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Was Deutschland vom Holocaust-Gedenktag in Israel lernen kann

„Was das bedeutete, wenn ein ganzes Land aus Nachkommen von Opfern und nicht Tätern bestand, wurde Maja so richtig an dem ersten Jom HaShoa, den sie gemeinsam mit Eitan in Israel verbrachte, klar. Der israelische Holocaustgedenktag fiel ausgerechnet auf den Tag vor Eitans Geburtstag, und Maja war nach Israel gekommen, um ihn zu überraschen. Vier Tage nach ihrer Ankunft dröhnte eine Sirene zwei Minuten lang durch das ganze Land, und alles Leben hörte auf, und alle Menschen standen, die Köpfe gesenkt oder gen Himmel gerichtet, und gedachten der sechs Millionen Menschen, die die Deutschen, Majas Volk, ermordet hatten. Selbst auf der Autobahn stoppten die Wagen, und Menschen stellten sich wie erstarrt daneben. Zwei Minuten konnten sehr lang sein, wenn man am Straßenrand stand und eine Sirene über den eigenen Kopf hinweg heulte. Zwei lange Minuten, in denen man eigentlich keine Wahl hatte, als an die Shoa zu denken. Zwei Minuten lang hechtete Majas Hirn zwischen »Oh Gott, all die armen Menschen« und »Oh Gott, wie konnten wir nur?« hin und her. Es waren zwei anstrengende Minuten und vielleicht der Moment, in dem sie das erste Mal wirklich begriff, was Gedenken bedeutete. In dem sie das erste Mal das ganze Ausmaß dieses Verbrechens begriff. Eitan nahm diesen Tag so schwer und so ernst wie keinen anderen der jüdischen Gedenktage. Und das beeindruckte Maja und brachte sie gleichzeitig in eine schwierige Lage: Sie hatte das Gefühl, sich ständig entschuldigen zu müssen. Sie hatte das Gefühl, nicht genug zu wissen. Sie hatte das Gefühl, dass alles, was sie zu dem Thema an diesem Tag sagen würde, nur falsch sein konnte. Und Eitan spürte, dass er Maja an dem Tag weniger liebte, obwohl sie nichts dafürkonnte. Er spürte, dass er ihr gegenüber unfair wurde, weil sie nichts sagen oder tun konnte, was ihn getröstet hätte. Er spürte ihre tiefe Unsicherheit und auch seine.“

Als ich diese Passage für meinen Roman Alef vor einigen Jahren schrieb, hatte ich selbst schon eine ganze Menge Shoa-Gedenktage in Israel erlebt. Heute ist wieder Jom HaShoa im Land. Der Tag ist so schwer wie immer. Die gewaltige Wucht der Trauer ist erdrückend. Trauer um all die Menschen, die so brutal aus ihrem Leben gerissen wurden. Trauer um eine Million Kinder. Kinder, die umgebracht wurden, weil die Mörder glaubten, dass sie einer „niederen Rasse“ angehörten. Aber auch die Wucht des Entsetzens ist riesig. Darüber, dass ein Massenmord, ein Genozid, in diesem Ausmaß, jemals möglich gewesen war. Darüber, dass eine nicht gerade kleine Anzahl von Menschen geradezu besessen davon war, ein ganzes Volk auszurotten. Grundlos. Völlig grundlos. Und für mich persönlich ist der Jom HaShoa in Israel der Tag, an dem ich mich in Israel so deutsch wie an keinem anderen fühle. Denn die Wahrheit ist, ich lebe nun schon so lange hier, dass ich mich oft ganz selbstverständlich auch als Israelin wahrnehme. Am Jom HaShoa werde ich wieder einhundertprozentig zur Deutschen. An diesem Tag spüre ich die Schuld und Verantwortung dafür, was mein Volk meinem Volk angetan hat, so stark wie an keinem anderen.

Täterseite oder Opferseite - wozu gehörst du?

Bei einer Lesung in Halle vor etwa zwei Jahren fragte mich mal eine Gästin, ob ich mich, wenn ich an die Shoa denke, eher der Seite der Opfer oder eher der Seite der Täter zugehörig fühle. „Täter“, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen. Es mag stimmen, dass man mich als konvertierte Jüdin und Mutter zweier jüdischer Kinder in Nazi-Deutschland auch verfolgt hätte, das ändert aber nichts daran, dass ich mich für immer für die Shoa mit-verantwortlich fühlen werde. Weil ich nun einmal als Deutsche aufgewachsen bin. Weil meine Vorfahren nun einmal eindeutig zum Pulk der Täter gehörten. Weil keiner von ihnen, zumindest nicht mir gegenüber, jemals deutlich erklärt hat, was sie eigentlich in diesen 12 dunklen Jahren der deutschen Geschichte gemacht, gedacht, geglaubt haben. Meine Angehörigen waren keine Widerstandskämpfer:innen. Sie waren vielleicht auch keine SS-Offiziere, aber dabei, dabei waren sie als „ganz normale Deutsche“ allemal.

  „Und Ihre Kinder?“, fragte die Frau im Literaturhaus Halle weiter. Ich überlegte kurz. Dann antwortete ich: „Die sehe ich tatsächlich eher auf der Seite der Opfer.“ Ich denke noch heute oft über diese kluge Frage nach. Auch darüber, wie ich meinen Söhnen, die so israelisch und vollkommen eingebettet in jüdische Traditionen aufwachsen, ihre Herkunft erklären kann. Mirna Funk nannte das in ihrem Roman „Winternähe“ einst „Mischung aus KZ-Häftling und KZ-Aufseher“ und genau das ist es ein bisschen. Ich komme aus dem Tätervolk und natürlich sind meine Kinder jüdisch, natürlich sind sie mein persönlicher Sieg über Hitler, aber sie gehören eben zur Hälfte auch zum deutschen Volk.

Was passiert, wenn die Lehre über den Holocaust versagt?

Die deutsche Verantwortung, die eine ganze Menge Schwurbler dieser Tage Deutschland vorwerfen, weil Deutsche angeblich Israel nicht genug kritisieren würden - sie ist das einzige, was mir momentan Hoffnung gibt. Denn was passiert, wenn in einem Land kaum jüdische Geschichte bzw. über den Holocaust gelehrt wird, sehen wir aktuell in den USA. Das Land, das zumindest ich immer als eines der sichersten der Welt für Jüdinnen und Juden wahrgenommen habe, geht gerade, was Judenhass angeht, den Bach hinunter. 2,4 Prozent der amerikanischen Bevölkerung ist jüdisch, gleichzeitig trifft mehr als die Hälfte aller so genannter „religiös motivierter Hassverbrechen“ Juden in Amerika. Das kommt nicht irgendwoher. Wenn so viele gebildete Amerikaner:innen (dafür würde ich junge Studierende jetzt mal grundsätzlich helfen) den Begriff Genozid so fehlerhaft verwenden und aus Juden „Weiße Besatzer“ machen, dann hat die Bildung versagt. Wenn das Bestreben nach einer Heimstätte, in der Jüdinnen und Juden sicher und selbstbestimmt leben können, mit einer Ideologie gleichgesetzt wird, die sechs Millionen Menschen auf dem Gewissen hat, dann haben die Leute weder was vom Holocaust noch vom Zionismus verstanden. Auch in Deutschland gibt es Menschen, die das denken. Auch in Deutschland ist Israels Sicherheit als Staatsräson schon lange nicht mehr in Stein gemeißelt. Auch in Deutschland muss man sich fragen, wie lange das Gefühl der Verantwortung noch überwiegen wird, wenn die Shoa-Überlebenden von Jahr zu Jahr weniger werden und die Weltstimmung immer antijüdischer.

Anti-Israel Protest in Berlin am 1. Mai (Instagram der Berliner Zeitung)

Und jetzt kommen wir zu dem Punkt, auf den ich eigentlich hinaus will. Die Holocaust-Erinnerungskultur in Deutschland ist höchst problematisch.

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