Die Konsequenzen dieses Missverhältnisses sind in ihren Augen drastisch: Die Eliten sind nicht nur abgehoben. Sie bereichern sich, sie setzen ihre Ideologie durch, sie treiben das Land in den Ruin. Nur das Volk selbst kann das Ruder noch herumreißen. Schon in ihrem ersten Bundestagswahlkampf 2013 postet die AfD auf Facebook ein Sharepic. Es zeigte einen nachdenklichen Bernd Lucke – damals einer ihrer Sprecher und ihr prominentestes Gesicht. Der zugehörige Text lautete: »Wir müssen zum Volkswillen zurückkehren. Das Volk hätte dem Euro nie zugestimmt.«

Der »heimliche Souverän«, die Clique, die dunklen Mächte: Populisten geht es um mehr als nur darum, die Politiker verächtlich zu machen, um Stimmen zu gewinnen. Mit harten Bandagen zu kämpfen, ist in Demokratien normal. Aber wenn Populisten von »Heimlichkeit« oder »Abgehobenheit« sprechen oder auch nur davon, dass das Volk nicht mehr »der Chef« sei, dann schwingt darin oftmals zweierlei mit: Die politischen Eliten haben sich so weit von den Bürgern abgekoppelt, dass man nicht mehr von »Volksherrschaft« sprechen kann – die Demokratie selbst ist demnach defekt, wenn nicht gar schon zerstört. Und die »politische Klasse« operiert im Dunklen, geheim und unkontrolliert. Das wirft Fragen auf: Mit wem wird eigentlich zusammengearbeitet? Zu welchem Zweck? Cui bono? Der Weg zur Verschwörungserzählung ist von dort aus nur ein Katzensprung.

Das funktioniert nicht zuletzt auch, weil in Demokratien die Bürger meist nicht unmittelbar regieren. Direkte Demokratie gibt es zwar in vielen Ländern, aber sie hat in der Regel weniger Gewicht als die Wahl von Volksvertretern. Das bedeutet nicht, dass Menschen dort, wo es keine Volksentscheide gibt, machtlos sind. Vielmehr wird Macht an Repräsentanten delegiert, die Entscheidungen in den dafür vorgesehenen Organen treffen, also dem Parlament. Für diese Entscheidungen können die Repräsentanten zur Verantwortung gezogen werden – zum Beispiel dadurch, dass man sie abwählt. Die Verfassung bildet die Geschäftsgrundlage dafür, wie sie ins Amt kommen, wo die Grenzen ihrer Entscheidungsbefugnisse liegen und wie sie im Falle von Fehlverhalten belangt werden.

Wer Populisten zugeneigt ist, gibt sich damit nicht zufrieden. Für ihn bedeutet Demokratie: Gewählte Repräsentanten sollen sich alle hinter dem einen Volkswillen versammeln und ihn ohne Abstriche umsetzen. Wenn die Gerichte das blockieren, was das Volk will, sind sie dessen Feinde. Das Gleiche gilt für Politiker, die nicht sofort springen, wenn das Volk etwas fordert. Arbeiten die Politiker schlecht, machen die Populisten daraus deshalb eine Krise der Demokratie selbst.

Ein Teil der Anziehungskraft der populistischen Parteien besteht darin, dass sie »Volksherrschaft« in einem unmittelbaren Sinne verstehen. Dem freien Mandat begegnen sie mit Argwohn. Dass, wie etwa im deutschen Grundgesetz formuliert, die Abgeordneten »an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen« sind, erscheint ihnen als Einfallstor für Willkür. Den ersten Teil des Artikels 38 hingegen, dass Abgeordnete »Vertreter des ganzen Volkes« sind, nehmen sie wortwörtlich. Jan-Werner Müller verweist darauf, dass Populisten sich deshalb als Beauftragte des Volkes inszenieren: Ihre Partei- und Wahlprogramme sind oft als »Verträge« oder Ähnliches betitelt, sie selbst daher Agenten des Volkes. Nur, und auch das arbeitet Müller heraus: Diese Verträge hat nicht das Volk geschrieben, sondern die Populisten selbst haben sie aufgesetzt. Aber nach ihrem Verständnis macht das keinen Unterschied – weil sie den Willen des Volkes ja kennen. Im Gegensatz zu allen anderen Politikern.

Das Misstrauen gegenüber dem freien Mandat ergibt aus Sicht der Populisten Sinn: Denn wenn man den politischen Eliten von vornherein nicht trauen kann, wie soll man dann akzeptieren, dass sie nur ihrem Gewissen verpflichtet sind? Dass Politiker überhaupt gewissenhaft handeln, zweifeln Populisten ja gerade an. »Die da oben machen sowieso, was sie wollen« kann man vor diesem Hintergrund als die sarkastische Variante dessen lesen, was das deutsche Grundgesetz über das freie Mandat sagt. Die Populisten bezweifeln, dass sich Politiker freiwillig an die Spielregeln halten, die ihnen die Verfassung vorgibt. Außer natürlich, sie haben selbst die Macht.

Das ist nicht neu. Schon der französische Demokratie-Theoretiker Jean-Jacques Rousseau dachte: Gewählte Vertreter könnten den Willen des Volkes von vornherein nicht genau abbilden. Nur das Volk selbst, und zwar das Volk als Ganzes, kann bindende Entscheidungen für sich treffen. Parlamenten, in denen ja tatsächlich nur ein Teil des Volkes – seine Abgeordneten – zusammentritt, stand er skeptisch gegenüber.

Populisten sind in der Regel allerdings keine Gegner der repräsentativen Demokratie, solange Politiker genau das tun, was das Volk will. Und dieses Volk hat für die Populisten nicht eine Vielzahl an Meinungen, Einstellungen, Interessen, sondern einen einzigen Willen.

Nur die Verwirklichung des »wahren«, einheitlichen Volkswillens erscheint Populisten demokratisch. Alle Beschränkungen dieses Willens hingegen demonstrieren für sie einen Mangel an Demokratie, und alle gesellschaftlichen Gruppen, die sich ihm entgegensetzen, sind Feinde des Volkes.

Deshalb sind Populisten – manche mehr, manche weniger – illiberal: Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus ordnen sie dem Willen des »wahren« Volkes unter. In ihrem vermeintlichen Kampf um die »echte« Demokratie sind Politiker, (Verfassungs-)Richter und Medienvertreter Teil einer selbstsüchtigen politischen Kaste. Sie sind Schauspieler in einer Kulissendemokratie, in der sie sich ihre Pfründe sichern. Das Demokratieverständnis der Populisten darf man sich also nicht als komplizierte Demokratie-Theorie vorstellen, sondern eher als Demokratie-Appell unter dem Motto »Der Wille des Volkes über alles!«. Im Gegensatz zu Linkspopulisten, die oftmals ein klares Bild davon haben, welche Teile der Demokratie sie in ihrem Sinne demokratischer machen wollen, sprechen vor allem rechtspopulistische Parteien wenig über die Details, die Institutionen, die Prozesse der Demokratie – und wenn überhaupt, dann oft negativ. »Void democrats« – Leere Demokraten – nennen das die Forscher Jakob Schwörer und Michael Koß. Was jedoch alle Populisten eint, ist ihr Bezug auf das »wahre« Volk.

Wie aber sieht dieses »wahre Volk« aus?

[…]

Aus: Marcel Lewandowsky „Was Populisten wollen“

Wie sie die Gesellschaft herausfordern – und wie man ihnen begegnen sollte

© 2024, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. S. 51-56.

Lewandowsky Was Populisten wollen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Viele Grüße,

Jan (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

PS: Bald ist Europawahl! Geht bitte wählen :)

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