Der Krieg dort drüben
Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt. Der Gedanke beunruhigt mich wie warscheinlich die allermeisten Europäer. Kiew ist nicht weit weg. Das Gleichgewicht der politischen Mächte, das so sicher schien, gerät ins Wanken. Ist das noch 'deren' Krieg, ein Krieg der anderen, die nicht wir sind? Oder ist das bereits unser Krieg, einer, den wir nicht gewollt haben, der aber zu jederzeit möglich war, auch wenn wir so getan haben, als sei er die Schwarzmalerei notorischer Pessimisten?
Es ist nicht so, dass ich weiß, was Krieg tatsächlich bedeutet. Ich habe ihn immer nur mittelbar, niemals direkt erlebt. Das war zum Beispiel Anfang der Neunziger der Fall, als Freunde und ich gemeinsam mit der Organisation 'Hilfe konkret' ins ehemalige Jugoslawien fuhren. Damals wurde noch in Bosnien-Herzegowina gekämpft, aber in Kroatien waren die Kämpfe weitestgehend vorbei. Wir brachten Lebensmittel und Kleidung dorthin und fuhren durch schöne Landschaften und kaputte Orte.
In Slavonski Brod machten wir spät am Abend Halt. Ich musste pinkeln und ging zu Gebüschen, die direkt bei einer zerbombten Kirche standen. Ein Mann rief mir etwas zu, das ich nicht verstand. Freunde übersetzten, dass er mich warne. Dort sei alles vermint, ich solle lieber woanders hingehen.
Als wir am nächsten Tag in Osijek einfuhren, erschreckte mich ein heftiger Luftzug, der durch das halbgeöffnete Beifahrerfenster pfiff und mein Haar zerzauste. Es war die Druckwelle einer Explosion, irgendwo in der Nähe. Keiner der Passanten auf der Straße drehte sich auch nur um. Der Krieg war Alltag geworden.
Bei einem anderen Hilfstransport einige Jahre später fuhren wir nach Sarajevo, nachdem die Waffen endlich schwiegen. Selbst die Laternenmasten waren von Kugeln und Schrapnell zersiebt. Ich habe noch nie zuvor und nie wieder danach eine derartige Zerstörung gesehen.
Tage darauf war ich bei einer Familie in Tusla zu Gast, die mich überaus freundlich aufnahm. Die Fenster der einen Hausseite waren mit Brettern vernagelt, als Schutz gegen Scharfschützen. Ich schlief gemeinsam mit dem Sohn in einem Zimmer. Er ließ die ganze Nacht über Musik laufen. Ich sah, wie er sich im Traum wand und lautlos schrie. Am Tag darauf besuchten wir die Gräber der Toten. Die Tochter der Familie zeigte sie mir. Als wir uns schließlich wieder verabschiedeten und zurück ins sichere Deutschland fuhren, weinte sie bitterlich.
Ich denke auch an den Sommer 2018 zurück, als wir mit einer touristischen Gruppe die Golanhöhen in Israel besuchten. Der Tag war sonnig und warm. Es waren mehrere Gruppen auf dem Gelände zu Besuch, viele von ihnen Amis, aber eben auch Deutsche wie wir oder Israelis.
Während wir Touristen ein bisschen ehrfürchtig über die Anlage gingen, in Schützengräben schauten und die Geschütztürme musterten, hielten sich die argentinischen Soldaten der UN-Truppe, die das Geschehen im Süden Syriens beobachteten, in ihrem mit einer Plane überdachten Stand auf, blickten mal in die Ebene unter sich und flirteten dann wieder mit einer Touristin.
Unter uns stiegen blass-graue Rauchwolken auf. Nur wenige Kilometer nördlich von uns, quasi in Sichtweite, wurde gekämpft und gestorben. Oben auf dem Berg dagegen stand man beieinander, deutete nach unten und fachsimpelte. Manchmal schien es, als würde uns der Klang einer Detonation erreichen, aber der Wind stand ungünstig, man konnte sich nicht sicher sein.
Soldaten der israelischen Armee führten eine Gruppe herum und erklärten ihnen die Lage. Botschaft der Führung, vermute ich, war unter anderem, warum Israel die Höhen nicht aufgeben konnte und warum es wichtig sei, hier militärische Präsenz zu zeigen. Die Rauchwolken in der Ebene waren eine willkommene Veranschaulichung der Lage.
Der Krieg, so schien es, war weit weg, obwohl wir ihn sehen konnten. Wir hatten nichts mit den sterbenden Menschen zu tun. Sie waren Teil eines anderen Lebens, einer anderen Welt. Niemand von uns hatte Angst oder fühlte sich bedroht. Wichtig war nur, dass der Krieg nicht näher kam. Solange das nicht der Fall war, ging er uns nur als fernes Spektakel an.
Einerseits. Andererseits war unserer Gruppe anzumerken, dass das Erlebnis sie bedrückte. Mich auch. Noch heute denke ich hin und wieder darüber nach. Ich habe versucht, es in einem Bild zu verarbeiten.
Ist es gefühlskalt, wenn man Augenzeuge eines Krieges geworden ist und sich anschließend wieder so profanen Dingen wie Wein, Essen, Schlafen, Lachen, Arbeit, Kunst widmet? Oder kann man es auch anders sehen? Ich glaube, schon.
Wenn der Mensch nicht in der Lage wäre zu verdrängen, wenn er sich nicht nach den traumatischsten Erlebnissen wieder dem banalen Alltag zuwenden würde, dann wäre Leben unmöglich. Dann hätte der Tod gewonnen.
Feiern, Arbeiten, Kunstmachen und -genießen sind widerständische Akte, solange wir die Wirklichkeit nicht verdrängen und uns mit denen solidarisieren, die leiden. Wir trotzen dem Tod, indem wir leben. David Schoneveld, ein jüdischer Freund, der in einem Kibbuz nahe bei Eilat lebt, hat uns in einem Hossa Talk erklärt, dass es eine geläufige Redewendung in Israel gibt (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre): "Sie konnten uns nicht töten. Also lasst uns essen!"
In diesem Sinne: L'Chaim
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