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Das Haar der Zeit

Ein Rausch über Dinge, die bleiben

„Ich habe an einer völlig verrückten Stelle ein graues Haar entdeckt“, sagte Silli kürzlich zu mir. Ich habe erst gar nicht darüber nachgedacht, was sie mir damit wohl mitteilen möchte, sondern stattdessen von mir erzählt und gejammert: „Ich bekomme auch immer mehr graue Haare.“ Dann versuchte ich Silli die querwachsenden Dinger auf meinem Kopf zu zeigen, aber sie schüttelte nur den Kopf. „Du spinnst, ich sehe gar nichts.“

Aber sie sind da, ich schwöre! Ich weiß es. Am Scheitel im hinteren Bereich meines Kopfes. Dass sie keiner sieht, könnte an meiner sowieso recht undefinierten Haarfarbe liegen, die mal blond war, im Sommer mit Salzwasser wieder aufhellt, aber eigentlich feinstes Straßenköterblond ist. Nicht eindeutig, ein bisschen wirr, aber im Grunde nett anzusehen. Meine Haare sind eben zu Einhundertprozent ich. Ein bisschen durcheinander, oft auf dem Sprung, selten gekämmt. Ist eigentlich ganz schön, dass meine Haare wie ich sind. Ich stelle mir vor, wie ich eine ordentliche, exakt gefärbte Frisur und glatt gelegte Haare hätte. NICHT vorstellbar! Einmal oder zweimal war ich tatsächlich beim Friseur. Das erste mal mit knapp 14 zum Spitzenschneiden, daraus wurden dann schulterlange Haare und blonde Strähnchen. Ich war todunglücklich, fühlte mich verraten und gekränkt. Ich schwor mir, nie wieder zum Friseur zu gehen. Es dauerte, bis das künstliche Blond rausgewachsen war und meine Haare wieder die gewünschte (Arsch-)Länge hatten. Seit ich denken kann, wollte ich lange Haare haben.

Mein Papa schnitt sie mir immer schulterlang (ein verhasstes Wort für mich), damit sie „schön dick“ sind. Ein Trugschluss, wie ich später herausfand. Davon werden die Haare auch nicht dicker. Die kommen aus dem Kopf raus und sind, wie sie sind, ob man jetzt unten was abschneidet oder nicht. Sie sollten einfach lang sein. Beschlossen hatte ich das zu einer Zeit, als auf VIVA und MTV noch Musikvideos liefen. Legendär war für mich der Song „Thank You“ von Alanis Morissette (Link dazu am Ende des Rausches). Schwer melancholisch passte nicht nur der Text zu meinen dunklen Teenager-Tagen, sondern vor allem das Musikvideo dazu, in dem Alanis nackt ist.

Sie steht auf dem Gehweg, nackt.

Menschen laufen an ihr vorbei, berühren sie, nackt.

Sie fährt U-Bahn, nackt.

Sie steht am Bahnsteig, nackt.

Sie steht im Supermarkt, nackt.

Zum Schluss steht sie mitten auf der Straße, nackt.

Alanis trägt nichts, aber ist bedeckt von ihren Haaren, nur von denen. In diesem Moment entschied ich, dass ich so lange Haare haben möchte, dass ich mich dahinter verstecken kann. Und ich lies sie wachsen. Alanis stand mitten zwischen Menschen, aber war doch allein. Immerhin hatte sie Haare, die sie beschützten. So empfand ich das als Teenager. Ich glaube, Alanis Botschaft war eine andere, aber ich wollte diese Haare, ich wollte so lange Haare, dass ich (notfalls) dahinter verschwinden kann. Man merkte mir meine Selbstzweifel und Ängste selten an, aber ein Friseur, der zweite in meinem Leben, durchschaute mich.

(Übrigens muss ich gerade ein bisschen weinen, als ich das Video sehe. Ich erinnere mich an dieses komische Gefühl von 20 Jahren und die Emotionen sind immer noch da. Irgendwie ist aber auch eine schöne Erinnerung, denn einsam fühle ich mich jetzt nicht mehr. Komisch, was in (m)einem Teenager-Kopf los war.)

Mein 30. Geburtstag stand vor der Tür und ich hatte das Gefühl, eine Art Neuanfang muss her. Ich habe nie so weit gedacht, nie überlegt, mir nie vorgestellt, wie mein Leben mit 30 sein könnte. Auf jeden Fall nicht so, wie es gerade war. Ich hatte es schon anders angedacht. Und da eben alles so anders war, dachte ich, vielleicht wage ich den Schritt und befreie mich von meiner Mähne. Damals wohnten wir im sehr hippen Friedrichshain und auf Empfehlung ging ich zu einem sehr angesagten Friseur. Ich fand mich in einem „super-schicken-total-minimalistischen-Betonoptik-riesige-frische-Blumen-Salon“ wieder. Ich war aufgeregt, hatte schwitzige, zittrige Hände und mir war schlecht. Also runter mit den Loden, ich wollte es, ich fühlte es. Gemeinsam mit dem Friseur stand ich vor dem Spiegel. Ich sollte meine Haare nach vorne legen, sie gingen mir zu dieser Zeit bis unter den Bauchnabel, endeten knapp über dem Hosenbund. Der Friseur fragte mich: „Was siehst du?“ Ich wunderte mich, fühlte mich ertappt, ich war doch nicht beim Selfcare-Coaching und antwortete ehrlich: „Na meine Haare.“

„Ja genau, du bist nur Haare. Keiner sieht dein Gesicht und dein Lächeln“, dann strich er mir die Haare nach hinten, „guck, du hast viel mehr als nur deine Haare zu bieten und das bringen wir jetzt mal zum Vorschein.“ Ich lies ihn machen, aber fühlte mich direkt unwohl, meine Haare sind doch auch ich und gehören zu mir. Mit denen kann ich wunderbar lachen. Jedenfalls frisierte er mich, schnitt reichlich ab und föhnte, glättete und schmierte Glanz hinein. Als ich fertig war, sah ich aus wie Heidi Klum und hätte heulen können. Ich hielt tapfer durch, bezahlte viel Geld, lächelte stark. „Wie schön dein Lächeln jetzt zur Geltung kommt“, sagte der Friseur zum Abschied und ich dachte, du Pfosten, dieses Grinsen ist das Verlogenste was ich seit Langem hervorgebracht habe. Als ich raus war, hielt ich es noch zwei Hauseingänge aus, dann schaute ich durch eine große Glasscheibe, sah die nicht mehr vorhandenen Haare und weinte.  Immerhin attestierten mir alle meine Mitmenschen, wie toll ich aussehen würde. Trotzdem trug ich von nun an einen Zopf, denn ich mochte diese Möchtegern-Länge nicht. Nach einem Jahr fühlte ich mich wieder wohl und meine Hippie-Mähne wallerte erneut.

Mittlerweile ich bin ich davon überzeugt, dass die langen Haare das Hippiemädchen in mir sind. So fühle ich mich einfach wohl, wenn ich schon nicht auf einer warmen Insel unter Palmen lebe, dann wenigsten die Haare, die dazu passen.

Auf Mallorca habe ich mal mit einer Friseurin zusammengewohnt, auch sie wollte so gern meine Haare schneiden. Das mache wohl am meisten Spaß, lernte ich von ihr. Aber sie erklärte mir auch etwas anderes Schönes: „Die Haare eines Menschen, vor allem bei Frauen, sind heilig. Sie sind das, was sie ausmachen, was man als Erstes sieht.“ Für sie sei es eine Ehre Haare schneiden zu dürfen. Nichts ist schöner, als wenn die Kundinnen glücklich ihren Salon verlassen. Naja der Kerl im Friedrichshain hat mich auf jeden Fall nicht durchschaut, aber selbst wenn er es gemerkt hätte, was hätte er tun sollen? Ab ist ab, schnipp schnapp. Meine Mitbewohnerin habe ich ziemlich angemacht, sie solle mich gefälligst in Ruhe lassen. Sie fragte danach nie wieder, ob sie meine Haare schneiden dürfe. Leider schnitt sie einer Freundin von mir die Haare zu kurz, die weinte daraufhin den ganzen Abend. Manch eine:r Friseur:in muss vielleicht ein bisschen Zwischenmenschliches üben.

In diesem Sommer auf Mallorca lernte ich noch einen Coiffeur kennen. Am Strand. Er ging von Frau zu Frau und bot seine Dienste an, jetzt hier direkt. Der erklärte auch wieder etwas Interessantes. Er vertrat die Meinung, dass Frauen sich ihre Haare immer nur von Männern schneiden lassen sollten, denn nur die könnten die wahre Schönheit richtig herausschneiden. Frauen frisieren angeblich nur so, dass die Kundin nicht schöner als sie selbst wird. Das erschien mir sehr komisch, was sich später aus erster Hand bestätigte. Denn die meisten Friseurinnen kümmern sich kaum um ihre eigenen Haare, da haben sie nämlich nach Feierabend nicht mehr so richtig Lust zu.

Meine Haare sind übrigens immer noch recht lang, wenn auch nicht mehr so schön, finde ich. Der Zahn der Zeit nagt. Sie brechen ab und werden tatsächlich dünner. Ich fragte meine Frauenärztin nach möglichen fehlenden Nährstoffen, die es zu Hauf zu kaufen gibt. „Ach Helen, wie alt bist du jetzt?“, fragte sie lächelnd. „Ich werde dieses Jahr 37“, antwortete ich laut und deutlich. Sie schmunzelte, „das ist in Ordnung meine Liebe, ab 35 sinkt der Hormonspiegel und das merken manche Frauen am selteneren Eisprung und andere an den Haaren.“ Jeder Altersabschnitt hat seine Haare, dachte ich bei mir und das etwas Kürzere ist dann wohl das Haar der jetzigen Zeit. Hauptsache meine Brüste sind bedeckt, so lang müssen meine Haare sein. Auch auf die Gefahr hin, zu denen zu gehören, die den Absprung von der Prinzessin nicht geschafft haben. Ist mir egal. Meine Tochter lacht darüber, „du immer mit meinen Haaren, wie Oma.“ Die liebt auch lange Haare, ist sie doch mittlerweile ganz grau und daher gefärbt.

Das Kind hingegen mag lieber einen Bob, ich muss gefühlt alle zwei Wochen ihre Haare schneiden. Ich mache das, es ist ihr Wunsch, ihre Haare, so soll es sein. Ich schneide auch meinem Mann die Haare, wenn der Dutt sich nicht mehr gut zwirbeln lässt, muss ich das Ende vom Zopf abschneiden. Meine eigenen Haare schneide ich natürlich ebenfalls – aber die grauen reiße ich nicht mehr raus, schließlich gehören sie dazu.

In diesem Sinne, es lebe das graue Haar, egal wo. Es gehört zu dir, auch an deiner Vulva, liebste Silli! Wehe, du reißt es noch mal aus.

Bleibt schön leicht&lebendig in diesen haarigen Zeiten

Helen

Das Video zu Thank You von Alanis Morissette gibt es hier.  (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

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Die wunderbare Sophie Schäfer illustriert weiterhin meinen RauschVonWorten:

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