Die Freiheit spüren
Ein Rausch über (m)eine weiße Leidenschaft
Ich bin mit dem Gedanken aufgewachsen, dass Skifahren Freiheit bedeutet. Seit ich sieben Jahre alt bin, stehe ich auf Skiern. Ich bin immer in Tirol gefahren. Es gab nie eine andere Option für unsere winterlichen Ausflüge auf die Piste, außer unser Nachbarland Österreich. Meine Eltern haben ihr halbes Leben in der DDR verbracht, ich bin 1985 geboren. Mit dem Fall der Mauer war klar, jetzt geht es endlich auf die großen Skipisten. Hinter dem Eisernen Vorhang gab es zwar auch Skigebiete, aber die waren klein, eng und überfüllt.
1992 fuhren wir also das erste Mal nach Tirol. Ich kann mich sehr genau erinnern: Es ging von Berlin in die Berge auf knapp 1800 Meter über dem Meeresspiegel in einen kleinen Ort mit dem Namen Vent. Da ist man schon mal einen ganzen Tag unterwegs. Bis heute fährt mein Papa die Strecke in einem Rutsch. Meine kleine Familie und ich übernachten meistens auf der Hälfte einmal, weil uns die ganze Strecke auf einmal stresst. Aber der Opa lässt sich nichts nehmen: „Das mache ich seit 30 Jahren so. Das fahre ich im Schlaf.“ Welch Glück, dass er das nie wortwörtlich meint. Vent ist nach wie vor ein sehr kleiner Ort am Ende des Ötztals. Ja genau, dort in der Nähe hat man auch den Ötzi (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) gefunden. Für meine Eltern sollte es ein Dorf am Ende eines Tales sein. Und das ist Vent: eingerahmt von hohen Bergen und mit nur einer kleinen Zufahrtsstraße, die Anfang der 90er-Jahre noch nicht für den Rausch von so vielen Touristen gemacht war. Vent war eher ein kleines Bergdörfchen, Skifahren stand hier gar nicht im Mittelpunkt. Im Sommer war es dank dem Geierwallihof bekannt unter Wanderern. Aber für mich als Kind und für meine Eltern, die gerade ihre Freiheit entdeckten, war es das Schönste, was wir bisher erlebt hatten. Später fuhren wir auch in die großen Skigebiete und in Orte, ohne alten Dorfkern mit Kirche Schenke.
Nichts geht mehr
Schon bei der Anreise schneite es ununterbrochen. Ab München wurde es weiß und dank der vielen Wintertouristen waren die Autobahnen voll und wir standen viel im Stau. Der Schnee war mächtig und auch die Räumfahrzeuge kamen kaum hinterher. Ich saß mit offenen Mund am Fenster, hörte Bibi Blocksberg und konnte nicht glauben, wie viel Schnee es geben kann. Nach Garmisch und dem Fernpass ging es nur noch aufwärts – und das im Dunkeln. Ich war so aufgeregt, wollte ständig aussteigen und den Schnee anfassen. Wir schlängelten uns weiter die Täler hinauf und fanden endlich die richtige Straße nach Vent. Ziemlich schmal und auch ein bisschen baufällig schoben wir uns in völliger Dunkelheit im Schneckentempo durch den Schneesturm. Bis vor uns plötzlich Polizeilichter auftauchten, wir anhalten mussten und mein Papa das Fenster herunterkurbelte. Ich verstand nichts, war nur komplett überwältigt. Was war los, warum ging es nicht weiter?
Ein klares „Ihr bleibt im Auto, ich muss Schneeketten anlegen“, von meinem Papa lies mich in den Sitz zurücksinken. Hinter uns hatte sich eine Schlange von Autos gebildet, Polizisten und Feuerwehrleute leuchteten mit riesigen Taschenlampen und die Fahrer und Fahrerinnen kramten in ihren Kofferräumen nach Schneeketten. Manche mussten alle Taschen herausholen und stellten dann fest, dass sie keine Ketten dabei hatten. Wen dieses Schicksal ereilte, der musste mit knirschenden Zähnen wieder hinunter ins nächste Dorf fahren und dort ein Hotel suchen. Ich beobachte meinen Papa durch das beschlagene Fenster, wie er die Ketten anlegte. Ein ziemliches Gefummel, vor allem, wenn man es noch nie gemacht hat. Es war kalt, schneite wie verrückt und die Dunkelheit machte dieses Unterfangen umso schwerer. „Nie wieder habe ich Schneeketten gebraucht, nur in diesem ersten Jahr“, erzählt er mir „aber ich bin danach niemals ohne losgefahren.“ Im Schritttempo krochen wir hinter einem riesigen Traktor mit einem beeindruckenden Schneeschieber vorne dran den Berg hinauf. Wir kamen erst um Mitternacht in der Ferienpension an. Nichts war zu sehen, nur dunkel und Schneeflocken.
Skihasen in bunten Anzügen
Am nächsten Morgen verschlug uns der Blick aus dem Fenster wirklich den Atem. Es hatte aufgehört zu schneien. Um uns herum gab es nur weiße Berge. Die Straße war weiß, der Schnee meterhoch und die meisten Autos weg, eingeschneit. Auch unseres war komplett unter einer weißen Decke verschwunden. Es sollte noch zwei weitere Tage so schneien. Aber das hielt uns nicht davon ab, endlich richtig Ski zufahren. Mein Papa war so aufgeregt. Wie ein kleiner Junge hüpfte er durch die Ferienwohnung und konnte sich kaum beruhigen.
Aber auch für mich ging es jetzt endlich los. Ich kam in die Skischule. Lauter kleiner Skihasen in sehr bunten Schneeanzügen, eine junge Frau mit dem schönen Namen Luise und zwei lange Latten an meinen Füßen. Erst stapften wir immer nur seitlich den „Idiotenhügel“ (damals nannte man den noch so, ich glaube, heute heißt das anders) hoch und rutschten brav wieder hinunter. Das ging alles recht einfach und machte richtig viel Spaß. Ich muss aber zugeben, ich kann mich kaum noch daran erinnern. Aber was ich ganz genau weiß ist, wie es meine Tochter vor drei Jahren in der Skischule erlebte – und das war sicher ähnlich. Jedenfalls war ich in der Mittagspause so erschöpft, dass ich schon beim Ausziehen der Skistiefel hinten überkippte und einschlief.
Gleich am Nachmittag ging es auf die erste kleine Piste, mit Lift fahren. Wir Kleinen klemmten zwischen den Beinen der Skilehrer und Skilehrerinnen und ich fühlte mich sehr sicher. Langsam und im Gänseflug immer hinter Luise her ging es den Hügel hinunter. Meine Mama holte mich ab und fragte, ob Luise schwanger sei, weil ihr Bauch so rund wirkte. Aber Luise war eine ganz Gewitzte, in der Tasche, vorne am Bauch hatte sie eine Tüte Gummibärchen. Jedes Kind bekam, wenn es unten angekommen war, ein Gummitier. Das gab es 25 Jahre später leider nicht mehr. Was es aber immer noch gibt, ist das Gästeskirennen der Skischule. Die ganze Woche fieberten wir daraufhin. Die Aufregung war groß, Eltern standen im Ziel und ich bekam eine Startnummer. Die Letzte, die Höchste, irgendwas mit über 100. Ich dachte noch, ach, da bin ich ja sowieso schon Letzte und fuhr ganz gemächlich den Hang hinunter. Unten standen alle und feuerten mich an, ich solle doch schneller fahren. Nagut, ich machte ein bisschen flinker und rauschte ins Ziel. Und was soll ich sagen, ich gewann das Gästeskirennen der Kleinsten. Bei der anschließenden Preisverleihung in einem schicken Hotel hatte ich Angst, auf die Bühne zu gehen. Mami ging mit und ich bekam eine Medaille unter dem johlenden Applaus der Après Ski Gäste.
Stillstand
Aber nicht nur das war besonders in dieser Woche, denn die Natur zeigte uns noch ein weiteres Mal ihre Macht. Nach dem Schneefall kam die Sonne, das ist auf der Skipiste das allerschönste. Der Schnee glitzert im hellen Sonnenlicht und der Kontrast zum Himmel ist unfassbar. Magisch würde ich fast behaupten. Auf jeden Fall taut es, wenn die Sonne scheint. Und wenn es taut, gibt es Lawinen. Und solch eine Lawine schnitt uns für einige Tage von der Außenwelt ab. Die kleine Zufahrtsstraße wurde verschüttet und der Dorfpfarrer predigte Weltuntergangsszenarien. In der Kirche standen Skilehrer:innen, Gastwirt:innen neben Tourist:innen und Kindern. Alle waren sie da und lauschten den Worten eines alten Mannes. Am Ende war alles gut, die Straße wurde frei geschippt und im Jahr darauf nicht nur erneuert, sondern auch mit einem Lawinenschutz bedacht. Vor zwei Jahren im Sommer waren wir noch mal in Vent zum Wandern. Der Ort hat sich verändert, ist jetzt doch eher auf Ski-Tourismus ausgelegt, aber für mich ist es immer noch das kleine verträumte Dörfchen aus meiner Kindheit.
Ich weiß wohl, dass man Skifahren von seinen Eltern (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) erbt, das schreibt Anna Mayr in der ZEIT. Auch ich gebe das an meine Tochter weiter. Das Skifahren zu viel Geld kostet und es eigentlich irgendwie sinnfrei ist, sich todesmutig einen steilen Berg auf zwei langen Kunststoffbrettern hinunterzustürzen, ist mir wohl bewusst und dennoch kann und will ich es nicht missen. Es ist meine Flucht aus dem ewigen Berliner-Winter-Dauergrau.
Bis heute hege ich diese tiefe Leidenschaft zum Skifahren. Ich stehe auf den Rausch der Schnelligkeit, den Kick, wenn es hinter einer Bodenwelle steil wird und den Tee mit Rum in der Mittagspause. Ich war später auch mit Freunden auf der Piste, wir haben wild gefeiert und mehr getrunken, als wir Ski fuhren. Aber ich kam immer wieder und das, obwohl ich eigentlich den Sommer mehr liebe. Dieses Weiß und die (scheinbar) sanfte Welt unter der Schneedecke geben mir Frieden. Seit einigen Jahre fahre ich wieder mit meinen Eltern und meine Tochter steigt gerade in dieses wilde, angstfreie Alter ein. Aber ich spüre ihre Freude, ihre Lust auf den weißen Rausch und diese eine Woche Winterliebe im Jahr. Für nächstes Jahr haben wir schon reserviert.
Bleibt leicht und berauscht,
Helen
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Mit einer Illustration von Sophie Schäfer: