Gerade sitze ich am offenen Fenster…
und schaue auf meine Heimatstadt, in der vor wenigen Tagen 7.000 Menschen auf die Straße gegangen sind. Eine ziemlich beachtliche Zahl für eine Stadt mit 55.000 Einwohner*innen. Noch sehe ich von hier die Türme des Kraftwerks, die in wenigen Monaten abgerissen werden. Der Bergbau war lange eines der identitätsstiftenden Merkmale dieser Region. Spätestens, wenn im Sommer die Türme verschwinden, ist allen Menschen in meiner Stadt klar, dass die alte Zeit vorüber ist.
In der Luft liegt schon eine Ahnung des Frühlings. Die Vögel, die an meinem Fenster vorüber fliegen, wirken aktiver, oder täusche ich mich? Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen, atme einige Male tief ein, schließe das Fenster und fange an zu schreiben. Ich versuche über zwei Dinge zu schreiben, die mich gerade beschäftigen und die mich beschäftigen, weil ich glaube, dass sie miteinander zusammenhängen. Ich weiß noch nicht, ob ich sie irgendwie greifen kann.
Teil 1: Rückzug
Hinter mir liegen, ähnlich wie bei den Tieren, einige Wochen des Rückzugs. Ich habe die erste Zeit des Jahres damit verbracht, eine Erkältung auszukurieren, Bücher zu lesen und damit anzufangen, selbst ein neues Buch zu schreiben. Meist habe ich drei, vier Seiten in wenigen Stunden geschrieben und meinen Arbeitstag dann beendet, weil meine Kräfte begrenzt waren.
Alles hat seine Zeit, auch Rückzug und Überwinterung. Als dieses Jahr mit den Bauernprotesten, den Bahnstreiks, den Correctiv-Enthüllungen und den Vorwahlerfolgen von Donald Trump begann, war ich froh, dass ich einen Ausweg hatte. Ich habe den neuen Roman von Haruki Murakami gelesen, mehr Eskapismus ist unmöglich.
In Murakamis Welt dürfen Menschen so sein, wie sie sein wollen, sie hören sich zu, gehen aufmerksam und respektvoll miteinander um. Und es gibt bei Murakami nicht nur eine Realität, sondern viele. Die Möglichkeit einer anderen Welt ist ein Trost, und jeder Mensch braucht Trost.
Der erste Monat des Jahres war für mich ein Überwinterungsmonat. Wenn ich genauer darüber nachdenke, ist der Januar vielleicht ein Zeitpunkt, den wir fälschlicherweise als einen Neubeginn begreifen, obwohl es vielmehr eine Phase des Übergangs ist, der Altes von Neuem trennt. Solche Phasen kehren immer wieder, bei manchen seltener, bei manchen häufiger. Bei mir sehr häufig. Ich bin nicht in der Lage, 365 Tage mit der gleichen Energie, mit der gleichen Aktivität zu verbringen. Ich brauche Rückzug, und wenn ich mich nicht gelegentlich zurückziehe und zurücknehme, übernimmt mein Körper dies für mich.
Katherine May schreibt in ihrem schönen Buch Überwintern von der Notwendigkeit, diese Phasen anzunehmen und in diesen Phasen für sich zu sorgen. “Winter ist nicht einfach nur eine kalte Jahreszeit. Auch im Leben kann es Phasen geben, die sich wie Winter anfühlen. Karge Phasen, in denen man sich ausgesondert, ausgeschlossen und ausgebremst fühlt, in eine Außenseiterrolle gedrängt.”
Wer das akzeptieren kann und diese Zeit nutzt, um Dinge langsamer anzugehen, sich mehr unverplante Zeit und mehr Schlaf gönnt, handele heutzutage fast schon radikal, schreibt May, und ich glaube, damit hat sie recht. Ich finde es wichtig zu respektieren, dass Menschen Zeit brauchen, um sich zurückzuziehen und innezuhalten. Dieser Respekt beginnt bei dem Respekt vor sich selbst.
Wir leben in einer Zeit, in der sich viele Menschen nach Rückzug und Privatheit sehnen, nach einer kleinen, heilen Welt, in der es keine Klimakrise, keine Demokratiekrise und keine Kriegsgefahr gibt. Doch diese Welt ist genauso unwirklich wie die Welt hinter der ungewissen Mauer in Murakamis neuem Roman, in der keine Bücher in den Bibliotheksregalen stehen, sondern Träume, die von ausgebildeten Traumlesern zum Leben erweckt werden. Es ist ein Buch über Verlust. Darüber, die Gewissheit über die eigene Welt zu verlieren und seinen eigenen Platz zu suchen und neuen Halt zu finden.
Auch wir leben in einer Zeit der Verluste, und das wird immer mehr Menschen klar. Die Welt, in der wir leben, ist nicht naturgegeben. Sie wurde erarbeitet und erkämpft und auch, dass sie bleibt, lebenswert bleibt, muss erarbeitet und erkämpft werden. “Es werden gesellschaftlich Verluste intensiver wahrgenommen und auch vermehrt für die Zukunft erwartet. Darin zeigt sich etwas Grundsätzliches der Spätmoderne: Es findet eine Verlust-Eskalation statt”, behauptet sogar der Soziologe Andreas Reckwitz in einem Interview (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
Wahrscheinlich ist es eine nachvollziehbare menschliche Reaktion, dies zu verdrängen, nostalgisch zu werden und sich an dem festzuhalten, was noch sicher erscheint. Es ist nachvollziehbar, dass man nicht von Wahlumfragen an den Aufstieg faschistischer Kräfte erinnert werden möchte, dass man Russlands Drohungen gegenüber den baltischen NATO-Staaten überhören möchte und dass man zu allem Überfluss nicht auch noch an den drohenden Verlust unserer Lebensgrundlagen erinnert werden möchte.
Doch die vergangenen Tage, in denen ich nicht nur gegen die AfD und für Demokratie und Vielfalt demonstriert, sondern gleichzeitig für einen Artikel über die Letzte Generation recherchiert habe, haben mir vor Augen geführt, dass Untätigkeit keine Option ist. Ich glaube, die Zeit des Rückzugs ist vorbei.
Teil 2: Protest
Heute Morgen habe ich beim Redaktionsnetzwerk Deutschland ein Interview mit der Letzten Generation (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) über die neue Strategie der Klimabewegung veröffentlicht. Die Bewegung gab gestern bekannt, dass sie künftig nicht mehr auf Straßenblockaden und Festkleben setze, sondern auf unangemeldete Protestaktionen, die sich vorwiegend gegen Politiker*innen richtet und gegen Verursacher*innen der Klimakrise wie Energiekonzerne.
“Statt uns in Kleingruppen aufzuteilen und Straßenblockaden zu machen, werden wir gemeinsam mit vielen Menschen ungehorsame Versammlungen machen. Und zwar da, wo wir nicht ignoriert werden können. Somit beginnt eine neue Ära unseres friedlichen, zivilen Widerstandes – das Kapitel des Klebens und der Straßenblockaden endet damit”, heißt es in der neuen Strategie (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
Wie das in etwa aussehen könnte, war vor wenigen Tagen bei der Agrarmesse Grüne Woche zu sehen. Aktivist*innen der Letzten Generation unterbrachen eine Rede des CDU-Chefs Friedrich Merz und richteten Fragen an ihn, auf die sie keine inhaltliche Antwort bekamen. Merz sagte, die “Rumschreierei” habe keinen Sinn. “Benutzt euren Kopf und nicht nur euren Kehlkopf.”
Eine der Aktivist*innen war die 23-jährige Lea-Maria Rhein, mit der ich vor wenigen Tagen gesprochen habe. Sie ist Sprecherin der Letzten Generation. Als ich das Interview vorbereitet habe, waren fast alle Fragen kritische Fragen. Dem Unverständnis, das die Bewegung in der Bevölkerung bisher mit ihren Protestaktion erzeugt, wollte ich nicht nur Ausdruck verleihen. Ich habe bisher selbst nicht verstanden, warum es den Aktivist*innen vollkommen egal zu sein scheint, dass sie kaum noch Rückhalt in der Bevölkerung haben. Ist Ihnen die Solidarität der Gesellschaft nicht wichtig? Sind die Protestaktionen nicht letztlich sogar kontraproduktiv?
Die Klarheit und Gelassenheit, mit der Lea-Maria Rhein darauf antwortete, überraschte mich ein wenig. Wahrscheinlich hätte ich nicht überrascht sein sollen, aber in den heutigen Zeiten ist es nun einmal nicht selbstverständlich, dass jemand auf eine kritische Anmerkung ruhig, sachlich und differenziert reagiert. Sie antwortete:
“Wir sind nie mit dem Ziel auf die Straße gegangen, uns beliebt zu machen. Wir sind mit dem Ziel auf die Straße gegangen, Druck auf die Regierung auszuüben. Wenn wir in die Geschichte schauen, waren Protestbewegungen niemals beliebt. Martin Luther King war zu Lebzeiten einer der meistgehassten Menschen seines Landes. Auch die Suffragetten, die für das Frauenwahlrecht gekämpft haben, waren unbeliebt. Es sind trotzdem große Veränderungen dadurch entstanden. Deshalb ist es für uns in Ordnung, wenn Menschen unsere Protestformen ablehnen.”
Es ist nicht lange her, als die Aktivist*innen der Letzten Generation als Klima-RAF bezeichnet wurden. Ungeachtet der Feststellung des Verfassungsschutzes, dass eine solche Bezeichnung abwegig sei, hielten konservative Politiker*innen daran fest, die Klimabewegung in die Nähe extremistischer Gruppen zu rücken. Die Rote Armee Fraktion ermordete 34 Menschen. Die Letzte Generation hingegen ist eine friedliche Protestorganisation, die ihrerseits Gewalt erfährt.
Die neue Strategie und die Vertreter*innen der Letzten Generation deuten nicht gerade auf eine Radikalisierung hin. Die Bewegung hat ihr bisheriges Vorgehen systematisch ausgewertet und hinterfragt, neue Ziele formuliert und eine neue Strategie erarbeitet. Ziemlich vorbildliche Organisationsarbeit. Auch wenn ich nicht alle Hintergründe kenne, die zu der neuen Ausrichtung geführt haben, ist dabei offensichtlich herausgekommen, dass sich die Proteste weniger gegen die Bevölkerung und stärker gegen verantwortliche Politiker*innen, Verursacher*innen und “Orte der fossilen Zerstörung” wie Öl-Pipelines und Flughäfen richten sollen. Einige Medien hatten die Bewegung anlässlich ihres zweijährigen Bestehens schon abgeschrieben.
Es war ja zuletzt ruhiger geworden, was fälschlicherweise als Indiz dafür gewertet wurde, dass es mit der Letzten Generation zuende gehen könnte. Doch vielmehr hat sich die Bewegung zurückgezogen, um eine neue Strategie zu erarbeiten. Und ich glaube jetzt, die Bewegung ist gerade dabei, Fridays for Future als die zentrale Klimabewegung in Deutschland abzulösen.
Wenn ich über meinen Rückzug und meine Passivität der vergangenen Wochen nachdenke und über das, was Lea-Maria Rhein gesagt hat, glaube ich, dass es sich lohnen könnte, die eigenen Vorbehalte gegenüber der Letzten Generation zu hinterfragen. Es kommt der Bewegung nicht auf gesellschaftlichen Rückhalt an. Die Gründe dafür verstehe ich jetzt besser. Dennoch glaube ich, dass Solidarität mit der Bewegung, die ihre Zeit und Ressourcen letztlich für uns alle einsetzt, dabei helfen könnte, ihre (und damit unsere) Ziele zu erreichen.
Mir fiel heute eine Aussage des Philosophen Roman Krznaric wieder ein, den ich vor einigen Jahren zum Thema Langfristiges Denken interviewt habe. Er sagte, dass Protest die Politik anstrengen müsse:
"Als in London die Abwasserkanäle im 19. Jahrhundert gebaut wurden, hat die Regierung erst gehandelt und die Kanäle finanziert, als der Geruch so schlecht war, dass die Parlamentsmitglieder kaum noch atmen konnten. Sie konnten ihre Meetings nicht mehr abhalten. Das heißt: Menschen in Machtpositionen müssen selbst von einem Problem berührt werden, bevor sie handeln.
Die Geschichte hat oft gezeigt, wohin es führt, wenn Gesellschaften nicht auf ihre Probleme reagieren. Eine der Gemeinsamkeiten beim Zusammenbruch etwa des Römischen Reichs oder der Maya-Kultur ist, dass sich die Eliten vor den schädigenden Auswirkungen ihres Handelns schützen konnten.”
Sie konnten ihre Meetings nicht mehr abhalten. So wie Friedrich Merz seine Rede bei der Grünen Woche nicht abhalten konnte, weil er von der Letzten Generation gestört wurde. Politiker*innen müssen den Druck selbst spüren, ehe sie handeln, und sie spüren ihn umso stärker, glaube ich, wenn die Aktivist*innen den Rückhalt der Gesellschaft haben. Es darf Politiker*innen nicht leicht fallen, die Anliegen der Letzten Generation als sinnlos zu bezeichnen.
Das Gespräch mit der Klimaaktivistin und die Auseinandersetzung mit der neuen Strategie der Bewegung haben mir gezeigt, dass die Kritik an der Letzten Generation vielleicht mehr über die eigene Untätigkeit und die Arroganz der Erwachsenen gegenüber jungen Menschen aussagt als über die Bewegung und die Aktivist*innen, die genau wissen, was sie tun – und die sich in Frage stellen, wenn sie es nicht mehr genau wissen.
Vielleicht ist Rückzug genau dazu da: sich zu hinterfragen, Schlüsse zu ziehen und neue Strategien zu entwerfen. Wer eine Weile abtaucht, ist nicht am Ende, sondern vor einem neuen Anfang. Ergibt das Sinn?