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Das letzte Blatt

Ein Wald-Rausch

Manchmal dauert es sehr lange, bis ein Rausch den Weg durch meine Gedanken aus meinem Notizbuch heraus findet und über die Finger in das leere Dokument meiner Textdatei wandert. Hinter mir liegen zwei Wochen Inselleben und vier Wochen Berliner Herbst-Alltag. Ich habe Projekte abgeschlossen, neue begonnen, Pläne geschmiedet und versucht, mich zu sortieren. Das Jahr rauscht dem Ende zu – und endlich rauscht es auch wieder in meinem Kopf. Ich betone die Jahreszeit so expliziert, weil sie mir Angst macht. Oder sollte ich schreiben, Angst gemacht hat?

Ich mag den Herbst nämlich nicht. Ich mag auch den Wind und die schönen bunten Blätter nicht. Wenn nämlich das passiert, heißt es, dass es nicht mehr lange dauert, bis alle Blätter hinweggeweht sind und die kahle, graue Jahreszeit heran schleicht. Jedes Jahr leide ich, und eigentlich schaffe ich keine Akzeptanz. Ich kann es einfach nicht verkraften, dass es bis April grau und kalt sein soll. Fünf Monate soll ich mich jetzt um mein Inneres kümmern und mit Hilfe von Tee in mich einkehren. Ich habe das Gefühl, ich darf das nicht erzählen, denn die meisten Menschen lieben den (ach so) goldenen Herbst so sehr, den frischen (nass-kalten) Wind und den (verzweifelten) Tanz der Blätter.

Ich fühle mich wie das letzte Blatt am Baum, dass sich wie eine Irre am Ast festklammert und einfach nicht versteht, dass es jetzt abfallen soll. Und nun den Rest des Jahres auf dem Boden im Schlamm befindet. Aber ein Tag im Wald soll meine Antipathie beenden. Waldbaden heißt das Programm. Nein, kein Waldspaziergang, sondern ein ganzer Tag im Wald mit einer Waldbaden-Kursleiterin. Sie heißt Ulrike und bringt mich dazu, mitten im Wald auf einer Yoga-Matte zu liegen und in den Himmel zu schauen. Der Meditation lausche ich schon lange nicht mehr, stattdessen wandert mein Blick von Baumkrone zu Baumkrone, verliert sich im grauen Himmel und verschwimmt mit meinen Gedanken zu einem Brei.

Gedankenbrei ist, wenn alles sich im Kopf zu einer einzigen Masse vermischt. Das kann bei mir zu kreativen Ausbrüchen führen oder zu leichten Schreck-Momenten. Im schlimmsten Fall fühlt sich das an wie ein Fiebertraum. Immer dieselben dunklen Träume, die nur kommen, wenn ich mindestens 39 Grad heiß bin. Dann erdrückt mich das Leben und die Welt scheint auf mich einzustürzen.

Aber hier im Wald, da ist mein Gedankenbrei weich und fluffig. Ideen und Emotionen hüllen mich ein, der Boden unter mir ist wie Watte. Fast ein bisschen, als hätte ich Gras geraucht. Und dann dringt Ulrikes Stimme wieder in meine Ohren. Sie erzählt etwas von dem riesigen Energie-Feld unter mir, von den Wurzeln, über die die Bäume miteinander kommunizieren – und über Mutter Erde, die mich trägt.

Das Waldbaden hat seinen Ursprung in Japan und wird dort Shinrin Yoku genannt. Es bedeutet, ein Bad in der Atmosphäre des Waldes zu nehmen. In Japan wird Shinrin Yoku schon seit 1982 vom staatlichen Gesundheitswesen als Methode zur Vorbeugung gegen Krankheiten gefördert. So steht es auf der Webseite von Ulrike.

Ich beobachte die Baumkronen, wie sie hin und her schwanken oder stark und fest in den Himmel ragen. Später unterhalte ich mich sogar mit einem Baum. Mein Baum ist nicht so schön und groß wie die anderen. Seine Krone etwas struppig und ausgefranst, mit nur noch wenigen verbliebenen Blättern. Der Stamm auf den ersten Blick weniger kräftig und die Rinde rissig. Aber ich kann meinen Arm um den Baum legen.

Zehn Minuten verbringen wir zusammen, lehnen uns aneinander. Schulter an Schulter, Stirn an Stirn sind wir in einvernehmlicher Stille. Der Baum hat mich mit seiner schütteren Krone, dem zerfurchten Stamm und seinem lichten Blattwerk berührt – und trotzdem steht er aufrecht und flüstert mir zu: „Es ist alles gut Heli. Mir geht es gut. Und dir auch, auch wenn du mal traurig bist. Das ist in Ordnung.“ Ich komme mir so doof vor, aber als die Zeit um ist, weine ich ein bisschen.

Ich weine um die Natur, die sich in den Winterschlaf bettet. Ich weine um den Sommer, der vorbei ist. Ich weine um meine Oma (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), die ich im Wald immer vermisse – und die nun schon seit drei Jahren tot ist. Omas und Opas winziges Häuschen stand direkt am Waldrand, und als beide noch gut zu Fuß waren, haben wir nach dem Essen immer einen Spaziergang durch den Wald gemacht. Opa war Jäger und erzählte von den Spuren der Tiere und Oma grummelte: „Ach, der alte Kerl immer mit seinen Spuren. Der hat auch nichts anderes mehr zu erzählen.“

Ich habe kürzlich das Buch „Packerl“ von Anna Neata gelesen. Während der Lektüre fragte ich mich immer wieder, woher der Titel rührt. Mittlerweile komme ich zum dem Schluss, dass wir alle ein Packerl zu tragen haben. Manchmal ist das größer oder kleiner. Manchmal sind es Erinnerungen und manchmal Gedanken.

„Es gibt Tage, die aus vielen Farben bestehen, Rot, Gelb, Braun, und es gibt Tage in Salzburg, an denen jeder Tag im Oktober schon November ist, wo der Regen so fein vom Himmel fallt, dass man denken könnte, wenn es schon einen Gott gibt, muss er wohl eine riesige Sprühflasche in der Hand haben und einen großen Spaß daran, in schöner Regelmäßigkeit die Oberflächen der Felder, Mauern und Gesichter zu befeuchten. Der Himmel ist so grau wie die darunterliegenden Hauswände, denkt Eva und zieht sich die Bettdecke über den Kopf, murmelt ein leises bis später, fragt sich, ob Val es noch hören kann, der auf dem Weg nach draußen ist, atmet in das weiße Zelt über sich, atmet, und es müssen schon fünf Minuten vergehen, bis sie zu weinen anfängt.“

Wir gehen weiter in den Wald hinein, und bei mir sind jetzt alle Dämme gebrochen. Ich bin gerührt, wenn ein Specht klopft. Emotional angegriffen, als wir dem Wald ein Kunstwerk zurückgeben. Es gibt ein Feuer und Linsendal zum Aufwärmen. Und zum Schluss baumeln wir die Hängematten zwischen die Kiefern und lauschen einem Waldmärchen. „Die Waldgeschichten sind fast immer traurig“, erklärt Ulrike. Sie hat uns eine vergleichsweise fröhliche Geschichte herausgesucht. Nun, auch diese ist traurig, aber immerhin kein Mord, wie Ulrike uns wissen lässt.

„Vielleicht musst du einfach deine eigene Waldgeschichten schreiben“, schlage ich ihr vor. „Hast du Lust dazu?“, fragt sie mich zurück. Ich nicke, natürlich habe ich Lust.

Und dann schließe ich die Augen, schaukele sanft in der Hängematte hin und her, lausche der Geschichte aus dem Wald und finde Frieden. Ein Blatt weht mir in den Schoß und ich weiß, ich muss mich einfach nur richtig anziehen, dann trotze ich dieser Jahreszeit.

Am nächsten Morgen hat es geschneit: das letzte Blatt ist unter einer dicken weißen Puder-Schicht versunken und ich kuschele mich mit meinem Laptop am Kamin unter eine Decke. Ja, ich habe es verstanden. Es ist Zeit, ruhig zu werden.

Aber nicht vergessen: Trotzdem leicht&lebendig bleiben,
 Helen

Das Buch „Packerl“ von Anna Neata ist bei Ullstein erschienen und gibt es in der Buchhandlung eures Vertrauens. Weihnachten steht ja vor der Tür ;)

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