Zeitzuflucht von Georgi Gospodinov: Klug, poetisch, anspruchsvoll
Der bulgarische Autor Georgi Gospodinov nimmt uns in seinem Roman “Zeitzuflucht” mit in eine nahe Zukunft und Vergangenheit. Eine Zukunft in welcher, der Realität gar nicht so fern, die Menschen immer älter werden und Formen der Demenz wie Alzheimer sich zunehmend verbreiten.
In diesem außergewöhnlichen, für mich völlig neuem Roman aus dem bulgarischen von Alexander Sitzmann trifft der Erzähler auf den Flaneur Gustine, ein durch die Zeit Reisender. Dieser erföffnet in Zürich eine Klinik für Demenzkranke. Jedes Zimmer ist dort einer anderen Vergangenheit gewidmet. Es wird darauf geachtet, dass diese so authentisch wie möglich ist und die Zeiten sollen sich auf keinen Fall vermischen.
Schon bald wird aus einem Zimmer ein Stockwerk, mehrere Stockwerke, ein ganzes Haus, Siedlung, Stadt. Und wie wäre es mit einem ganzen Land, dass sich ein Jahrzehnt der Vergangenheit aussucht?
Diese quasi dystopisch angehauchte Zukunft zeichnet Gospodinvo in “Zeitzuflucht” - und ab diesem Punkt im Buch wird die Erzählung zunehmend politischer auf gesamteuropäischer Dimension. Ein Buch, dass eine Zukunft aufzeigen sollte, die, so sehr wir uns bemühen, doch so oft die Vergangenheit wiederholt. Und wie wir derzeit mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine sehen, ist diese “Zukunftswarnung”, die Gospodinov entwerfen wollte, leider zu real.
Ich habe längst nicht alles verstanden, manchmal drohte ich komplett den Faden zu verlieren, doch ich war zu neugierig, um das Buch abzubrechen. Rückblickend bin ich froh, es durchgezogen zu haben! Und das Anne (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) (fuxbooks) und Tina (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) (revolutionbaby revolution) den Roman als Monatslesebuch (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) im Juni wählten. Ein kluger Ausblick und Rückblick sowohl nach vorne als auch in die Vergangenheit, ein sehr treffendes Bild der Gegenwart und eine stellenweise wunderbar poetische Sprache – kurzum: ein für mich kaum vergleichbares, zwar anspruchvolles, aber lesenswertes Buch.
Infos zum Buch: Georgi Gospodinov, aus dem bulgarischen von Alexander Sitzmann, Aufbau Verlag (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), Hardcover mit Schutzumschlag, 342 Seiten, März 2022