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Blaues Blut und Glitzer

We live in hope of deliverance
From the darkness that surrounds us
(Paul McCartney)

118/∞

Good evening, Europe!

Am 2. Juni 1953 wurde Elizabeth II in London zur Königin des Vereinigten Königreichs, Kanadas, Australiens, Neuseelands, Südafrikas, Pakistans und Britisch-Ceylons gekrönt. Meine Omi, nur wenige Monate jünger als die Monarchin, saß auf einer Tribüne am Paradeweg und Millionen Menschen in Europa konnten - so sie denn ein Fernsehgerät besaßen - das Ereignis zuhause verfolgten, dank eines Programmaustauschs und technischer Verfahren, die später unter dem Namen „Eurovision“ bekannt werden sollten.

Am 6. Mai 2023 wurde Charles III, rund acht Monate nach dem Tod seiner Mutter Elizabeth, in London zum König gekrönt. Ich saß, sechseinhalb Monate nach dem Tod meiner Omi, zu dieser Zeit zuhause, in einem Regionalexpress, an zwei Flughäfen, in zwei Flugzeugen und kam, als schon alles vorbei war, schließlich in jenem Land an, dessen Staatsoberhaupt der Mann zuvörderst ist. Ich war unterwegs zu einer jährlichen Popkultur-Veranstaltung, die unter dem Namen „Eurovision Song Contest“ bekannt ist.

Ich liebes es, wenn ich so Parallelen, Muster und Strukturen erkennen kann. Es gibt mir das Gefühl, dass in unserer Welt, die uns - auch und vor allem dank der Massenmedien, die in den letzten 70 Jahren eine unvorstellbare Entwicklung genommen haben - immer wieder so chaotisch und wild erscheint, doch so etwas wie Ordnung existiert.

Der ESC 2023 findet ja überhaupt nur im Vereinigten Königreich statt, weil das Siegerland des Vorjahres, die Ukraine, leider im Moment kein Ort ist, an dem man solche Veranstaltungen abhalten kann. Die BBC tut aber alles, um die Ukraine und ihre Kultur in den drei Shows stattfinden zu lassen.

Wir haben zumindest das erste Halbfinale schon zweimal in voller Länge geprobt gesehen und ich glaube, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass es eine großartige Show voller Emotionen werden wird: Schon während des allerersten Einspielfilms hatte ich Tränen in den Augen.

Der ukrainische Kollege Timur Miroschnytschenko, der den Sieg von Kalush Orchestra im vergangenen Jahr aus einem Bunker in Kiew kommentiert (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) hatte, erinnerte beim ersten Commentators Briefing nicht nur daran, dass die EBU als Veranstalter des ESC eine der allerersten Organisationen gewesen war, die Russland nach Beginn des Angriffskriegs aus ihren Reihen ausgeschlossen hatte, er sagte auch, dass die Eurovision für ihre Werte einstehe und die Menschen in der Ukraine den Menschen im Rest Europas ewig dankbar sein werden. 

Bei der großen Eröffnungsfeier am Sonntag (die nur das zweitbedeutendste (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) Open-Air-Konzert im UK an jenem Abend war) sang Jamala aus der Ukraine noch einmal ihren Siegertitel von 2016, „1944“, während stilisierte Friedenstauben über den Platz vor der St George’s Hall getragen wurden — und das war dann doch einer dieser Momente, in denen einem so ein jährliches Wettsingen vergleichsweise banal und gleichzeitig unendlich bedeutsam erscheint.

Ich bin also seit Samstag in Liverpool und was ich bisher von der Stadt gesehen habe, gefällt mir sehr gut. Sie sind ein bisschen besessen von einer lokalen Band, deren Katalog zum Glück so groß ist, dass man nahezu jeden Pub und viele Hotels nach einem ihrer Songs benennen konnte.

Heute Morgen war ich schon um 11 schon im legendären Cavern Club, der vor allem deshalb legendär ist, weil er von allen Menschen ehrfürchtig als legendär bezeichnet wird: Es ist ein Nachbau jenes Clubs, in dem die Beatles ihre ersten Auftritte hatten, worauf man dort fast so stolz ist wie in den zahlreichen Clubs auf St. Pauli, in denen die Beatles mal gespielt, ein Bier getrunken oder vielleicht mal die Toilette benutzt haben. Gemeinsam mit der riesigen Auswahl an Merchandising-Produkten fühlt es sich alles schon ein bisschen gracelandig an, aber dann denkt man doch wieder, der Schweiß von Paul McCartney hinge noch an den Backsteinen der Gewölbedecke.

Lord Of The Lost akustisch im Cavern Club

JEDENFALLS: Ich war im Cavern Club, der um diese Zeit schon prall gefüllt war, weil der deutsche Act Lord Of The Lost dort ein kleines Unplugged-Set gespielt hat. Die Stimmung war aber von Beginn an kurz vor Mitternacht und die Band hat gezeigt, was sie so kann. Ich mache den Job ja jetzt (s.o.) auch schon ein paar Jahre und es waren einige Acts dabei, mit denen die Zusammenarbeit wirklich Spaß gemacht hat, aber Lord Of The Lost ist wirklich die perfekte Mischung aus professionell, reflektiert, lustig, locker, umgänglich und engagiert. Ich sag mal so: Nehmt Euch für Samstag besser mal nichts anderes vor als den ESC zu gucken!

Song Contest bedeutet aber auch, dass ich alle meine Bekannten mit einem Hauch von innereuropäischer Migrationsgeschichte mit den absurdesten Fragen behellige: „Was ist die Bumspartyinsel für Menschen aus Deiner Heimat, analog zu Mallorca für Deutsche?“, „Ist das tatsächlich ein traditionelles Musikgenre?“, „Wie spricht man das aus?“

Zum inzwischen zehnten Mal (excuse me, what?!) bin ich bei dieser absurd-tollen Veranstaltung als Assistent von Peter Urban dabei, der in diesem Jahr zum 25. Mal den ESC für das deutsche Publikum kommentieren wird — und zum letzten Mal. 

Um das mal kurz einzuordnen: Als Peter 1997 seinen ersten ESC in Dublin kommentierte, hieß der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, der Papst Johannes Paul II und die englische Königin — Ihr wisst, was ich meine. Auf Platz 1 der deutschen Single-Charts stand seit sieben Wochen „Warum?“ von Tic Tac Toe, das die 13 Wochen währende Regentschaft von „Time To Say Goodbye“ von Sarah Brightman und Andrea Bocelli beendet hatte, und in Deutschland gab es 4,1 Millionen Menschen, die schon einmal das Internet benutzt hatten. Der ESC fand an einem einzigen Abend statt, ich war 13 Jahre alt und hatte keine Ahnung, was ich mal beruflich machen würde.

Insofern ist es schon das Ende einer Ära: Durch die Einführung der Halbfinals wird Peter am Samstag seine 57. ESC-Liveshow kommentieren, verglichen mit 44 Shows, die ohne ihn stattgefunden haben. (Er ist, soweit ich weiß, auch der einzige aktive Kommentator, der bei der 1. Ausgabe des Song Contest 1956 in Lugano schon auf der Welt war, aber wer würde sich für diesen ganzen Statistik-Unfug hier interessieren außer vielleicht ein paar Online-Trash-Medien, die sehen müssen, wo sie ihren Content zusammenklauben?)

Peter Urban in der deutschen Kommentatorenkabine beim ESC 2023.

JEDENFALLS: Peter hört auf und der NDR ehrt ihn mit einer 90-minütigen Dokumentation, die am Freitagabend um 20.15 Uhr im NDR Fernsehen läuft und danach für sieben Tage in der ARD-Mediathek zu sehen ist.

Außerdem ist Peter Special Guest in der Eurovisions-Vorschau meiner Musiksendung Coffee And TV, die ich gemeinsam mit Selma Zoronjić produziert habe: spotify.com (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Neben dem Film am Freitag gibt es natürlich auch noch die beiden Halbfinal-Sendungen und den großen Eurovisions-Abend am Samstag:

Dienstag, 9. Mai 2023, 21 Uhr auf One und in der ARD-Mediathek.

Donnerstag, 11. Mai 2023, 21 Uhr auf One und in der ARD-Mediathek.

Samstag, 13. Mai 2023, ab 20.15 Uhr im Ersten und in der ARD-Mediathek.

Außerdem gibt es auf meinem Instagram-Profil (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) wieder ein paar exklusive Einblicke (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) in die deutsche Kommentatoren-Kabine und wenn Ihr mein Buch (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) über den Song Contest und seine Geschichte noch nicht habt, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, es zu kaufen und bis Samstag durchzuarbeiten.

https://www.youtube.com/watch?v=jZeEpkan4zQ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Das war’s für heute, ich hab nicht so viel Zeit, ich muss arbeiten!

Love love peace peace, Lukas

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