„Na heulst du wieder“
„Na machst du es dir wieder selber Schlampe?“ Mit diesen Worten riss Andreas die Tür auf und stürmte ins Bad. Marie lag in der Badewanne, ohne Schaum, den mochte sie nicht. Sie war ihm völlig ausgeliefert. Sie schlang die Arme um ihren Körper, ihr Herz raste und sie begann zu zittern. Rolf hielt seine Handykamera auf sie und schrie: „Ich filme dich du dumme kleine Kuh. Glaubst du ernsthaft, ich lasse dich so ungeschoren davon kommen?“ Er lachte hämisch und Marie schwor sich, dieses Mal würde sie wirklich die Polizei rufen.
„Geh raus Andi, ich rufe die Polizei“, brachte sie schluchzend hervor, „du bist hier gewaltsam eingedrungen und filmst mich gegen meinen Willen.“ Aber Andreas lachte nur und verließ Tür knallend das Bad. Kurze Zeit später hörte Marie wie er von außen abschloss. „Schatz, ich hab den Schlüssel wieder gefunden. Ich stecke ihn Mal von außen dran. Mach dich ruhig in Ruhe fertig, ich hole schon mal die Kinder ab.“ Marie geriet in Panik, er klang zu normal, das war gefährlich. Von innen rüttelte sie an der Tür, er hatte wirklich abgeschlossen, kann das sein? Das ist unglaublich, das darf er nicht. Er hat sie eingeschlossen. Hastig zog sie sich ihren Schlafanzug an, was anderes hatte sie hier nicht, und rief die Polizei.
Angst macht stumm
„Bleiben sie mal ruhig junge Frau, wir kommen gleich.“ Der Beamte klang nett, zu nett. Als würde er sie nicht ernst nehmen. Marie zitterte, sie hatte noch nie die Polizei gerufen, aber das hier war zu viel. Was, wenn er mit den Kindern irgendwohin fährt. Es dauerte, keiner kam. Marie versuchte durch das Badfenster hinaus zu klettern, aber es war zu hoch. Dann hörte sie Reifen, ein Auto fuhr vor und dann noch eins. Oh nein. Andreas war schneller.
„Wir haben einen Anruf von ihrer Frau bekommen, sie sagt, sie haben sie eingesperrt.“ „Ach, wahrscheinlich hat sie beim Masturbieren von Polizisten geträumt, sie hat einen kleinen Fetisch. Wenn sie verstehen, was ich meine?“
Marie konnte es nicht glauben, sagte er das gerade wirklich? Sie musste die Tränen zurückhalten, als sie den Polizisten lachen hörte. Andreas ging zum Fasching immer als Polizist, in ihrem Haus hingen Bilder davon.
„Mama, bist du da?“ Die Kinder, dachte Marie. Sie musste ruhig bleiben, sie wollte nicht, dass sie etwas mitbekamen. Sie wollte nicht, dass ihre Krise auf dem Rücken der Kinder stattfand.
„Warten sie einen Moment, ich schaue mal nach meiner Frau“, hörte Marie Andreas sagen. Schnelle leise Schritte, fast unhörbar drehte er den Schlüssel im Schloss, sie war wieder frei. Im nächsten Moment stürzte sie hinaus und lief dem Polizisten direkt in die Arme.
„Oh hallo junge Frau“, seine Stimme klang anzüglich. Marie wurde heiß und kalt. „Haben sie uns angerufen? Ist bei ihnen alles in Ordnung?“ Der Polizist musterte sie von Kopf bis Fuß, ein winziges Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Marie sah sich im Spiegel. Sie schaute in das Gesicht einer Vogelscheuche im Schlafanzug. „Wir werden sie jetzt getrennt befragen. Haben sie einen Raum in dem wir uns ungestört unterhalten können? Ich spreche mit ihrem Mann. Meine Kollegin hier geht mit ihnen. In Ordnung?“
Aus Wut wird Panik
Marie konnte nur nicken. Sie fror und auf ihrem Körper breitete sich eine Gänsehaut aus. Der Polizist tätschelte ihre Schulter, „das wird schon wieder.“ Die Stelle, die er berührte, begann sofort zu brennen. Ein loderndes, wütendes Feuer ergriff sie. „Seit Tagen macht er mich fertig“, schrie sie dem Beamten panisch zu. Er ging ungeachtet zu Andreas in Wohnzimmer und schloss die Tür. Da hörte sie schon Andreas Stimme: „Sie müssen wissen, meine Frau betrügt mich. Leider schon lange und immer wieder. Sie tut als wäre sie das Opfer, dabei ist sie die größte Schlampe.“
Marie geriet in Panik, Tränen traten in ihre Augen. Die Kinder, sie dachte nur an ihre Kinder. „Wo sind meine Kinder?“, raunte sie der Polizistin zu. „Sie spielen oben, es ist alles in Ordnung, kommen sie.“ Gemeinsam gingen sie zum Kinderzimmer, schauten nach und Marie beruhigte sich etwas. Zurück in der Küche, wollte Marie gerade ansetzten zu sprechen, als Andreas mit dem Kollegen schon wieder zurückkam.
„Hier ist alles in Ordnung, eine halbwegs normale Ehekrise. Ich denke, die beiden schaffen das ohne uns.“ Der Polizist wandte sich an seine junge Kollegin, zwinkerte ihr zu und gab ihr zu verstehen, dass sie nun gehen würden. „Gehen sie schon wieder?“ Marie geriet in Panik, das darf nicht wahr sein. „Sie schaffen das schon. Suchen sie sich eine Paartherapie und wenn sie sich bedroht fühlen, können sie sich natürlich bei uns melden.“ Die Polizisten verabschiedeten sich, wünschten alles Gute und gingen.
Marie war wie unter einem Schleier. Tränen rannen ihr die Wangen hinunter, sie zitterte. „Jetzt heulst du wieder“, kläffte Andreas. Seine Stimme hatte von einer Sekunde auf die andere die Tonart gewechselt. Er hätte Synchronsprecher werden sollen, dachte sie bitter und lachte beinahe hysterisch. „Wie eine Irre, siehst du aus. Bereit für die Klapse“, flüsterte Andreas ihr zu. „Zieh dich mal an, die Kinder bekommen noch einen Schreck.“ Die Kinder, dachte Marie wieder, straffte die Schultern und ging erhobenen Hauptes ins Schlafzimmer.
Maries Geschichte ist keine Seltenheit. Jede dritte Frau in Deutschland ist mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Das sind 14 Millionen Menschen. Betroffen sind Frauen aller sozialen Schichten. Die Zahlen zeigen klar: Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig. Und dazu gehört ganz klar auch verbale Gewalt.
Ich recherchiere und finde heraus, dass Kinder, die schon Gewalt, Streit und Demütigung zu Hause erlebten ähnliches auch als Erwachsene erfahren. Sie halten still und neigen später zu ebensolchen toxischen Beziehungen. Was sie als Kinder schon ertragen haben und als „normal“ empfanden, halten sie auch als Erwachsene aus. Marie litt auch als Mädchen unter einem gewalttätigen Vater. In einer Nacht-und Nebelaktion verließ sie mit ihrer Mutter die Familienwohnung. Heimlich, dass der Papa das nicht mitbekam. Für ihre Kinder wollte sie das nie, deswegen wahrt sie den Schein. Sie möchte dieses Erbe nicht weitergeben.
Die Nächte sind am schlimmsten
Als Marie mir davon erzählte, konnte ich es gar nicht fassen. Ich kannte Andreas, nicht besonders gut, aber ab und zu traf ich ihn auch. Für mich war er ein ausgeglichener, freundlicher Mann. Immer höflich, immer zuvorkommend. Manchmal fand ich das unheimlich, aber ich machte mir nie darüber Gedanken. Marie litt schon lange unter ihm. Vor allem nachts bekam sie seinen Narzissmus zu spüren.
Andreas arbeitete viel und kam immer erst spät nach Hause. Er ist Manager in einem großen Unternehmen, er führt andere zum Erfolg. Er wird bewundert, bestaunt und er liebt seinen Job. Keiner konnte ihm das Wasser reichen. Auch Marie himmelte ihn zu Beginn ihrer Beziehung nahezu an, bewunderte seinen Mut und seine Durchsetzungskraft. Aber je erfolgreicher sie selber wurde, desto schlimmer wurde es in ihrer Ehe.
Die Nächte waren am schlimmsten. Wenn er nach Hause kam, weckte er Marie und flüsterte ihre wüste Beschimpfungen zu. Unterstellte ihr zahlreiche Affären mit Kolleg:innen, dass sie die Kinder vernachlässige und die schlimmste Mutter auf der ganzen Welt sein. Marie ist in jeglicher Hinsicht eine liebevolle, aufopfernde Mutter und sie ist immer für ihre Kinder da. Seit Jahren hatte er sie nicht angefasst. Seine Gewalt war nicht körperlich. „Das wäre ja für andere sichtbar“, hatte Marie mir einmal erzählt. Nach außen hin solle alles perfekt aussehen.
Ich weiß nicht, wie Marie das so lange aushielt, aber als er eines Nachts ihr Bettzeug, Decke, Kopfkissen und Matratze aus dem Schlafzimmer wuchtete und vor den Augen und Ohren der Kinder Marie als Betrügerin, Ehebrecherin und Schlampe beleidigte, war es zu viel. Die Kinder weinten und flehten ihren Papa an, doch Mama nicht so anzuschreien. In dieser Nacht ging Marie und kehrte nicht zurück.
Sie hat Andreas nie angezeigt, sie verlangt keinen Unterhalt und hat sich auch nicht scheiden lassen. Er wolle noch immer den Schein waren, erzählte sie mir. „Und du willst Andreas nicht als Feind haben.“ Sie wohnt mit den Kindern in einer Wohnung nahe der ehemaligen Familienwohnung. Manchmal, sehr selten sind die Kinder bei ihm, aber sie hat diese Wohnung seit der besagten Nacht nicht wieder betreten.
Bis heute verstehe Andreas nicht, was Maries Problem war. Es sei doch alles in Ordnung, das bisschen Streit halten doch die Kinder aus. Das gibt es in jeder Familie. Andreas hat jetzt eine neue Freundin, sie ist viel jünger als Marie und sehr naiv. „Hoffentlich bekommt sie keine Kinder von ihm“, schrieb mir Marie kürzlich und ich bekam eine Gänsehaut.
Du hast eine Stimme
Was können wir tun? Was kann ich tun? Wie kann ich Marie helfen? Lange war ich wie gelähmt, fühlte mich gefangen in meiner Angst um sie. Immer wenn ich ihr klar machte, sie solle Andreas endlich verlassen, wusste ich, sie wird es nicht tun. „Wohin soll ich denn?“, fragte sie immer. Wenn schon die Polizei ihr nicht glaube.
Das Thema beschäftigt mich schon eine Weile und natürlich ist Marie nicht Marie. Ich habe ihren Namen geändert und auch Andreas umbenannt. Ihre Geschichte kenne ich aber, auch wenn sie sich aus vielen anderen zusammensetzt. Nichts von dem was Marie passiert ist habe ich mir ausgedacht. Alles habe ich so oder ähnlich gehört. Ich kenne Frauen, denen das widerfährt und ich möchte helfen.
Deswegen schreibe ich das hier, weil ich aus meiner Lähmung raus möchte. Weil ich mir wünsche, dass wir bei der anstehenden Bundestagswahl sensibel sind und auch an solche Themen denken. Die EDITION F hat die Programme der großen Parteien durchgeackert und wunderbar zusammengefasst, wie auf Gewalt an Frauen eingegangen werden soll. Den Link zum Artikel dazu findet ihr am Ende dieses WortRausches. Nur eine Partei plant übrigens die Justiz und Behörden im Umgang mit betroffenen Personen zu schulen und zu sensibilisieren.
Lebendig statt gelähmt
Im Buch „Unsichtbar, wir zeigen Gesicht“ erzählen elf Frauen von ihren Erlebnissen. Bei einer Lesung traf ich zwei von ihnen. Sie sprachen, lasen und berichteten über ihre Erfahrungen mit sexualisierter und häuslicher Gewalt, Missbrauch und Vergewaltigungen – und sprechen damit ein absolutes Tabu-Thema an. Alice Marie Westphal ist nicht nur Betroffene, sondern auch Vorstandsvorsitzende des Vereins S.I.G.N.A.L e.V.:
„Wir wollen Frauen eine Stimme geben. Mit unserem Buch wollen wir Frauen Mut machen ihr Schweigen zu brechen. Ich möchte, dass wir uns zeigen und darüber reden, was uns passiert ist. Wir sind Überlebende. Alle müssen hinsehen und auf keinen Fall wegsehen.“
Alice fand erst mit 64 Jahren ihre Stimme und den Weg zu einer Traumatherapie. Noch immer hat sie nicht alles aufgearbeitet. Noch immer geht sie in keinen Keller. „Ich kann das nicht, da macht meine Seele einfach zu“, sagt sie.
Anders und doch ähnlich erging es Aissatou Friedrich. Auch wenn sie anderes erlebte, eines eint die meisten Frauen. Sie haben Missbrauch immer wieder erfahren und es begann bereits in der Kindheit:
„Ich bin 46 Jahre alt und habe 40 Jahre Gewalt erlebt. Ich habe meine Geschichte nie zur Anzeige gebracht. Ich bin die Dunkelziffer. Aber wir sind nicht allein. Wir können es schaffen. Wir haben alle ein Recht auf ein sicheres und erfülltes Leben.“
Dieser Abend hat mich bis auf die Knochen erschüttert. Ich weiß, dass es das alles gibt. Aber es ist etwas anderes diesen Frauen mit ihrem Mut über ihre Geschichte zu sprechen gegenüber zu sitzen und zu hören, was sie erleiden mussten. Ich fragte Alice und Aissatou, was ich denn tun könne. Ich möchte mehr machen. Aber sie versicherten mir, dass ich schon sehr viel tue, wenn ich schreibe, wenn ich über sie berichte und wenn ich auch mit Marie rede und ihr immer wieder Hilfe anbiete.
Als sich Alice und Aissatou am Ende der Lesung in den Armen liegen, weine ich. Es muss einfach raus. Die Wut, die Ohnmacht und die Verletzungen bahnen sich auch durch mich hindurch. Also weinte ich einfach ein bisschen und fühlte mich auf dem Heimweg schon wieder etwas leichter, trotz des schweren Themas. Zwei Dinge habe ich gelernt: Ich habe eine Stimme. Ich habe eine Wahl. Und du hast sie auch. Triff sie nicht leichtfertig, aber in jedem Fall lebendig,
Deine Heli
Zum Nachlesen:
Informationen zum Buch „Unsichtbar – wir zeigen Gesicht“ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)findest du hier.
Hier geht es zum Feminismus-Check der Edition F. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Hilfe für Frauen in Not: https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/startseite.html (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
https://www.signal-intervention.de (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Alice Mari Westphal: https://alice-westphal.de (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
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Die Illustration zeigt das internationales Handzeichen bei häuslicher Gewalt –von Sophie Schäfer